Friedrich Schiller: Über das Erhabene
Poeterey
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Friedrich Schiller
Ueber das Erhabene.
[Diese Abhandlung erschien zuerst im III. Theile der Sammlung kleiner prosaischer Schriften (Leipzig bei Crusius 1801), s. d. Anmerkung zur bereits oben gegebenen Abhandlung: Ueber das Pathetische.]
»Kein Mensch muß müssen,« sagt der Jude Nathan zum
Derwisch, und dieses Wort ist in einem weitern Umfange wahr, als man demselben
vielleicht einräumen möchte. Der Wille ist der Geschlechtscharakter des
Menschen, und die Vernunft selbst ist nur die ewige Regel desselben. Vernünftig
handelt die ganze Natur; sein Prärogativ ist bloß, daß er mit Bewußtsein und
Willen vernünftig handelt. Alle andern Dinge müssen; der Mensch ist das Wesen,
welches will.
Eben deßwegen ist des Menschen nichts so unwürdig, als
Gewalt zu erleiden, denn Gewalt hebt ihn auf. Wer sie uns anthut, macht uns
nichts Geringeres als die Menschheit streitig; wer sie feiger Weise erleidet,
wirft seine Menschheit hinweg. Aber dieser Anspruch auf absolute Befreiung von
allem, was Gewalt ist, scheint ein Wesen vorauszusetzen, welches Macht genug
besitzt, jede andere Macht von sich abzutreiben. Findet er sich in einem Wesen,
welches im Reich der Kräfte nicht den obersten Rang behauptet, so entsteht
daraus ein unglücklicher Widerspruch zwischen dem Trieb und dem Vermögen.
In diesem Falle befindet sich der Mensch. Umgeben von
zahllosen Kräften, die alle ihm überlegen sind und den Meister über ihn
spielen, macht er durch seine Natur Anspruch, von keiner Gewalt zu erleiden.
Durch seinen Verstand zwar steigert er künstlicher Weise seine natürlichen
Kräfte, und bis auf einen gewissen Punkt gelingt es ihm wirklich, physisch über
alles Physische Herr zu werden. Gegen alles, sagt das Sprüchwort, gibt es
Mittel, nur nicht gegen den Tod. Aber diese einzige Ausnahme, wenn sie das wirklich
im strengsten Sinne ist, würde den ganzen Begriff des Menschen aufheben.
Nimmermehr kann er das Wesen sein, welches will, wenn es auch nur einen
Fall gibt, wo er schlechterdings muß, was er nicht will. Dieses einzige
Schreckliche, was er nur muß und nicht will, wird wie ein Gespenst ihn
begleiten und ihn, wie auch wirklich bei den mehresten Menschen der Fall ist,
den blinden Schrecknissen der Phantasie zur Beute überliefern; seine gerühmte
Freiheit ist absolut nichts, wenn er auch nur in einem einzigen Punkte gebunden
ist. Die Kultur soll den Menschen in Freiheit setzen und ihm dazu behilflich
sein, seinen ganzen Begriff zu erfüllen. Sie soll ihn also fähig machen, seinen
Willen zu behaupten, denn der Mensch ist das Wesen, welches will.
Dies ist auf zweierlei Weise möglich. Entweder realistisch,
wenn der Mensch der Gewalt Gewalt entgegensetzt, wenn er als Natur die Natur
beherrschet; oder idealistisch, wenn er aus der Natur heraus tritt und
so, in Rücksicht auf sich, den Begriff der Gewalt vernichtet. Was ihm zu dem
ersten verhilft, heißt physische Kultur. Der Mensch bildet seinen Verstand und
seine sinnlichen Kräfte aus, um die Naturkräfte, nach ihren eigenen Gesetzen,
entweder zu Werkzeugen seines Willens zu machen, oder sich vor ihren Wirkungen,
die er nicht lenken kann, in Sicherheit zu setzen. Aber die Kräfte der Natur
lassen sich nur bis auf einen gewissen Punkt beherrschen oder abwehren; über
diesen Punkt hinaus entziehen sie sich der Macht des Menschen und unterwerfen
ihn der ihrigen.
Jetzt also wäre es um seine Freiheit gethan, wenn er
keiner andern als physischen Kultur fähig wäre. Er soll aber ohne Ausnahme
Mensch sein, also in keinem Fall etwas gegen seinen Willen erleiden.
Kann er also den physischen Kräften keine verhältnißmäßige physische Kraft mehr
entgegensetzen, so bleibt ihm, um keine Gewalt zu erleiden, nichts anders
übrig, als: ein Verhältniß, welches ihm so nachtheilig ist, ganz und
gar aufzuheben und eine Gewalt, die er der That nach erleiden muß, dem
Begriff nach zu vernichten. Eine Gewalt dem Begriffe nach vernichten, heißt
aber nichts anders, als sich derselben freiwillig unterwerfen. Die Kultur, die
ihn dazu geschickt macht, heißt die moralische.
Der moralisch gebildete Mensch, und nur dieser, ist
ganz frei. Entweder er ist der Natur als Macht überlegen, oder er ist
einstimmig mit derselben. Nichts, was sie an ihm ausübt, ist Gewalt, denn eh'
es bis zu ihm kommt, ist es schon seine eigene Handlung geworden,
und die dynamische Natur erreicht ihn selbst nie, weil er sich von allem, was
sie erreichen kann, freithätig scheidet. Diese Sinnesart aber, welche die Moral
unter dem Begriff der Resignation in die Nothwendigkeit und die Religion unter
dem Begriff der Ergebung in den göttlichen Rathschluß lehret, erfordert, wenn
sie ein Werk der freien Wahl und Ueberlegung sein soll, schon eine größere
Klarheit des Denkens und eine höhere Energie des Willens, als dem Menschen im
handelnden Leben eigen zu sein pflegt. Glücklicher Weise aber ist nicht bloß in
seiner rationellen Natur eine moralische Anlage, welche durch den Verstand
entwickelt werden kann, sondern selbst zu seiner sinnlich vernünftigen,
d. h. menschlichen Natur eine ästhetische Tendenz dazu vorhanden,
welche durch gewisse, sinnliche Gegenstände geweckt und durch Läuterung seiner
Gefühle zu diesem idealistischen Schwung des Gemüths kultiviert werden kann.
Von dieser, ihrem Begriff und Wesen nach zwar idealistischen Anlage, die aber
auch selbst der Realist in seinem Leben deutlich genug an den Tag legt,
obgleich er sie in seinem System nicht zugibt,Wie überhaupt nichts wahrhaft
idealistisch heißen kann, als was der vollkommene Realist wirklich unbewußt
ausübt und nur durch eine Inconsequenz leugnet. werde ich gegenwärtig handeln.
Zwar reichen schon die entwickelten Gefühle für
Schönheit dazu hin, uns bis auf einen gewissen Grad von der Natur als einer
Macht unabhängig zu machen. Ein Gemüth, welches sich so weit veredelt hat, um
mehr von den Formen als dem Stoff der Dinge gerührt zu werden und, ohne alle
Rücksicht auf Besitz, aus der bloßen Reflexion über die Erscheinungsweise ein
freies Wohlgefallen zu schöpfen, ein solches Gemüth trägt in sich selbst eine
innere unverlierbare Fülle des Lebens, und weil es nicht nöthig hat, sich die
Gegenstände zuzueignen, in denen es lebt, so ist es auch nicht in Gefahr,
derselben beraubt zu werden. Aber endlich will doch auch der Schein einen
Körper haben, an welchem er sich zeigt, und so lange also ein Bedürfniß auch
nur nach schönem Schein vorhanden ist, bleibt ein Bedürfniß nach dem Dasein
von Gegenständen übrig, und unsre Zufriedenheit ist folglich noch von der Natur
als Macht abhängig, welche über alles Dasein gebietet. Es ist nämlich etwas
ganz anders, ob wir ein Verlangen nach schönen und guten Gegenständen fühlen,
oder ob wir bloß verlangen, daß die vorhandenen Gegenstände schön und gut
seien. Das letzte kann mit der höchsten Freiheit des Gemüths bestehen, aber das
erste nicht; daß das Vorhandene schön und gut sei, können wir fordern, daß das
Schöne und Gute vorhanden sei, bloß wünschen. Diejenige Stimmung des Gemüths,
welche gleichgültig ist, ob das Schöne und Gute und Vollkommene existiere, aber
mit rigoristischer Strenge verlangt, daß das Existierende gut und schön und
vollkommen sei, heißt vorzugsweise groß und erhaben, weil sie alle Realitäten
des schönen Charakters enthält, ohne seine Schranken zu theilen.
Es ist ein Kennzeichen guter und schöner, aber
jederzeit schwacher Seelen, immer ungeduldig auf Existenz ihrer moralischen
Ideale zu dringen und von den Hindernissen derselben schmerzlich gerührt zu
werden. Solche Menschen setzen sich in eine traurige Abhängigkeit von dem
Zufall, und es ist immer mit Sicherheit vorherzusagen, daß sie der Materie in
moralischen und ästhetischen Dingen zu viel einräumen und die höchste
Charakter- und Geschmacksprobe nicht bestehen werden. Das moralisch Fehlerhafte
soll uns nicht Leiden und Schmerz einflößen, welches immer mehr von
einem unbefriedigten Bedürfniß als von einer unerfüllten Forderung zeugt. Diese
muß einen rüstigern Affekt zum Begleiter haben und das Gemüth eher stärken und
in seiner Kraft befestigen, als kleinmüthig und unglücklich machen.
Zwei Genien sind es, die uns die Natur zu Begleitern
durchs Leben gab. Der eine, gesellig und hold, verkürzt uns durch sein munteres
Spiel die mühvolle Reise, macht uns die Fesseln der Nothwendigkeit leicht und
führt uns unter Freude und Scherz bis an die gefährlichen Stellen, wo wir als
reine Geister handeln und alles Körperliche ablegen müssen, bis zur Erkenntniß
der Wahrheit und zur Ausübung der Pflicht. Hier verläßt er uns, denn nur die
Sinnenwelt ist sein Gebiet; über diese hinaus kann ihn sein irdischer Flügel
nicht tragen. Aber jetzt tritt der andere hinzu, ernst und schweigend, und mit
starkem Arm trägt er uns über die schwindlichte Tiefe.
In dem ersten dieser Genien erkennt man das Gefühl des
Schönen, in dem zweiten das Gefühl des Erhabenen. Zwar ist schon das Schöne ein
Ausdruck der Freiheit, aber nicht derjenigen, welche uns über die Macht der
Natur erhebt und von allem körperlichen Einfluß entbindet, sondern derjenigen,
welche wir innerhalb der Natur als Menschen genießen. Wir fühlen uns frei bei
der Schönheit, weil die sinnlichen Triebe mit dem Gesetz der Vernunft
harmonieren; wir fühlen uns frei beim Erhabenen, weil die sinnlichen Triebe auf
die Gesetzgebung der Vernunft keinen Einfluß haben, weil der Geist hier
handelt, als ob er unter keinen andere als seinen eigenen Gesetzen stünde.
Das Gefühl des Erhabenen ist ein gemischtes Gefühl. Es
ist eine Zusammensetzung von Wehsein, das sich in seinem höchsten Grad
als ein Schauer äußert, und von Frohsein, das bis zum Entzücken steigen
kann und, ob es gleich nicht eigentlich Lust ist, von seinen Seelen aller Lust
doch weit vorgezogen wird. Diese Verbindung zweier widersprechender
Empfindungen in einem einzigen Gefühl beweist unsere moralische Selbständigkeit
auf eine unwiderlegliche Weise. Denn da es absolut unmöglich ist, daß der
nämliche Gegenstand in zwei entgegengesetzten Verhältnissen zu uns stehe, so
folgt daraus, daß wir selbst in zwei verschiedenen Verhältnissen zu dem
Gegenstand stehen, daß folglich zwei entgegengesetzte Naturen in uns vereiniget
sein müssen, welche bei Vorstellung desselben auf ganz entgegengesetzte Art
interessiert sind. Wir erfahren also durch das Gefühl des Erhabenen, daß sich
der Zustand unsers Geistes nicht nothwendig nach dem Zustand des Sinnes
richtet, daß die Gesetze der Natur nicht nothwendig auch die unsrigen sind, und
daß wir ein selbständiges Principium in uns haben, welches von allen sinnlichen
Rührungen unabhängig ist.
Der erhabene Gegenstand ist von doppelter Art. Wir
beziehen ihn entweder auf unsere Fassungskraft und erliegen bei dem
Versuch, uns ein Bild oder einen Begriff von ihm zu bilden; oder wir beziehen
ihn auf unsere Lebenskraft und betrachten ihn als eine Macht, gegen
welche die unsrige in Nichts verschwindet. Aber ob wir gleich in dem einen wie
in dem andern Fall durch seine Veranlassung das peinliche Gefühl unserer
Grenzen erhalten, so fliehen wir ihn doch nicht, sondern werden vielmehr mit
unwiderstehlicher Gewalt von ihm angezogen. Würde dieses wohl möglich sein,
wenn die Grenzen unsrer Phantasie zugleich die Grenzen unsrer Fassungskraft
wären? Würden wir wohl an die Allgewalt der Naturkräfte gern erinnert sein
wollen, wenn wir nicht noch etwas anders im Rückhalt hätten, als was ihnen zum
Raube werden kann? Wir ergötzen uns an dem Sinnlich-Unendlichen, weil wir
denken können, was die Sinne nicht mehr fassen und der Verstand nicht mehr
begreift. Wir werden begeistert von dem Furchtbaren, weil wir wollen können,
was die Triebe verabscheuen, und verwerfen, was sie begehren. Gern lassen wir
die Imagination im Reich der Erscheinungen ihren Meister finden, denn endlich
ist es doch nur eine sinnliche Kraft, die über eine andere sinnliche
triumphiert, aber an das absolut Große in uns selbst kann die Natur in ihrer
ganzen Grenzenlosigkeit nicht reichen. Gern unterwerfen wir der physischen
Nothwendigkeit unser Wohlsein und unser Dasein; denn das erinnert uns eben, daß
sie über unsre Grundsätze nicht zu gebieten hat. Der Mensch ist in ihrer Hand,
aber des Menschen Wille ist in der seinigen.
Und so hat die Natur sogar ein sinnliches Mittel
angewendet, uns zu lehren, daß wir mehr als bloß sinnlich sind; so wußte sie
selbst Empfindungen dazu zu benutzen, uns der Entdeckung auf die Spur zu
führen, daß wir der Gewalt der Empfindungen nichts weniger als sklavisch
unterworfen sind. Und dies ist eine ganz andere Wirkung, als durch das Schöne
geleistet werden kann – durch das Schöne der Wirklichkeit nämlich, denn im
Idealschönen muß sich auch das Erhabene verlieren. Bei dem Schönen stimmen
Vernunft und Sinnlichkeit zusammen, und nur um dieser Zusammenstimmung willen
hat es Reiz für uns. Durch die Schönheit allein würden wir also ewig nie
erfahren, daß wir bestimmt und fähig sind, uns als reine Intelligenzen zu
beweisen. Beim Erhabenen hingegen stimmen Vernunft und Sinnlichkeit nicht
zusammen, und eben in diesem Widerspruch zwischen beiden liegt der Zauber,
womit es unser Gemüth ergreift. Der physische und der moralische Mensch werden
hier aufs schärfste von einander geschieden; denn gerade bei solchen Gegenständen,
wo der erste nur seine Schranken empfindet, macht der andere die Erfahrung
seiner Kraft und wird durch eben das unendlich erhoben, was den andern
zu Boden drückt.
Ein Mensch, will ich annehmen, soll alle die Tugenden
besitzen, deren Vereinigung den schönen Charakter ausmacht. Er soll in
der Ausübung der Gerechtigkeit, Wohlthätigkeit, Mäßigkeit, Standhaftigkeit und
Treue seine Wollust finden; alle Pflichten, deren Befolgung ihm die Umstände
nahe legen, sollen ihm zum leichten Spiele werden, und das Glück soll ihm keine
Handlung schwer machen, wozu nur immer sein menschenfreundliches Herz ihn
auffordern mag. Wem wird dieser schöne Einklang der natürlichen Triebe mit den
Vorschriften der Vernunft nicht entzückend sein, und wer sich enthalten können,
einen solchen Menschen zu lieben? Aber können wir uns wohl, bei aller Zuneigung
zu demselben, versichert halten, daß er wirklich ein Tugendhafter ist, und daß
es überhaupt eine Tugend gibt? Wenn es dieser Mensch auch bloß auf angenehme
Empfindungen angelegt hätte, so könnte er, ohne ein Thor zu sein,
schlechterdings nicht anders handeln, und er müßte seinen eigenen Vortheil
hassen, wenn er lasterhaft sein wollte. Es kann sein, daß die Quelle seiner
Handlungen rein ist; aber das muß er mit seinem eigenen Herzen ausmachen: wir
sehen nichts davon. Wir sehen ihn nicht mehr thun, als auch der bloß kluge Mann
thun müßte, der das Vergnügen zu seinem Gott macht. Die Sinnenwelt also erklärt
das ganze Phänomen seiner Tugend, und wir haben gar nicht nöthig, uns jenseits
derselben nach einem Grund davon umzusehen.
Dieser nämliche Mensch soll aber plötzlich in ein
großes Unglück gerathen. Man soll ihn seiner Güter berauben, man soll seinen
guten Namen zu Grund richten; Krankheiten sollen ihn auf ein schmerzhaftes
Lager werfen; Alle, die er liebt, soll der Tod ihm entreißen, Alle, denen er
vertraut, ihn in der Noth verlassen. In diesem Zustande suche man ihn wieder
auf und fordere von dem Unglücklichen die Ausübung der nämlichen Tugenden, zu
denen der Glückliche einst so bereit gewesen war. Findet man ihn in diesem Stück
noch ganz als den Nämlichen, hat die Armuth seine Wohlthätigkeit, der Undank
seine Dienstfertigkeit, der Schmerz seine Gleichmütigkeit, eignes Unglück seine
Theilnehmung an fremdem Glück nicht vermindert, bemerkt man die Verwandlung
seiner Umstände in seiner Gestalt, aber nicht in seinem Betragen, in der
Materie, aber nicht in der Form seines Handelns – dann freilich reicht man mit
keiner Erklärung aus dem Naturbegriff mehr aus (nach welchem es
schlechterdings nothwendig ist, daß das Gegenwärtige als Wirkung sich auf etwas
Vergangenes als seine Ursache gründet), weil nichts widersprechender sein kann,
als daß die Wirkung dieselbe bleibe, wenn die Ursache sich in ihr Gegentheil
verwandelt hat. Man muß also jeder natürlichen Erklärung entsagen, muß es ganz
und gar aufgeben, das Betragen aus dem Zustande abzuleiten, und den Grund des
erstern aus der physischen Weltordnung heraus in eine ganz andere verlegen,
welche die Vernunft zwar mit ihren Ideen erstiegen, der Verstand aber mit
seinen Begriffen nicht erfassen kann. Diese Entdeckung des absoluten
moralischen Vermögens, welches an keine Naturbedingung gebunden ist, gibt dem
wehmüthigen Gefühl, wovon wir beim Anblick eines solchen Menschen ergriffen
werden, den ganz eignen unaussprechlichen Reiz, den keine Lust der Sinne, so
veredelt sie auch seien, dem Erhabenen streitig machen kann.
Das Erhabene verschafft uns also einen Ausgang aus der
sinnlichen Welt, worin uns das Schöne gern immer gefangen halten möchte. Nicht
allmählich (denn es gibt von der Abhängigkeit keinen Uebergang zur Freiheit),
sondern plötzlich und durch eine Erschütterung reißt es den selbständigen Geist
aus dem Netze los, womit die verfeinerte Sinnlichkeit ihn umstrickte, und das
um so fester bindet, je durchsichtiger es gesponnen ist. Wenn sie durch den
unmerklichen Einfluß eines weichlichen Geschmacks auch noch so viel über die
Menschen gewonnen hat, wenn es ihr gelungen ist, sich in der verführerischen
Hülle des geistigen Schönen in den innersten Sitz der moralischen Gesetzgebung
einzudrängen und dort die Heiligkeit der Maximen an ihrer Quelle zu vergiften,
so ist oft eine einzige erhabene Rührung genug, dieses Gewebe des Betrugs zu
zerreißen, dem gefesselten Geist seine ganze Schnellkraft auf einmal
zurückzugeben, ihm eine Revelation über seine wahre Bestimmung zu ertheilen und
ein Gefühl seiner Würde, wenigstens für den Moment, aufzunöthigen. Die
Schönheit unter der Gestalt der Göttin Kalypso hat den tapfern Sohn des Ulysses
bezaubert, und durch die Macht ihrer Reizungen hält sie ihn lange Zeit auf
ihrer Insel gefangen. Lange glaubt er einer unsterblichen Gottheit zu huldigen,
da er doch nur in den Armen der Wollust liegt; aber ein erhabener Eindruck
ergreift ihn plötzlich unter Mentors Gestalt: er erinnert sich seiner bessern
Bestimmung, wirft sich in die Wellen und ist frei.
Das Erhabene, wie das Schöne, ist durch die ganze
Natur verschwenderisch ausgegossen, und die Empfindungsfähigkeit für beides in
alle Menschen gelegt; aber der Keim dazu entwickelt sich ungleich, und durch
die Kunst muß ihm nachgeholfen werden. Schon der Zweck der Natur bringt es mit
sich, daß wir der Schönheit zuerst entgegeneilen, wenn wir noch vor dem
Erhabenen fliehn; denn die Schönheit ist unsere Wärterin im kindischen Alter
und soll uns ja aus dem rohen Naturstand zur Verfeinerung führen. Aber ob sie gleich
unsre erste Liebe ist und unsre Empfindungsfähigkeit für dieselbe zuerst sich
entfaltet, so hat die Natur doch dafür gesorgt, daß sie langsamer reif wird und
zu ihrer völligen Entwicklung erst die Ausbildung des Verstandes und Herzens
abwartet. Erreichte der Geschmack seine völlige Reife, ehe Wahrheit und
Sittlichkeit auf einen bessern Weg, als durch ihn geschehen kann, in unser Herz
gepflanzt wären, so würde die Sinnenwelt ewig die Grenze unsrer Bestrebungen
bleiben. Wir würden weder in unsern Begriffen, noch in unsern Gesinnungen über
sie hinausgehn, und was die Einbildungskraft nicht darstellen kann, würde auch
keine Realität für uns haben. Aber glücklicher Weise liegt es schon in der
Einrichtung der Natur, daß der Geschmack, obgleich er zuerst blühet, doch
zuletzt unter allen Fähigkeiten des Gemüths seine Zeitigung erhält. In dieser
Zwischenzeit wird Frist genug gewonnen, einen Reichthum von Begriffen in dem
Kopf und einen Schatz von Grundsätzen in der Brust anzupflanzen und dann
besonders auch die Empfindungsfähigkeit für das Große und Erhabene aus der
Vernunft zu entwickeln.
So lange der Mensch bloß Sklave der physischen
Nothwendigkeit war, aus dem engen Kreis der Bedürfnisse noch keinen Ausgang
gefunden hatte und die hohe dämonische Freiheit in seiner Brust noch
nicht ahnete, so konnte ihn die unfaßbare Natur nur an die Schranken
seiner Vorstellungskraft, und die verderbende Natur nur an seine
physische Ohnmacht erinnern. Er mußte also die erste mit Kleinmuth vorübergehen
und sich von der andern mit Entsetzen abwenden. Kaum aber macht ihm die freie
Betrachtung gegen den blinden Andrang der Naturkräfte Raum, und kaum entdeckt
er in dieser Fluth von Erscheinungen etwas Bleibendes in seinem eignen Wesen,
so fangen die wilden Naturmassen um ihn herum an, eine ganz andere Sprache zu
seinem Herzen zu reden; und das relativ Große außer ihm ist der Spiegel, worin
er das absolut Große in ihm selbst erblickt. Furchtlos und mit schauerlicher
Lust nähert er sich jetzt diesen Schreckbildern seiner Einbildungskraft und
bietet absichtlich die ganze Kraft dieses Vermögens auf, das Sinnlich-Unendliche
darzustellen, um, wenn es bei diesem Versuche dennoch erliegt, die
Ueberlegenheit seiner Ideen über das Höchste, was die Sinnlichkeit leisten
kann, desto lebhafter zu empfinden. Der Anblick unbegrenzter Fernen und
unabsehbarer Höhen, der weite Ocean zu seinen Füßen und der größere Ocean über
ihm entreißen seinen Geist der engen Sphäre des Wirklichen und der drückenden
Gefangenschaft des physischen Lebens. Ein größerer Maßstab der Schätzung wird
ihm von der simpeln Majestät der Natur vorgehalten, und von ihren großen
Gestalten umgeben, erträgt er das Kleine in seiner Denkart nicht mehr. Wer
weiß, wie manchen Lichtgedanken oder Heldenentschluß, den kein Studierkerker
und kein Gesellschaftsaal zur Welt gebracht haben möchte, nicht schon dieser
mutige Streit des Gemüths mit dem großen Naturgeist auf einem Spaziergang
gebar; wer weiß, ob es nicht dem seltenern Verkehr mit diesem großen Genius zum
Theil zuzuschreiben ist, daß der Charakter der Städter sich so gerne zum
Kleinlichen wendet, verkrüppelt und welkt, wenn der Sinn des Nomaden offen und
frei bleibt, wie das Firmament, unter dem er sich lagert.
Aber nicht bloß das Unerreichbare für die
Einbildungskraft, das Erhabene der Quantität, auch das Unfaßbare für den
Verstand, die Verwirrung, kann, sobald sie ins Große geht und sich als
Werk der Natur ankündigt (denn sonst ist sie verächtlich), zu einer Darstellung
des Uebersinnlichen dienen und dem Gemüth einen Schwung geben. Wer verweilet
nicht lieber bei der geistreichen Unordnung einer natürlichen Landschaft, als
bei der geistlosen Regelmäßigkeit eines französischen Gartens? Wer bestaunt
nicht lieber den wunderbaren Kampf zwischen Fruchtbarkeit und Zerstörung in
Siciliens Fluren, weidet sein Auge nicht lieber an Schottlands wilden
Katarakten und Nebelgebirgen, Ossians großer Natur, als daß er in dem
schnurgerechten Holland den sauren Sieg der Geduld über das trotzigste der
Elemente bewundert? Niemand wird leugnen, daß in Bataviens Triften für den
physischen Menschen besser gesorgt ist, als unter dem tückischen Krater des
Vesuv, und daß der Verstand, der begreifen und ordnen will, bei einem regulären
Wirthschaftsgarten weit mehr als bei einer wilden Naturlandschaft seine
Rechnung findet. Aber der Mensch hat noch ein Bedürfniß mehr, als zu leben und
sich wohl sein zu lassen, und auch noch eine andere Bestimmung, als die
Erscheinungen um ihn herum zu begreifen.
Was dem Reisenden von Empfindung die wilde Bizarrerie
in der physischen Schöpfung so anziehend macht, eben das eröffnet einem
begeisterungsfähigen Gemüth, selbst in der bedenklichen Anarchie der
moralischen Welt, die Quelle eines ganz eignen Vergnügens. Wer freilich die
große Haushaltung der Natur mit der dürftigen Fackel des Verstandes
beleuchtet und immer nur darauf ausgeht, ihre kühne Unordnung in Harmonie
aufzulösen, der kann sich in einer Welt nicht gefallen, wo mehr der tolle
Zufall als ein weiser Plan zu regieren scheint und bei weitem in den mehresten
Fällen Verdienst und Glück mit einander im Widerspruche stehn. Er will haben,
daß in dem großen Weltlaufe alles wie in einer guten Wirtschaft geordnet sei,
und vermißt er, wie es nicht wohl anders sein kann, diese Gesetzmäßigkeit, so
bleibt ihm nichts anders übrig, als von einer künftigen Existenz und von einer
andern Natur die Befriedigung zu erwarten, die ihm die gegenwärtige und
vergangene schuldig bleibt. Wenn er es hingegen gutwillig aufgibt, dieses
gesetzlose Chaos von Erscheinungen unter eine Einheit der Erkenntniß bringen zu
wollen, so gewinnt er von einer andern Seite reichlich, was er von dieser
verloren gibt. Gerade dieser gänzliche Mangel einer Zweckverbindung unter
diesem Gedränge von Erscheinungen, wodurch sie für den Verstand, der sich an
diese Verbindungsform halten muß, übersteigend und unbrauchbar werden, macht
sie zu einem desto treffendern Sinnbild für die reine Vernunft, die in eben
dieser wilden Ungebundenheit der Natur ihre eigne Unabhängigkeit von
Naturbedingungen dargestellt findet. Denn wenn man einer Reihe von Dingen alle
Verbindung unter sich nimmt, so hat man den Begriff der Independenz, der mit
dem reinen Vernunftbegriff der Freiheit überraschend zusammenstimmt. Unter
dieser Idee der Freiheit, welche sie auf ihrem eigenen Mittel nimmt, faßt also
die Vernunft in eine Einheit des Gedankens zusammen, was der Verstand in keine
Einheit der Erkenntniß verbinden kann, unterwirft sich durch diese Idee das
unendliche Spiel der Erscheinungen und behauptet also ihre Macht zugleich über
den Verstand als sinnlich bedingtes Vermögen. Erinnert man sich nun, welchen
Werth es für ein Vernunftwesen haben muß, sich seiner Independenz von
Naturgesetzen bewußt zu werden, so begreift man, wie es zugeht, daß Menschen
von erhabener Gemüthsstimmung durch diese ihnen dargebotene Idee der Freiheit
sich für allen Fehlschlag der Erkenntniß für entschädigt halten können. Die
Freiheit in allen ihren moralischen Widersprüchen und physischen Uebeln ist für
edle Gemüther ein unendlich interessanteres Schauspiel, als Wohlstand und
Ordnung ohne Freiheit, wo die Schafe geduldig dem Hirten folgen und der
selbstherrschende Wille sich zum dienstbaren Glied eines Uhrwerks herabsetzt.
Das letzte macht den Menschen bloß zu einem geistreichen Produkt und
glücklichern Bürger der Natur; die Freiheit macht ihn zum Bürger und
Mitherrscher eines höhern Systems, wo es unendlich ehrenvoller ist, den
untersten Platz einzunehmen, als in der physischen Ordnung den Reihen
anzuführen.
Aus diesem Gesichtspunkt betrachtet, und nur
aus diesem, ist mir die Weltgeschichte ein erhabenes Objekt. Die Welt, als
historischer Gegenstand, ist im Grunde nichts anders als der Conflikt der
Naturkräfte unter einander selbst und mit der Freiheit des Menschen, und den
Erfolg dieses Kampfes berichtet uns die Geschichte. So weit die Geschichte bis
jetzt gekommen ist, hat sie von der Natur (zu der alle Affekte im Menschen
gezählt werden müssen) weit größere Thaten zu erzählen, als von der
selbständigen Vernunft, und diese hat bloß durch einzelne Ausnahmen vom
Naturgesetz in einem Cato, Aristides, Phocion und ähnlichen Männern ihre Macht
behaupten können. Nähert man sich nur der Geschichte mit großen Erwartungen von
Licht und Erkenntniß – wie sehr findet man sich da getäuscht! Alle
wohlgemeinten Versuche der Philosophie, das, was die moralische Welt fordert,
mit dem, was die wirkliche leistet, in Uebereinstimmung zu bringen,
werden durch die Aussagen der Erfahrungen widerlegt, und so gefällig die Natur
in ihrem organischen Reich sich nach den regulativen Grundsätzen der
Beurtheilung richtet oder zu richten scheint, so unbändig reißt sie im Reich
der Freiheit den Zügel ab, woran der Spekulationsgeist sie gern gefangen führen
möchte.
Wie ganz anders, wenn man darauf resigniert, sie zu erklären,
und diese ihre Unbegreiflichkeit selbst zum Standpunkt der Beurtheilung macht!
Eben der Umstand, daß die Natur, im Großen angesehen, aller Regeln, die wir
durch unsern Verstand ihr vorschreiben, spottet, daß sie auf ihrem
eigenwilligen freien Gang die Schöpfungen der Weisheit und des Zufalls mit
gleicher Achtlosigkeit in den Staub tritt, daß sie das Wichtige wie das
Geringe, das Edle wie das Gemeine in einem Untergang mit sich fortreißt,
daß sie hier eine Ameisenwelt erhält, dort ihr herrlichstes Geschöpf, den
Menschen, in ihre Riesenarme faßt und zerschmettert, daß sie ihre mühsamsten
Erwerbungen oft in einer leichtsinnigen Stunde verschwendet und an einem Werk
der Thorheit oft Jahrhunderte lang baut – mit einem Wort – dieser Abfall
der Natur im Großen von den Erkenntnißregeln, denen sie in ihren einzelnen
Erscheinungen sich unterwirft, macht die absolute Unmöglichkeit sichtbar, durch
Natur-gesetze die Natur selbst zu erklären und von ihrem Reiche gelten
zu lassen, was in ihrem Reiche gilt, und das Gemüth wird also
unwiderstehlich aus der Welt der Erscheinungen heraus in die Ideenwelt, aus dem
Bedingten ins Unbedingte getrieben.
Noch viel weiter als die sinnlich unendliche führt uns
die furchtbare und zerstörende Natur, so lange wir nämlich bloß freie
Betrachter derselben bleiben. Der sinnliche Mensch freilich und die
Sinnlichkeit in dem vernünftigen fürchten nichts so sehr, als mit dieser Macht
zu zerfallen, die über Wohlsein und Existenz zu gebieten hat.
Das höchste Ideal, wornach wir ringen, ist, mit der
physischen Welt, als der Bewahrerin unserer Glückseligkeit, in gutem Vernehmen
zu bleiben, ohne darum genöthigt zu sein, mit der moralischen zu brechen, die
unsere Würde bestimmt. Nun geht es aber bekanntermaßen nicht immer an, beiden
Herren zu dienen, und wenn auch (ein fast unmöglicher Fall) die Pflicht mit dem
Bedürfnisse nie in Streit gerathen sollte, so geht doch die Natur-nothwendigkeit
keinen Vertrag mit dem Menschen ein, und weder seine Kraft noch seine
Geschicklichkeit kann ihn gegen die Tücke der Verhängnisse sicher stellen. Wohl
ihm also, wenn er gelernt hat, zu ertragen, was er nicht ändern kann, und
preiszugeben mit Würde, was er nicht retten kann! Fälle können eintreten, wo
das Schicksal alle Außenwerke ersteigt, auf die er seine Sicherheit gründete,
und ihm nichts weiter übrig bleibt, als sich in die heilige Freiheit der
Geister zu flüchten; wo es kein anderes Mittel gibt, den Lebenstrieb zu
beruhigen, als es zu wollen, und kein anderes Mittel, der Macht der Natur zu
widerstehen, als ihr zuvorzukommen und durch eine freie Aufhebung alles
sinnlichen Interesse, ehe noch eine physische Macht es thut, sich moralisch zu
entleiben.
Dazu nun stärken ihn erhabene Rührungen und ein
öfterer Umgang mit der zerstörenden Natur, sowohl da, wo sie ihm ihre
verderbliche Macht bloß von ferne zeigt, als wo sie sie wirklich gegen seine
Mitmenschen äußert. Das Pathetische ist ein künstliches Unglück, und wie das
wahre Unglück setzt es uns in unmittelbaren Verkehr mit dem
Geistergesetz, das in unserm Busen gebietet. Aber das wahre Unglück wählt
seinen Mann und seine Zeit nicht immer gut; es überrascht uns oft wehrlos, und
was noch schlimmer ist, es macht uns oft wehrlos. Das künstliche
Unglück des Pathetischen hingegen findet uns in voller Rüstung, und weil es
bloß eingebildet ist, so gewinnt das selbständige Principium in unserm Gemüthe
Raum, seine absolute Independenz zu behaupten. Je öfter nun der Geist diesen
Akt von Selbstthätigkeit erneuert, desto mehr wird ihm derselbe zur Fertigkeit,
einen desto größern Vorsprung gewinnt er vor dem sinnlichen Trieb, daß er
endlich auch dann, wenn aus dem eingebildeten und künstlichen Unglück ein
ernsthaftes wird, im Stande ist, es als ein künstliches zu behandeln und – der
höchste Schwung der Menschennatur! – das wirkliche Leiden in eine erhabene
Rührung aufzulösen. Das Pathetische, kann man daher sagen, ist eine Inoculation
des unvermeidlichen Schicksals, wodurch es seiner Bösartigkeit beraubt und der
Angriff desselben auf die starke Seite des Menschen hingeleitet wird.
Also hinweg mit der falsch verstandenen Schonung und
dem schlaffen verzärtelten Geschmack, der über das ernste Angesicht der
Nothwendigkeit einen Schleier wirft und, um sich bei den Sinnen in Gunst zu
setzen, eine Harmonie zwischen dem Wohlsein und Wohlverhalten lügt,
wovon sich in der wirklichen Welt keine Spuren zeigen! Stirne gegen Stirn zeige
sich uns das böse Verhängniß. Nicht in der Unwissenheit der uns umlagernden
Gefahren – denn diese muß doch endlich aufhören – nur in der Bekanntschaft
mit denselben ist Heil für uns. Zu dieser Bekanntschaft nun verhilft uns das
furchtbar herrliche Schauspiel der alles zerstörenden und wieder erschaffenden
und wieder zerstörenden Veränderung, des bald langsam untergrabenden, bald
schnell überfallenden Verderbens, verhelfen uns die pathetischen Gemälde der
mit dem Schicksal ringenden Menschheit, der unaufhaltsamen Flucht des Glücks,
der betrogenen Sicherheit, der triumphierenden Ungerechtigkeit und der
unterliegenden Unschuld, welche die Geschichte in reichem Maß aufstellt und die
tragische Kunst nachahmend vor unsere Augen bringt. Denn wo wäre Derjenige,
der, bei einer nicht ganz verwahrlosten moralischen Anlage, von dem
hartnäckigen und doch vergeblichen Kampf des Mithridat, von dem Untergang der
Städte Syrakus und Karthago lesen und bei solchen Scenen verweilen kann, ohne
dem ernsten Gesetz der Nothwendigkeit mit einem Schauer zu huldigen, seinen
Begierden augenblicklich den Zügel anzuhalten und, ergriffen von dieser ewigen
Untreue alles Sinnlichen, nach dem Beharrlichen in seinem Busen zu greifen? Die
Fähigkeit, das Erhabene zu empfinden, ist also eine der herrlichsten Anlagen in
der Menschennatur, die sowohl wegen ihres Ursprungs aus dem selbständigen Denk-
und Willensvermögen unsre Achtung, als wegen ihres Einflusses auf den
moralischen Menschen die vollkommenste Entwicklung verdient. Das Schöne macht
sich bloß verdient um den Menschen, das Erhabene um den reinen Dämon
in ihm; und weil es einmal unsre Bestimmung ist, auch bei allen sinnlichen
Schranken uns nach dem Gesetzbuch reiner Geister zu richten, so muß das
Erhabene zu dem Schönen hinzukommen, um die ästhetische Erziehung zu
einem vollständigen Ganzen zu machen und die Empfindungsfähigkeit des
menschlichen Herzens nach dem ganzen Umfang unsrer Bestimmung, und also auch
über die Sinnenwelt hinaus, zu erweitern.
Ohne das Schöne würde zwischen unsrer Naturbestimmung
und unsrer Vernunftbestimmung ein immerwährender Streit sein. Ueber dem
Bestreben, unserm Geisterberuf Genüge zu leisten, würden wir unsere Menschheit
versäumen und, alle Augenblicke zum Aufbruch aus der Sinnenwelt gefaßt, in
dieser uns einmal angewiesenen Sphäre des Handelns beständig Fremdlinge
bleiben. Ohne das Erhabene würde uns die Schönheit unsrer Würde vergessen
machen. In der Erschlaffung eines ununterbrochenen Genusses würden wir die
Rüstigkeit des Charakters einbüßen und, an diese zufällige Form des
Daseins unauflösbar gefesselt, unsere unveränderliche Bestimmung und unser
wahres Vaterland aus den Augen verlieren. Nur wenn das Erhabene mit dem Schönen
sich gattet und unsere Empfänglichkeit für beides in gleichem Maß ausgebildet
worden ist, sind wir vollendete Bürger der Natur, ohne deßwegen ihre Sklaven zu
sein und ohne unser Bürgerrecht in der intelligibeln Welt zu verscherzen.
Nun stellt zwar schon die Natur für sich allein
Objekte in Menge auf, zu denen sich die Empfindungsfähigkeit für das Schöne und
Erhabene üben könnte; aber der Mensch ist, wie in andern Fällen, so auch hier,
von der zweiten Hand besser bedient, als von der ersten, und will lieber einen
zubereiteten und auserlesenen Stoff von der Kunst empfangen, als an der
unreinen Quelle der Natur mühsam und dürftig schöpfen. Der nachahmende
Bildungstrieb, der keinen Eindruck erleiden kann, ohne sogleich nach
einem lebendigen Ausdruck zu streben, und in jeder schönen oder großen
Form der Natur eine Ausforderung erblickt, mit ihr zu ringen, hat vor derselben
den großen Vortheil voraus, dasjenige als Hauptzweck und als ein eigenes Ganzes
behandeln zu dürfen, was die Natur – wenn sie es nicht gar absichtlos hinwirft
– bei Verfolgung eines ihr näher liegenden Zwecks bloß im Vorbeigehen mitnimmt.
Wenn die Natur in ihren schönen organischen Bildungen entweder durch die
mangelhafte Individualität des Stoffes oder durch Einwirkung heterogener Kräfte
Gewalt erleidet, oder wenn sie, in ihren großen und pathetischen Scenen,
Gewalt ausübt und als eine Macht auf den Menschen wirkt, da sie doch
bloß als Objekt der freien Betrachtung ästhetisch werden kann, so ist ihre
Nachahmerin, die bildende Kunst, völlig frei, weil sie von ihrem Gegenstand
alle zufälligen Schranken absondert, und läßt auch das Gemüth des Betrachters
frei, weil sie nur den Schein und nicht die Wirklichkeit
nachahmt. Da aber der ganze Zauber des Erhabenen und Schönen nur in dem Schein
und nicht in dem Inhalt liegt, so hat die Kunst alle Vortheile der Natur, ohne
ihre Fesseln mit ihr zu theilen.