Friedrich Nietzsche: Der Bauernaufstand des Geistes
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Friedrich Nietzsche
Die fröhliche Wissenschaft, 358
Der Bauernaufstand des Geistes. – Wir Europäer befinden
uns im Anblick einer ungeheuren Trümmerwelt, wo einiges noch hoch ragt, wo
vieles morsch und unheimlich dasteht, das meiste aber schon am Boden liegt,
malerisch genug – wo gab es je schönere Ruinen? – und überwachsen mit großem
und kleinem Unkraute. Die Kirche ist diese Stadt des Untergangs: wir sehen die
religiöse Gesellschaft des Christentums bis in die untersten Fundamente
erschüttert – der Glaube an Gott ist umgestürzt, der Glaube an das
christlich-asketische Ideal kämpft eben noch seinen letzten Kampf. Ein solches
lang und gründlich gebautes Werk wie das Christentum – es war der letzte
Römerbau! – konnte freilich nicht mit einem Male zerstört werden; alle Art
Erdbeben hat da rütteln, alle Art Geist, die anbohrt, gräbt, nagt, feuchtet,
hat da helfen müssen. Aber was das Wunderlichste ist: die, welche sich am
meisten darum bemüht haben, das Christentum zu halten, zu erhalten, sind gerade
seine besten Zerstörer geworden – die Deutschen. Es scheint, die Deutschen
verstehen das Wesen einer Kirche nicht. Sind sie dazu nicht geistig genug?
nicht mißtrauisch genug? Der Bau der Kirche ruht jedenfalls auf einer südländischen Freiheit
und Freisinnigkeit des Geistes und ebenso auf einem südländischen Verdachte
gegen Natur, Mensch und Geist – er ruht auf einer ganz andren Kenntnis des
Menschen, Erfahrung vom Menschen, als der Norden gehabt hat. Die Luthersche
Reformation war in ihrer ganzen Breite die Entrüstung der Einfalt gegen etwas
»Vielfältiges«, um vorsichtig zu reden, ein grobes, biederes Mißverständnis, an
dem viel zu verzeihen ist – man begriff den Ausdruck einer siegreichen Kirche
nicht und sah nur Korruption, man mißverstand die vornehme Skepsis, jenen Luxus von
Skepsis und Toleranz, welchen sich jede siegreiche, selbstgewisse Macht gestattet...
Man übersieht heute gut genug, wie Luther in allen kardinalen Fragen der Macht
verhängnisvoll kurz, oberflächlich, unvorsichtig angelegt war, vor allem als
Mann aus dem Volke, dem alle Erbschaft einer herrschenden Kaste, aller Instinkt
für Macht abging: so daß sein Werk, sein Wille zur Wiederherstellung jenes
Römer-Werks, ohne daß er es wollte und wußte, nur der Anfang eines
Zerstörungswerkes wurde. Er dröselte auf, er riß zusammen, mit ehrlichem
Ingrimme, wo die alte Spinne am sorgsamsten und längsten gewoben hatte. Er
lieferte die heiligen Bücher an jedermann aus – damit gerieten sie endlich in
die Hände der Philologen, das heißt der Vernichter jeden Glaubens, der auf
Büchern ruht. Er zerstörte den Begriff »Kirche«, indem er den Glauben an die
Inspiration der Konzilien wegwarf: denn nur unter der Voraussetzung, daß der
inspirierende Geist, der die Kirche gegründet hat, in ihr noch lebe, noch baue,
noch fortfahre, sein Haus zu bauen, behält der Begriff »Kirche« Kraft. Er gab
dem Priester den Geschlechtsverkehr mit dem Weibe zurück:[230] aber
drei Viertel der Ehrfurcht, deren das Volk, vor allem das Weib aus dem Volke
fähig ist, ruht auf dem Glauben, daß ein Ausnahme-Mensch in diesem Punkte auch
in andren Punkten eine Ausnahme sein wird – hier gerade hat der Volksglaube an
etwas Übermenschliches im Menschen, an das Wunder, an den erlösenden Gott im
Menschen, seinen feinsten und verfänglichsten Anwalt. Luther mußte dem
Priester, nachdem er ihm das Weib gegeben hatte, die Ohrenbeichte nehmen,
das war psychologisch richtig; aber damit war im Grunde der christliche
Priester selbst abgeschafft, dessen tiefste Nützlichkeit immer die gewesen ist,
ein heiliges Ohr, ein verschwiegener Brunnen, ein Grab für Geheimnisse zu sein.
»Jedermann sein eigner Priester« – hinter solchen Formeln und ihrer bäuerischen
Verschlagenheit versteckte sich bei Luther der abgründliche Haß auf den
»höheren Menschen« und die Herrschaft des »höheren Menschen«, wie ihn die
Kirche konzipiert hatte – er zerschlug ein Ideal, das er nicht zu erreichen
wußte, während er die Entartung dieses Ideals zu bekämpfen und zu verabscheuen
schien. Tatsächlich stieß er, der unmögliche Mönch, die Herrschaft der homines
religiosi von sich; er machte also gerade das selber innerhalb der
kirchlichen Gesellschafts-Ordnung, was er in Hinsicht auf die bürgerliche
Ordnung so unduldsam bekämpfte – einen »Bauernaufstand«. – Was hinterdrein
alles aus seiner Reformation gewachsen ist, Gutes und Schlimmes, und heute
ungefähr überrechnet werden kann – wer wäre wohl naiv genug, Luther um dieser
Folgen willen einfach zu loben oder zu tadeln? Er ist an allem unschuldig, er
wußte nicht was er tat. Die Verflachung des europäischen Geistes, namentlich im
Norden, seine Vergutmütigung, wenn mans lieber mit einem
moralischen Worte bezeichnet hört, tat mit der Lutherschen Reformation einen
tüchtigen Schritt vorwärts, es ist kein Zweifel; und ebenso wuchs durch sie die
Beweglichkeit und Unruhe des Geistes, sein Durst nach Unabhängigkeit, sein
Glaube an ein Recht auf Freiheit, seine »Natürlichkeit«. Will man ihr in
letzterer Hinsicht den Wert zugestehn, das vorbereitet und begünstigt zu haben,
was wir heute als »moderne Wissenschaft« verehren, so muß man freilich
hinzufügen, daß sie auch an der Entartung des modernen Gelehrten mitschuldig
ist, an seinem Mangel an Ehrfurcht, Scham und Tiefe, an der ganzen naiven
Treuherzigkeit und Biedermännerei in Dingen der Erkenntnis,[231] kurz
an jenem Plebejismus des Geistes, der den letzten beiden
Jahrhunderten eigentümlich ist und von dem uns auch der bisherige Pessimismus
noch keineswegs erlöst hat, – auch die »modernen Ideen« gehören noch zu diesem
Bauernaufstand des Nordens gegen den kälteren, zweideutigeren, mißtrauischeren
Geist des Südens, der sich in der christlichen Kirche sein größtes Denkmal
gebaut hat. Vergessen wir es zuletzt nicht, was eine Kirche ist, und zwar im
Gegensatz zu jedem »Staate«: eine Kirche ist vor allem ein Herrschafts-Gebilde,
das den geistigeren Menschen den obersten Rang sichert und an
die Macht der Geistigkeit soweit glaubt, um sich alle gröberen
Gewaltmittel zu verbieten – damit allein ist die Kirche unter allen Umständen
eine vornehmere Institution als der Staat. -
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