Georg Leß: Die Nacht der Hungerputten
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Kristian Kühn
Georg Leß: Die Nacht der Hungerputten. Gedichte. Berlin (Kookbooks) 2023. 32 Seiten. 16,00 Euro.
Drei Dicta zur Nacht der Hungerputten
Georg Leß hat seinen neuen Gedichtband „Die Nacht der Hungerputten“ genannt und für zwei Kapitel je 12 bzw. 11 Gedichte verfasst, die a) in Ankommen und b) in Eingehen unterteilt sind. Zuvor verweist ein Geleitwort („Gegen das Innige“) auf zwei der drei Dicta dieses schmalen Werks, nämlich dass, wenn „eine Handvoll Putten auf die Erde“ fällt und um ihr Leben ringt und dann vergeht, auch dies ein Narrativ für alltägliche Population ist, aber niemand das als wichtig erfährt, doch eine fällt vielleicht beim „Ankommen“ auf die Stirn und damit womöglich „tief in ein Honigglas“ und somit in die Dichtung, und auch aus diesem „Eingehen“ findet sie nicht mehr heraus. Zwei der drei Dicta handeln also vom sich Verfangen durch den Eintritt in irgendeine Art von Körper und Struktur.
Ein Konzeptbändchen, vom äußeren Erscheinungsbild wie ein Poesieheft für junge oder junggebliebene Kundschaft. Außer den kleinen Symbolen oben auf dem Cover, die Mond und Sonne darstellen, zentral als Blickfang ein Raffael-Engel, der kopfüber als Hungerputte in den Einflussbereich der Erde und den dort zu erwartenden Honig gerät, welcher ihm dann das (bisherige) Bewusstsein rauben wird. Seine Flügel sind bereits so gut wie verdeckt.
Eingehen in den Honig des Lebens hat natürlicherweise zwei Bedeutungen, eine sich ausbreitende und eine sich verengende, den Tod. Deswegen tut Leß völlig recht, indem er das Wort mit den zwei Bedeutungen der Dichtung beigesellt. Als Mitglied der Kook-Gemeinschaft bezieht er sich klarerweise auch auf die Honigprotokolle Monika Rincks. Aber er geht dabei auch – außerhalb von Dichtung – auf den Tod im Honigtopf ein. Der antike Mythos weiß von einem Ersticken (auf das sich seit Paul Celan und Herta Müller etliche Atem-Licht-Gedichte beziehen) sowie um eine Erweckung im Topf (so z.B. Der goldne Topf von E.T.A. Hoffmann) zu neuem Leben.
Dieses Ersticken als Gefahr ist bereits im Geleitwort zu finden: Gegen das Innige, heißt es, das bei Leß „klebrige Zirkulationen“ weckt. Es stimmt schon, der Honig wurde den Ankommenden, um einmal diese sehr alte Metonymie für frisch Geborene zu verwenden, noch vor der Milch gegeben.
Aber in der Regel nur einmal. Es sind die kleinen Dinge, auf die man bei Leß achten sollte bei seinen Phantasmen und „Schauergeschichten“ (er liebt bekanntlich Horrorfilme), denn gelegentlich werden statt Metonymien (wie Putten = Menschen, die nicht anders können, als gesteuert zu sein) auch Symbole geboten, so ein entflammtes Zündholz als Zeichen für das erste Kapitel („Ankommen“), dazu ein mit sechs Flügeln dargestellter Engel, dass man meinen möchte, er verkohlt bei seiner Ankunft sich das Gefieder, und tatsächlich verliert er auf dem Bild schon Federn:
mitten in Betten ohne Wärme, dass die Daunen stiebenspeckige Meteoriten, vom Höchsten abgesprengtdas ganze Geschwader durchs Möbelhausdach!Daunenwolken ringsumher, flaumig umwölkte Knochensplitter(Gegen die Inneneinrichtung, S. 7)
Hier bekommt ein Möbelhaus die Funktion als Ankunftsort auf Erden, die bei Homer und in anderen alten Texten noch als Grotte, lieblich und trübe, umschrieben wurde. So ist die Putte als Seele zu verstehen, mit der Geburt kleidet sie sich in Materie ein, in Fleisch, Porzellan, (bei Leß auch gern Marzipan), in Gewebe aller Art, symbolisch bei den Alten auch Ton oder Kleie.
In dem Gedicht „Gegen die Gemeinde“ (S. 10) geht es um erste Versuche, aus dem Kreislauf auszubrechen, um Öffnung, Risse, das Gewebe vielleicht verlassen zu können - doch der Versuch scheitert:
und alle Fenster weit, ich ließe sie ja fliegenjedoch sie fliegen nicht
Manchmal scheint Leß die Putten wie Bienen zu sehen, sie fliegen emsig für den Honig, aber schon im Gedicht „Gegen die zehn Zeilen“ (S. 12) gibt es zu viele Verankerungen, etwa auch die zehn Gebote und das Vaterunser, natürlich nur in Anklängen:
Unser tägliches Marzipanbrot sowie, der gute Vorsatz, -obstbis Rohmasse die Rippen spreizt, in jede Richtung blubbert Stuckim Nacken und zwischen den mundgroßen Augenhalten mich vorläufig Bügel zurück
Ab dem Gedicht „Sonne, Mond und Reflexion“ (S. 13) wird der Wunsch, in die Tiefe zu dringen, endgültig unüberwindbar polar.
wollen wir tiefer ins Irdische sickern odererrichten ein Gegenreich? (…)
Zwingend folgt das zweite Kapitel („Eingehen“), für das links – statt fackelndem Feuerspan ein Totenschädel als Piktogramm dient. Und als Bild drei Putten, die sich zu einer Art kreisen-de Dreieinigkeit formieren.
Ich muss gestehen, ich habe lange in diesen insgesamt 23 Gedichten (dazu noch lyrisches Geleit- und Nachwort) herumgeirrt. Zunächst dachte ich an eine andere Art von Logik, eine Art Collage parabelartiger Metonymien, manche Passagen von Kappe und Breyger sind ja ähnlich kryptisch und spielen mit Assoziationen, ohne dass sich das Gewebe gleich öffnet und eine Sicht freigibt. Doch dann war es das Gedicht „Spezies und Pinnwand“ (S. 29), fast ganz am Ende, das mich an den Titel von Houellebecqs Roman „Karte und Gebiet“ erinnerte, in dem es um Fleisch als Textur, aber auch um Kunst und Formen der Abstraktion geht, und in dem es im Epilog an einer Stelle heißt:
„Ein Ascheschleier schien sich über den Geist der Menschen gelegt zu haben.“(Epilog, 3)
Und in dem sich der beschriebene Künstler immer von neuem weigert, Aussagen über den Sinn seiner Werke zu treffen: „Ich will die Welt darstellen … Ich will ganz einfach die Welt darstellen …“ (Epilog, 7)
Das Gedicht „Spezies und Pinnwand“ hingegen öffnet sich in Form einer preisgegebenen Analogie. Und zwar über Francis Bacon und die Kreuzigung als Entkleidung der immanenten Textstruktur, so dass sich die Bildlichkeit, das vermeintliche Wesen der Gestalt darin durchaus austauschen lässt, wie auf einer Pinnwand oder Karte.
Die Logik bleibt bestehen, auch als Narrativ, und Leß gibt dafür als Referenz das Triptychon von Francis Bacon an, das 1944 entstandene „Drei Studien zu Figuren am Fuße einer Kreuzigung“. Man sollte es sich unbedingt anschauen
https://www.singulart.com/de/blog/2020/01/17/meisterwerke-drei-studien-zu-figuren-am-fusse-einer-kreuzigung-von-francis-bacon/
um die Nähe des dritten Dictums bei Leß zu den drei Parzen oder den drei „Wohlgesinnten“, den Eumeniden, zu erkennen und so die Spanne bis hin zu Grünewalds „Verspottung Christi“ assoziierbar zu machen. Und auch Francis Bacons Scheu, ja Furcht, deutbar zu werden, zumal man diese Bereiche nicht aussprechen soll, um aus den Wohlgesinnten nicht die vermeintlich drohenden drei Rachegöttinnen zu machen.
Als das Werk 1945 zum ersten Mal präsentiert wurde, waren Kunstkritiker und Publikum irritiert. Von einer Anatomie halb Mensch, halb Tier, beißend, schnappend. Damals erregten die Studien zu Figuren am Fuße der Kreuzigung Abscheu und Verstörung. Zur Reaktion soll Bacon gesagt haben: „Ich habe nie gewusst, warum meine Bilder schrecklich sind. Ich werde immer in die Schublade des Schreckens gesteckt, aber ich denke nie an Schrecken.”
In seinem Gedicht „Gegen die Weiterbildung“ (S. 24) warnt Leß vor lauernden Gefahren allzu unvernünftiger Phantasie, zwar muss ein derartiges Reisen weiterhin möglich sein, doch
spricht die Schlange: psst
(Spezies und Pinnwand, S. 29)
Das dritte Dictum ist also versteckt – und auf es bezieht sich das Nachwort:
Letzte Puttenwer, zackig im U-Bahn-Schacht, montiert aus zwei Puttenes hätten drei sein müssen
Der Gestalt eine andere Textur zu verleihen, bei gleicher Anordnung, wird heute gern der KI überlassen. Wandlung zu erzwingen durch den systematisch geschlossenen Gebrauch einer anderen Bild-Sprache, bei noch gleichem Sachverhalt und Narrativ, begegnen wir in Teilen bereits bei Leß in seinem Band zuvor, „die Hohlhandmusikalität“. Das säkularisierte Bild in uns wird durch mythische Annäherung doppelbelichtet, „Spezies und Pinnwand“ sind nunmehr (für die Gefangenen fast ausweglos) gespiegelt. In „Wegen der Lyriklesungen“ (S. 28) heißt es deshalb bei ihm:
die Sprache ist ein Zufallsfund, nur zwei, drei Schlachtgesänge dientenals Wiegenlieder uns in zappeligen Sphären
Doch mit der rhythmisch anhebenden Klage bekommen die Wörter Haken, allerdings fällt das kaum auf, wiederholt sich aber von Lesung zu Lesung
ja, wir schreiben alle auch