Für Euch - Texte israelischer Schriftsteller:innen nach dem 7. Oktober
Montags=Text
Für Euch
Eine Online-Anthologie
im Signaturen-Magazin
mit Texten
israelischer Schriftsteller:innen nach dem 7. Oktober
Nach Gesprächen im Dezember 2023 in Israel
ausgewählt und aus dem Hebräischen übersetzt von
Gundula Schiffer
mit Gemälden und Zeichnungen von Hadara
Levin-Areddy
Folge 1 von 3

Miriam Yalan-Shtekelis
Für Euch
Ich entfern meine Seele
breite aus vor Euch
und es werde meine Seele zur Flotte für Euch
übers Antlitz der Wasser.
Ich entzünd meinen Schmerz
dass es brenne vor Euch
und es werde mein Schmerz zur Flamme für Euch
als Lohe des Nachts zu leuchten Euren Weg
übers Antlitz der Wasser.
Und ich zück meinen Zorn
und es stehe mein Zorn
als Schutzkolonne vor Euch und Waffe.
Es erhebe sich mein Zorn
ein Kapitän ist mein Zorn
und er geht vor Euch her, und führt mein Volk
übers Antlitz der Wasser.
1945
Miriam Yalan-Shtekelis, 1900 in der Nähe von Krementschuk im Russischen Reich, heute
Ukraine geboren, war eine israelische Schriftstellerin und Dichterin. Vor allem
ihre Geschichten und Gedichte für Kinder haben sie berühmt gemacht, letztere
wurden auch von israelischen Rocksängern vielfach vertont. Als erste erhielt Yalan-Shtekelis
im Jahre 1956 den Israel-Preis für Kinderliteratur. Sie studierte in Charkiw,
Berlin und Paris, bevor sie 1920 nach Erez Israel auswanderte und sich in
Jerusalem niederließ. Dort arbeitete sie bis zur Pensionierung als
Bibliothekarin in der Slavischen Abteilung der Nationalbibliothek. 1968 wurde
sie zur Ehrenbürgerin Jerusalems ernannt. Das 1978 veröffentlichte Werk Chajim
Umilim (Leben und Worte) mit autobiographischen Erinnerungen, Gedichten und
Prosa für Erwachsene sowie Übersetzungen wurde 2021 neu aufgelegt. Miriam
Yalan-Shtekelis starb 1984 in Haifa.

Heichali Elon
„Dieser Krieg ist auf Hebräisch“
Der Text ist ursprünglich eine Whatsapp-Nachricht an die Familie, geschrieben am 9. Oktober 2023.
Dieser Krieg ist auf Hebräisch. Nicht auf Arabisch, und in keiner Sprache der Vereinten Nationen.
Milchama, Neschek, Krav. ‒ Krieg, Waffe, Kampf.
Lechem, Neschika, Kirva. ‒ Brot, Kuss, Nähe.
(Nur auf Hebräisch verbinden sich diese Worte an der Wurzel.)
In dem Schmerz, der maßlos ist –
wer das sehen durfte: Wie die Heerscharen Israels sich versammeln zum Krieg, ein kleiner, nicht enden wollender Schneeberg, in seiner Schönheit an die urzeitlichen, höchsten Himmel reichend. Heerscharen, deren Geheimnis nicht in ihrer Größe, sondern in ihrer Großartigkeit besteht, nicht auf Helden, sondern auf Heldenmut beruht.
Auf Einzelnen, auf Kompanien, Divisionen und Bataillonen.
Junge Männer und Frauen, ich, der noch nicht den Barettmarsch gemacht hat, Kampferprobtere, Reservisten, Freiwillige mit ergrauten Haaren, die im Jom-Kippur-Krieg waren. Sie alle haben diesen besonderen Tau in den Augen, alle fürchten sich – nicht vor dem Tod, sondern vor der Heiligkeit des Lebens. Ein Volk, das wirklich und wahrhaftig den Frieden liebt, ein Volk, das den Frieden liebt, ruft man wieder in den Krieg.
Schon vor dem Krieg war da dieses besondere Licht, irgendwo, der Wind fuhr durch den Weizen, doch Krieg – Milchama ist eine Zeit des Brotes – Lechem.
Eine Zeit, in der aus dem heftigen Zusammenstoß zweier Seiten, hier des Lichts mit der Finsternis, etwas Neues hervorbricht, etwas Neues, das Substanz hat, das uns nicht bloß den Weg leuchtet, auch unsere Seele sättigt.
Dieselben Kräfte, die uns hassen, die uns hinmorden, die uns tilgen wollen von dem lieben Erdenrund, die sich nichts Gutes, sondern uns Schlechtes tun, uns von hier auszurotten – ihr hehrer Wille und einziges Ziel ist eine judenleere Welt. Eine verwaiste Welt.
Ohne was? Ohne wen?
Wer sind wir, dass der Satan uns derart hasst, wer sind wir, dass Hitler in unserem Leben sein größtes Problem sah, dass die Schrecken säenden, hasserfüllten, Leben, Liebe, Freude und Frieden zerstörenden Terrororganisationen in unserer Rückkehr hier nach Erez Israel ein Unglück sehen?
Friede sei in unseren Streitkräften, dann werden wir einen großen Sieg davontragen in diesem hebräischen Krieg. Tilgen und vernichten werden wir unsere Feinde.
Ruhe sei in unseren Palästen und wir werden des Feindes nicht mehr bedürfen, um uns des Freundes zu erinnern, der aus unserer Mitte, aus Freude und Erneuerung, nicht aus Schmerz, Zerstörung und Leid erwachen wird.
Wer sind wir? Fragen wir, und diese Frage soll uns nicht trennen, sondern einander näherbringen.
„Wer gäb von Zijon doch die Hilfe Jisraëls! / Wenn wiederbaut der Ewige sein Volk / wird Jaakob jubeln, Jisraël sich freun.“
Wer gäb von Zijon: Psalm 14,7 (Deutsch von Naftali Herz Tur-Sinai)
Wer sind wir?: Hintergrund sind die Proteste gegen die umstrittene Justizreform in Israel, die im Januar 2023 begannen und während der die israelische Gesellschaft aufgrund polarisierender politischer Positionen mehr und mehr auseinander-zubrechen drohte.
Heichali Elon wurde 2003 in Jerusalem geboren und wuchs in Gusch Ezjon, in
der Siedlung Tekoa auf. Seine Mutter Tamar Elon unterrichtet Talmud, und sein
Vater Ori Elon ist Schriftsteller und Drehbuchautor (er schrieb die auch in
Deutschland sehr erfolgreiche israelische Fernsehserie Shtisel).
Nach dem Abitur studierte Heichali für ein Jahr an der
Höheren Jeschiva (Jeschiva gedola) in Safed. Gegenwärtig kämpft er als Soldat der
Israelischen Verteidigungsstreitkräfte im Gazastreifen.
Sein Debütroman befindet sich derzeit im Lektorat und soll in
Kürze erscheinen.
Die Übersetzerin dankt der Schriftstellerin Emuna Elon, die ihr von Heichali Elons persönlicher Aufzeichnung erzählt und seine Zustimmung für deren Veröffentlichung eingeholt hat. Von Emuna Elon erschien auf Deutsch der Roman Das Haus auf dem Wasser (Aufbau 2021, in der Übersetzung von Barbara Linner).

Yarden Ben-Zur
Etüden im Alefbet
Mein Sohn kreist Buchstaben
auf das Blatt, fügt
Zeichen an Zeichen, zweimal das
Ajin ע, zum Abschluss ein Kuf ק
fragt: Was soll das sein, Papa?
Seine Buchstaben sind Kohlespritzer
Blutflecken
Silbersplitter.
Mit Pflöcken meißelt er sie ein
in die Tafel meines Herzens, seine Konsonanten
stecken mir in der Kehle fest.
Buchstaben ohne Heiliges, das Auge
des Abgrunds klafft nicht darin
ihre Flügel, alles Engelhaften bar
tragen keine Schechina.
Buchstaben ohne Profanes, ohne nackte
Schenkel und Erdbeereis
ohne beflecktes Polster
und Modeboutiquen.
Buchstaben, sich bückend
ihre Bruchstücke
aufzusammeln, ihr Gewand
flattert im Wind
enthüllt nichts.
Hängen wie Hühner mit gerupfter
Punktation an krummen Waw-Haken וו
doch ihre Form ist leicht anders:
das Alef א ist eine Art
oft durchgeixtes, raumgreifendes X und das Lamed ל
steht auf dem Kopf, übersteigt seine Ausmaße
wie ein Schrecken erregendes Fragezeichen.
das Auge / des Abgrunds klafft nicht darin: Der bekannte Kabbala-Forscher Gershom Scholem war 1923 ins damalige Mandatsgebiet Palästina emigriert. In einem Brief aus dem Jahre 1926 an den in Deutschland lebenden Franz Rosenzweig, den Autor von Der Stern der Erlösung (1921) benannte Scholem die Säkularisierung der heiligen Sprache Hebräisch als Gefahr („Vermessenheit“), die einst auf ihre Sprecher zurückfallen würde. Jacques Derrida untersucht diesen Brief in seinem Essay Die Augen der Sprache. Abgrund und Vulkan (2014, übersetzt von Esther von der Osten).
Yarden Ben-Zur, geboren 1986, ist Doktorand der Vergleichenden
Literaturwissenschaft an der Universität Tel Aviv. Er forscht über das Motiv
des Gartens in der deutschen, persischen und hebräischen Literatur. Sein
Lyrik-Debüt Suburbs of Blue Sleep (Parwarei haschena hakechola) erschien
2023 und sein Prosa-Debüt Bypasses (Ma’akafim) soll im Jahr 2024
herauskommen. Außerdem übersetzt er aus dem Deutschen, Persischen und
Englischen. Seine Gedichte, Erzählungen und Übersetzungen wurden in verschiedenen
Zeitschriften und andernorts in Israel und Europa veröffentlicht.

Hadara
Levin-Areddy ist
Musikerin (Singer-Song-writerin), Dichterin, Schriftstellerin, Spoken
Word-Künstlerin und Malerin. Sie hat Film und Fernsehen an der New York
University studiert und dort mit der höchsten Auszeichnung abgeschlossen.
Bisher sind von ihr vier Bücher (Lyrik und Prosa auf Hebräisch), 18 Musikalben
(auf Englisch und Hebräisch) sowie Artikel, Essays und Kolumnen in
verschiedenen Zeitungen erschienen.
Gili Haimovich
Von mir genommen
Wie das Leid die Knochen erweicht, in die Nacht
einschmelzt
ausspreitet.
Der zerfetzte Himmel träufelt Schauder.
Da ist kein Horizont, der uns beschirmt
mit einer Schirmung, Bedeckung
breit aufgespannten
Hand
die mich nicht wegnimmt von meinem Gebein
von dem Mädchen am Rande zu Gaza
die so sehr so sehr nahezu
mein eigen Bein
und Fleisch ist.
Die Knochen sind so weich jetzt
man könnte so leicht sie zerreiben jetzt
vom Knorpel abschneiden
zu wer weiß wohin schleifen in Gaza.
So leicht ist es, sie zu vergessen
uns zu vergessen
die wir einen Schutzraum haben, zu dem wir
laufen können
unsere weiße
Stadt auf Sand
Mädchen, die man noch umarmen kann
und sie leben.
Gili Haimovich, geboren 1974 in Jerusalem, ist eine israelisch-kanadische
Dichterin, Übersetzerin und Herausgeberin, die auch literarisches Schreiben
unterrichtet. Sie hat sechs hebräische Gedichtbände veröffentlicht, darunter
den frisch erschienenen Band Experiments in Parting (Nisuijim befreda
2023), für den sie Stipendien des Goldberg-Fonds und des ACUM-Verbands erhielt.
Daneben hat sie vier Bücher in englischer Sprache sowie die Anthologie Piece
of Paper (Petek) vorgelegt, das alle Übersetzungen ihres Gedichts „Petek“ bündelt.
Ihre Lyrik wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt und mit internationalen
Preisen und Stipendien ausgezeichnet, u.a. mit dem „Preis für die beste
ausländische Dichterin“ der internationalen Lyrik-Wettbewerben Ossi di
Seppia (2019) und Collori dell’anima (2020), einer Residenz der Hong
Kong Baptist-Universität (2020) sowie dem Exzellenz-Fonds des Kulturbüros in
Israel (2015).