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Galsan Tschinag: Liebesgedichte

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Timo Brandt


Lyrik der Anbetungswürdigkeit


„Poesie ist die strotzende Kraft, die dem Universum als Ganzem so auch jedem seiner Splitter innewohnt. Ist die summende Stimme der Seele eines jeden Lebewesens, wobei nach dem nomadisch-schamanischen Weltverständnis nicht nur Menschen und Tiere, Gräser und Bäume, sondern auch Gewässer und Gesteine, Lüfte und Lichter belebt sind.“

Schon wenn man die ersten Zeilen des Nachworts von Galsan Tschinag liest, eines Stammesoberhaupts der turksprachigen Tuwa, der in Leipzig Germanistik studierte und bereits Gedichte in den Sprachen Tuwinisch, Kasachisch, Mongolisch, Russisch und Deutsch (und viele weitere Romane auf Deutsch) verfasst hat, ist klar, dass es sich bei seinem Lyrikverständnis nicht um ein progressives, neuzeitliches handelt, sondern um ein zurückgewandtes, an der Urform der Lyrik orientiertes; also am Gesang, Gebet, der Anrufung, dem Zauberspruch.

Nun sind es auch noch Liebesgedichte, über die wir hier sprechen. Werke, in denen Personen oder Ideale umworben und angerufen werden, in denen sowohl die Besessenheit als auch die Zartheit eine Rolle spielen. Beseelte Gedichte, sozusagen.


„Ich bin ein tötbarer Mensch
Davor aber noch ein eroberbarer
Dein Blick, deine Lippen, deine Finger
Sind eingeübte Eroberer“


Liebesgedichte sind die Art von Lyrik, mit der wahrscheinlich noch die meisten Leute in Berührung kommen (abgesehen von der Spaßdichtung vielleicht) und u.a. aus diesem Grund gelten sie oft als Nährboden für Klischees. Liebesgedichte sind die Königsdisziplin und gleichsam die niedrigste Sparte; sie können tief berühren, aber haben auch etwas Beliebiges. Viele Dichter*innen sind für ihre Liebesgedichte bekannt, und doch haben fast alle Menschen selber schon einmal eins ge-schrieben. Liebesgedichte sind etwas sehr, sehr Individuelles und doch universell.

„Endlos bist du
Wenn du neben mir
Am Seeufer sitzt
Endlos tauchst du
Im See immer wieder auf“


Was bei den Liebesgedichten von Galsan Tschinag auffällt, ist zunächst ebenfalls ihre Nähe zum Klischee; doch gleich als Zweites wird man der schmalen Einzigartigkeit gewahr, die in vielen Gedichten steckt. Sie beginnen mit Worten wie „endlos“, „schwer“, dem „Du“ und dem „Dir“ oder mit dem lyrischen „Ich“, das sich sofort zu einem „Du“ positioniert. Klassischer geht es kaum.

Und doch folgt auf so einen Anfang nicht selten der Versuch, nicht mit sprachlicher Schwammigkeit oder Überhöhung fortzufahren, sondern sich von der Ausgangsposition in die Dinge hineinzubohren, dem Ansatz nicht in die Abschweifung zu folgen, sondern aus ihm heraus ein weitreichendes Bild zu formen. Dabei spielen sowohl profane Elemente der körperlichen Liebe als auch spirituelle, schamanische Elemente eine Rolle (die Beseelung der Natur mit Liebesmotiven, die Anrufung der Natur im geliebten Geschöpf, beispielsweise), die sich ineinander verschränken und eine eigene Metaphorik aufbauen.

„Hinter dir und mir
Stand unsichtbar ein Schatten
Und bewachte jeden
Gleich einer Trennwand
Lag zwischen Hell und Dunkel
Unsere unschuldige Nacht“


Natürlich bewegen wir uns hier dennoch in romantisierten Kosmen. Ein Teil der Gedichte ist dem Vermissen gewidmet, ein anderer dem gerade stattfindenden Liebesglück, einige Gedichte beschreiben die Ferne zwischen den Liebenden, andere das Begehren des lyrischen Ichs.

Bemerkenswert ist hierbei auch die Vielschichtigkeit der angewandten Motive – manche Gedichte ergehen sich in Allegorien, manche sprechen ganz schlicht von greifbaren Szenarien und Erlebnissen. Emotionen wie Wut oder Zufriedenheit drücken den Versen ihren Stempel auf, treten sichtbar zutage und bestimmen die Atemlänge der Zeilen, die Dichte der Ausführungen.

„Dich in mir
Muss ich jäten
Bevor ich mich in dir
Abernte“


So bekommt man mit den hier versammelten Liebesgedichten, obgleich sie alle vom selben Autor sind, eine sehr gute Bandbreite präsentiert. Ihnen gemeinsam ist ein Streben nach der Transzendierung des Erlebens, und dies geschieht oftmals nicht nur „durch“ die Sprache Tschinags – die Sprache selbst, mit ihren Klängen und der ursprünglichen Kraft in ihren Bezeichnungen, ihren Worten, ist die Transzendenz.


„Ich habe die Worte vergessen,
Die du mir beim Abschied gesagt hast
(Ich nehme an, da sind Worte gesagt worden)
Aber ich habe deinen Blick nicht vergessen“


Etwas, das bei Liebesgedichten fast selbstverständlich ist und bei der Beschreibung von Lyrik allgemein immer etwas tautologisch oder kontraproduktiv wirkt, muss hier dennoch Erwähnung finden: Diese Gedichte sind schön. Manchmal überraschend, was sie vor dem Kitsch und der bloßen Leierkasten- und Liedermanier bewahrt. Man weiß nie so ganz, wo man sich im nächsten Gedicht befinden wird. Aber schön meint hier durchaus auch das Aufkommen eines „Ach“-Gefühls. Das ist nicht der wichtigste Maßstab für die Qualität von (vor allem zeitgenössischer) Lyrik – aber zu verachten ist es auch nicht.

„Du gingst
Eine Sternschnuppe zur Begleitung
Und eine Sternschnuppe lang
Stand ich ratlos da
Dann riss ich mich zusammen
[…]
Spürte unter mir fest die Erde
Und sah über mir
Einen Regen von Sternschnuppen“



Galsan Tschinag: Liebesgedichte. Zürich (Unionsverlag) 2016. 90 Seiten. 18,00 Euro.

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