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Franz Oberhofer: Drei Gedichte

Gedichte > Lyrik heute

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Franz Oberhofer
Drei Tiegedichte


TIGERSTREIFEN ÜBER DER WELT

Tigerstreifen über der Welt,
hinter Bambus regt sich mein Fell, rötlich-gelb,
von Nacht noch gestreift.
Schwärze zieht durch Dschungels Licht,
Streifen, flüsternde Schnurrhaare
umarmen mein Versteck.

Lautlos schlägt mein Herz, pocht im Dickicht.
Meine Zunge tastet nach Wasser,
Augen, gebettet auf Rinde, eingehüllt
in scharfes Gras.

Streifen – einer nur – wiegt hundert Jahre in sich,
vom Kaspischen Meer, wo der Wind
Salzkristalle mahlt, bis zu den Inseln, die
ihre Tiger vergessen haben.

Ein Sprung spaltet die Welt – zehn Meter lang:
von Kralle zu Genick – ein Universum.
Sekunden schließen sich um meine Fänge,
warten, bis der Duft des Blutes
aus den Augen weicht.

In den Schlupfwinkeln, den feuchtschattigen
Armen des Waldes, fange
ich mich selbst.



CHOR DER SCHILDKRÖTEN

Chor der Schildkröten,
aus Karniumfels geboren, vor Jahrmillionen:
aus Knochen-Kapsel, die
sich langsam durch Wasser schob,
in Zukunft Spuren von
Land, Meer, Flüssen und
tropischen Wäldern – Landkarten
des Überlebens.

Wir messen Zeit in Schichten von Horn und
Keratin, unsere Farben, gespiegelt in Flüssen, in
Meeren, wo Salz die Oberfläche bricht.
Wir riechen Erde, spüren Luft auf
unseren Nasenlöchern, des Wassers Stimmen,
deren Frequenzen unsere Panzer
durchdringen, tiefer und
langsamer als menschliche Sprachen.

Von oben nur Schilde, unten ein Netz aus
Knochen, Schild und Plastron.
Einer von uns, schwer wie die Abenteuer selbst,
harpuniert die Zeit, die
Lederschildkröte schlägt ihre Flossen im
Takt des Meeres.
Und wir alle, von den Seychellen bis Galápagos,
vergraben unsere Eier in den Sand, Jahr für
Jahr, wissend, dass
wir nichts als Zukunft unter
der Rüstung tragen.



AXOLOTL

Schleimig offene Kiemen, pulsierend
und amorph, Körper, ein
Rest aus dem Brackwasser der
Schöpfung, embryonal
und endgültig.
Alles beginnt hier, doch nichts
vollendet sich: Lächerliches, das sich
zu sterben weigert.

Fleisch, das nachwächst, als gäbe es kein
Gesetz der Hinfälligkeit.
Wir opfern Glieder, Träume, unsere
verlorenen Tage – er macht es neu,
schamloser Zyklus, wo wir nur
Strich sind.

Kalte Feuchte ohne Wärme,
Durchzug nur im zeitlosen Element.
Und doch: Augen, die
nichts sehen, durch uns hindurch
sehen, als seien wir Kulisse.

Axolotl: Gott des Nicht-Werdens, der
sich zu erheben weigert.
Wir suchen dessen Wunde und
finden unseren Verfall.


Gedichte aus dem Zyklus "Little John. Wildnis und Wandel".

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