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Friedrich G. Scheuer: Abrieb

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Ulrich Schäfer-Newiger

Friedrich G. Scheuer: Abrieb. Gedichte, kurze Texte und Zeichnungen. München (Allitera Verlag) 2020; 201 Seiten. 16,90 Euro

Keusch dämmert der Morgen


Der Münchner Allitera Verlag hat jetzt ein weiteres, achtes, handwerklich gelungenes Buch von Friedrich G. Scheuer vorgelegt, einem Maler, der auch schreibt. Es enthält (einschließlich derjenigen auf dem Umschlag) 13 schwarz-weiße Zeichnungen (Kohle und Graphit auf Papier) sowie „kurze Texte und Gedichte“. Scheuer wurde 1936 geboren, studierte an der Akademie der bildenden Künste in München, ist Mitglied der schon 1946 gegründeten Künstlervereinigung ‚Neue Gruppe‘ und seit 2015 ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Künste (Abteilung Bildende Kunst).

Die graphischen Arbeiten des Malers Friedrich G. Scheuer im Buch sind nicht gegenständlich, sie „erzählen“ nichts, verzichten auf bildliche Wiedererkennbarkeit. Die weißen, von lebendigen Linien umrahmten Flächen auf grauem Hintergrund haben nichts Konstruktivistisches, erinnern zwar mitunter an organische Strukturen, können aber zu allen möglichen Assoziationen verführen oder auch nicht. Sie legen die Imagination des Betrachters nicht fest. Scheuer hat klugerweise seine graphischen Arbeiten nicht mit Titeln versehen, also keiner sprachlichen Deutungs- oder Verständnisrichtung unterworfen. Man kann es auch so formulieren: Er hat seine darstellerischen Arbeiten nicht der Sprache ausgeliefert.

Der, genauer: seiner Sprache ausgeliefert hat er freilich seine Vorstellungen über, man kann es so schreiben: Gott und die Welt, den Geist (kommt 9x in den Texten vor), dem Leib und der Seele (kommt einschließlich der Variante „Weltseele“ 12 x vor), vor allem auch: Sein Verständnis dessen, was nur Gegenstand von Kunst und Poesie sein kann, nämlich: das ‚ungeteilt Komplexe‘, ‚Das Unbestimmte, dieses ungeteilte Ganze‘ (S. 127, 128 z.B.), also nicht, lautet der Umkehrschluss, das Geteilte, Auseinanderfallende, das Fragment, dieses Sinnbild der Moderne.

Das Verhältnisses von Malerei zur Poesie wird indirekt behandelt, indem der Autor die Hände und deren Tun ins Verhältnis zum Denken und Sprechen, zur Sprache setzt. Als Maler arbeitet er natürlicherweise mit den Händen. Zwei Zitate sollen die Denk- und Schreibweise des Autors zu diesem Thema verdeutlichen:

Denken / unterschätzt die Kompetenz der Hände. Hände besorgen das Stoffliche, berühren, bauen, bevor Begriffe Welten verwalten. / Wörter schreiben sich den Fortschritt gut, vorbei an jenen Händen, die tastend Sinn begreifen und das Sein der Dinge, die Denken ins Freie treiben. // Hände sind angeboren. Sie handeln. (S. 55) Und: Die Sorgfalt / der genauen Hand / bringt den Dingen/ den Frieden.

In dem Buch gibt es ausschließlich solche belehrenden, Allgemeingültigkeit ansprechenden Aussagen und Texte. Ein lyrisches Ich, eine subjektive, etwa auch zweifelnde Position des Schreibens sucht man (außer im ersten Text des Bandes) vergeblich. Dass eine sorgfältig genaue Hand auch eine Handgranate werfen könnte (um nur ein Beispiel aus der konkreten Welt zu nennen), also auch zerstören kann, kommt dem Autor nicht in den Sinn. Denn er meint und will nur Gutes. So entpuppen sich die Texte als pseudophilosophische Behauptungen des Autors. Kopf und Denken wird gegen das praktische Tun der Hände zum Vorteil letzterer ausgespielt, (Sprache / spricht sich aus /  Wörter / brauchen Hände / zum gültigen Tun, S. 57) , wobei auch schiefe, widersprüchliche Bilder entstehen: Im Kopf / das Leergut verbrauchter Begriffe / die Hand / denkt stumm die Praxis , S. 58. Insgesamt hadert der Autor mit der Moderne, mit den Naturwissenschaften (Wir sehen ptolemäisch, wir wissen kopernikanisch. (S. 130), dazu an anderer Stelle: Ptolemäus warnt / tritt nicht über den Rand // bleib auf der Scheibe /das Schiff lass dem Lügner // der lauthals verkündet / die Erde sei rund. (S. 152). Ironisch ist das, wie der Kontext zeigt, nicht gemeint. So lässt er den Leser wissen, Kepler habe u.a. die Erde ans Messer geliefert zum präzisen Schnitt ins Genom (S 134). Er mokiert sich darüber, dass für die atomphysikalische Weltsicht ein Tisch ein atomares Gitter sein soll, eine Molekül-Bewegung, Durch Forschung Wirklichkeit. … Und seine mikrokosmische Struktur: belanglos, verglichen mit der Frau, die seine Platte schrubbt. (Seite 85). Weiter können wir zum Beispiel lesen: Seelen sublimieren. Seelen fransen aus. (S. 135). Oder: Dunkle Wörter legen Lunten ins Gespräch ...Wörter treten auf der Stelle, Tradition entsteht. (S. 133). Oder, als abschließendes Beispiel: Lautlos leer / entsteht die Welt / keusch / und ohne bunte Emotionen / dämmert der Morgen. (S. 100)

Alle Texte sind in diesem, zum Teil bewusst raunenden Sprachduktus gehalten. Anders als seine Hand beim Malen, benutzt der Autor die Sprache nicht kreativ. Sie dient ihm ganz traditionell als einfach-reflektiert gehandhabtes Instrument, um für ihn gültige Wahrheiten über Gott und die Welt (dem großen Ganzen) mit schlichten Wörtern und gewöhnlich zusammengesetzten Sätzen oder Satzteilen niederzuschreiben. Sie dient ihm nicht als Mittel, sich selbst, seine Weltsicht und seine Welterkennungs- und Erfassungsinstrumente, die Sprache nämlich und die Malerei, kritisch zu hinterfragen oder emanzipativ zu gebrauchen. Auf diese Gedanken kommt er gar nicht, belehrt er uns doch: Ja / öffnet Räume / Nein / schließt die Tore (Seite 8). Wir denken intuitiv andersherum, wenn wir uns um ein Verstehen bemühen: Seine Wurzel ist die Fähigkeit, nein sagen zu können (im Sinne von Susan Sontag). Verstehen sollen wir das Ganze indessen auch nicht.  Denn, meint der Autor: Das große Ganze aus Erdnatur und mythischer Spekulation ist ohnehin nicht zu verstehen (S. 86).

Die in den Texten des Malers erkennbare Gedankenwelt erinnert, sehr vereinfachend und positiv zusammengefasst, an eine – nur in Deutschland so genannte – ‚Lebensphilosophie‘, deren bekanntester Vertreter Henry Bergson war. Sie zeichnet sich besonders durch ihre Kritik an der szientistischen Technikgläubigkeit und rein naturwissenschaftlichen Weltsicht aus. Aber bei dem Autor F.G. Scheuer gewinnt man bisweilen den Eindruck, er wolle noch weiter in eine vorneuzeitliche Welt und Weltsicht zurück, in welcher der unmittelbaren Wahrnehmung (die Erde ist eine Scheibe) mehr Bedeutung eingeräumt wird, als der menschlichen Erkenntnisfähigkeit. Bei seinen Sinnspruchgedichten handelt es sich insoweit um rückwärtsgewandte Utopien.


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