Friederike Haerter: Im Zugwind flüchtender Tage
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Dirk Uwe Hansen
Friederike Haerter: Im Zugwind flüchtender Tage. München (Mitlesebuch
149 - Aphaia Verlag) 2022. 68 Seiten. 15,00 Euro.
die Zeichen standen kurz auf klar
Nicht nur einzelne Gedichte sollte man immer zweimal lesen,
auch Gedichtbände. Für meine Lektüre des Debutbandes von Friederike Haerter
gilt dies ganz besonders. Denn mein Erstkontakt mit den im Zugwind flüchtenden
Tagen fiel zusammen mit (wieder einmal) einer Debatte in den sozialen Medien
über Lyrik und was sie darf und muss und überhaupt ist und sein sollte. Auslöser
war (wieder einmal) Kritik an als „unzugänglich“ empfundenen Gedichten. So war
meine erste Lesung von Haerters Gedichten überschattet von der Beobachtung,
dass es sich hier um „zugängliche“ Gedichte handelt — als würde das irgendetwas
aussagen. Natürlich ist diese Kategorisierung müßig. Wenn „zugänglich“ heißt,
dass ein Gedicht einen Inhalt hat, der in Prosa wiedergegeben werden kann, und
in einer Sprache geschrieben ist, die von dem, was man uns in der Schule
beigebracht hat, nicht allzu weit entfernt ist — und das trifft für die
Gedichte dieses Bandes zu —, dann sagt das natürlich über die Qualität der
Texte noch gar nichts aus. Ein in diesem Sinne „zugängliches“ Gedicht kann mich
langweilen, wenn es nur mit ein paar wohlformulierten Schlüsselformulierungen
auf meine eigenen Erfahrungen oder Emotionen zielt und sie abruft, es kann mich
aber auch faszinieren, wenn es mich, wie Haerters Gedichte, dazu bringt, mich
auf den Text, also auf ein anderes, einzulassen. Das ist natürlich wieder eine
Kategorisierung, also probieren wir es einfach einmal aus:
OSTSEElass sein die Vergleichees gibt sie nur einmalbeschreib nicht ihr Treibenbinnen der Küstenverschweig ihr Verhältnisvon Salzen und Süßemsag nichts vom Entzugwenn du reist in den Südendu fremd gehst und Land suchstan anderen Meerenhalt dicht das Gewässerdas ruhig in dir liegtdich schaukelt und antreibtvon innen dich wiegtdas Spiegel ist Pegelein ständiger Rauschvertusch überspiel ihndoch schlaf ihn nie aus
Es geht sicher nicht nur mir so, dass allein die Erwähnung
und rudimentäre Beschreibung der Ostsee Emotionen und Vorstellungen triggert.
Aber das Gedicht präsentiert mir eben nicht einfach meine eigene Ostsee in
aufgehübschter Form, es zeigt mir, neben der inhärenten präzisen Beschreibung der
Ostsee als Brackwasser- und Binnenmeer von mäßiger Bewegtheit, auch eine andere
Ostsee, die nämlich, die die in dem Gedicht sprechende Person mit sich
herumträgt als eine Erinnerung von zwiespältiger Schönheit, als einen
schmerzhaften Rest eines vergangenen Enthusiasmus‘. Zugleich entsteht Spannung
in dem Text durch die anfängliche Forderung, nicht zu beschreiben, was dann
doch beschrieben wird, und durch den so schön schillernden Rausch, der, kurz
nachdem ich versucht war, ihn als wohlfeile und kitschig aufgeladene
Fertig-formulierung zu lesen, dann in der letzten Zeile auf den Boden der
Lebenswirklichkeit zurück-gesetzt wird; und dabei ist der Rausch, den man nicht
ausschläft und nicht ausschlafen soll, ein ganz großartiges Bild für dieses
nicht unironische Spannungsverhältnis zwischen dem Glück am kleinen Binnenmeer
und der schmerzhaften Nostalgie, die es hinterlässt.
Und bei all dem lässt der Text die Ostsee und das Gefühl,
das beim Treiben in ihrem Wasser entsteht, auch noch in seinem Rhythmus
anklingen: Wie Wellen unterschiedlicher Länge sich aufbauen und verfließen
entstehen die Verse, die bisweilen durch Assonanzen verbunden sind, jeweils
durch um ein choriambisches Element herum platzierte Silben (nur beim Aufbruch
in den Süden beschleunigt sich der Vers plötzlich durch einen anapästischen
Auftakt). Man kann sich dem Rhythmus hingeben, man kann aber auch noch weiter
analysieren: Die Beschreibung der Ostsee beginnt mit drei akephalen
Pherekrateen, gefolgt von einem Adoneus, danach löst sich diese Form wieder
auf; schöner als mit dieser Reminiszenz an die Strophen Sapphos kann man die
Ostsee nicht mit in den Süden nehmen.
Dass dieses Gedicht die Ostsee zum Thema hat, sie beschreibt
und dabei verständlich (und auch noch schön) ist, ist also wahr, aber nicht die
Hauptsache. Es gelingt Haerter in diesem Text mehr, als sich mit einer
prosaischen Inhaltsangabe wiedergeben lässt: Wir sehen gleichzeitig die Ostsee,
an die sich die hier sprechende Person erinnert und die Erinnerung selbst als
schmerz-haften, aber unverzichtbaren Rest eines Rausches im Kopf, der
mitgenommen werden muss, auch auf dem Weg „in den Süden“. Zugleich ahmt das
Gedicht durch Rhythmus und sparsamen Einsatz von Reimen und Assonanzen die
Bewegung der teilweise auseinanderstrebenden, teilweise an ihren Enden
verbundenen Wellen nach.
Beides, den sparsamen Einsatz von Rhythmen, Reimen und
Assonanzen, die den freien Versen einen geradezu materiellen Mehrwert verleihen
und die Spannung, die durch die gleich-zeitige Anwesenheit von (fast) idyllischem
Erinnerten und dem Schmerz, den die Erinnerung mit sich bringt und hinterlässt,
finden wir immer wieder in Haerters Gedichten und das macht sie mir so
wertvoll.
genügtedie Mühe das Grasmit der Harke so großwie ich selbstzusammenzukratzenrücklingszu fallen ein Nestzu ebnen zu atmenden Himmel zu sehngenügteein Handumdrehndem GartenEden zu entwachsen
Es ist ganz angemessen, dass das Erwachsenwerden in diesem
letzten Gedicht des Bandes als ein Entwachsen beschrieben wird. Denn dieser
Band lässt sich (wie passend für einen Debutband) auch als eine Art
Bildungsroman in Gedichten lesen, von der Kindheit in der Uckermark über die
Wanderjahre zwischen Rostock und Paris bis hin zu Schwangerschaft und der
Geburt des ersten Kindes; Pandemie und der Lockdown, in dem wir „die Tage / an
der Zimmerwand ankreiden“, lassen sich auch noch zur zeitlichen Verortung der
Texte heranziehen.
Bei den präzisen Beschreibungen in Haerters Gedichten
schwirrt mir immer wieder das dictum Paul Klees im Kopf herum: „Kunst bildet
nicht ab, Kunst macht sichtbar.“ Ob es die „Kindheit (verortet) / in Ucker und
Acker“ ist, das Meer, das in der Straße von Gibraltar „an seinen Leinen zerrt“,
Stühle, die „eisern schweigen“ in einem Park in Paris, oder das „Kind / das
sinkt in Richtung Welt“, Haerters Texte lassen uns mehr sehen als das scheinbar
Bekannte und schließen dabei immer auch den Schmerz, der dem Rausch der Freude
folgt und sich nicht ausschlafen lässt, mit ein.
Zum Abschluss ein Text, der mir besonders nahe ist. Wenn
meine Einschätzung der Sammlung als Bildungsroman richtig ist, befinden wir uns
am Beginn des Studiums in Rostock (aber das ist nur Spielerei, die Gedichte
können auch ohne biographistisches Stützwerk auf eigenen Beinen stehen).
Beschrieben wird die Begegnung mit Sappho (fr. 168b Voigt, um genau zu sein),
die -- so geht es bei Haerter eben -- die Augen öffnet und doch Dunkelheit
zurücklässt:
SAPPHOan der Tafel standen deine Verse kreidebleichwir rätselten und lasen in den Zeichen wie in Sternenals sie übersetzten zu uns und ihr Bild hergaben:der Mond im Kreise der Plejadendie Konstellationen deiner Einsamkeitein Kosmos tat sich auf vor unserm Augedie Zeichen standen kurz auf klarerloschen mit dem Gong der Stundeblieb deine tafelschwarze Nacht