Franz Kafka: Vom jüdischen Theater
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Franz Kafka
Vom jüdischen Theater
(im siebenten Quartheft)
Mit Ziffern
und mit Statistiken werde ich mich im Folgenden nicht abgeben; die überlasse
ich den Geschichtsschreibern des jüdischen Theaters. Meine Absicht ist ganz
einfach: einige Blätter Erinnerungen an das jüdische Theater mit seinen Dramen,
seinen Schauspielern, seinem Publikum, so wie ich das alles in mehr als zehn
Jahren gesehen, gelernt und mitgemacht habe, hier vorzulegen oder, anders
gesagt, den Vorhang zu heben und die Wunde zu zeigen. Nur nach Erkenntnis der
Krankheit läßt sich ein Heilmittel finden und möglicherweise das wahre jüdische
Theater schaffen.
I
Für meine
frommen chassidischen Eltern in Warschau war natürlich das Theater ›trefe‹,
nicht anders als ›chaser‹. Nur zu Purim gab es ein Theater, denn dann klebte
Vetter Chaskel einen großen schwarzen Bart auf sein kleines blondes Bärtchen,
zog den Kaftan verkehrt an und spielte einen lustigen Handelsjuden – meine
kleinen Kinderaugen haben sich von ihm nicht wenden können. Von allen Vettern
war er mir der liebste, sein Beispiel ließ mir keine Ruhe und, kaum acht Jahre
alt, habe ich schon im Cheder wie Vetter Chaskel gespielt. War der Rebbe fort,
dann war im Cheder regelmäßig Theater, ich war Direktor, Regisseur, kurz alles,
auch die Prügel, die ich dann vom Rebbe bekam, waren die größten. Aber das
störte uns nicht; der Rebbe hat geprügelt, wir aber haben doch jeden Tag andere
Theaterspiele ausgedacht. Und das ganze Jahr war nur ein Hoffen und Beten:
Purim möge kommen und ich soll wieder zusehn dürfen, wie Vetter Chaskel sich
maskiert. Daß ich dann, sobald ich erwachsen bin, auch jeden Purim mich
maskieren und singen und tanzen werde, wie Vetter Chaskel – das stand bei
mir fest.
Daß man sich
aber auch außer Purim maskiert und daß es noch viele Künstler wie Vetter
Chaskel gibt, davon allerdings ahnte ich nichts. Bis ich einmal von Isruel
Feldscher's Buben hörte, daß es wirklich Theater gibt, wo man spielt und singt und
sich maskiert und jeden Abend, nicht nur Purim, und daß es auch in Warschau
solche Theater gibt und daß sein Vater ihn schon einigemal ins Theater
mitgenommen hat. Diese Neuigkeit hat mich – ich war damals ungefähr zehn
Jahre alt – geradezu elektrisiert. Ein heimliches nie geahntes Verlangen
ergriff mich. Ich zählte die Tage, die noch vergehen mußten, bis ich erwachsen
war und endlich selbst das Theater sehen durfte. Damals wußte ich noch nicht
einmal, daß das Theater eine verbotene und sündhafte Sache ist. Bald erfuhr
ich, daß sich gegenüber dem Rathaus das ›Große Theater‹ befindet, das beste,
das schönste von ganz Warschau, ja von der ganzen Welt. Von da an hat mich
schon der äußerliche Anblick des Gebäudes, wenn ich dort vorüberging, förmlich
geblendet. Als ich mich aber einmal zu Hause erkundigte, wann wir endlich ins
Große Theater gehen werden, hat man mich angeschrien: ein jüdisches Kind darf
vom Theater nichts wissen; das ist nicht erlaubt; das Theater ist nur für die
Gojim und für die Sünder da. Diese Antwort genügte mir, ich fragte nicht
weiter, aber Ruhe gab es mir nicht mehr, und ich fürchtete sehr, daß ich diese
Sünde gewiß einmal begehn und, wenn ich älter sein werde, doch ins Theater
werde gehen müssen.
Als ich
einmal am Abend nach Jom Kippur mit zwei Vettern am Großen Theater vorbeifuhr,
auf der Theaterstraße viele Leute waren und ich von dem ›unreinen‹ Theater gar
nicht wegsehn konnte, fragte mich Vetter Majer: »Wolltest du auch dort oben
sein?« Ich schwieg. Mein Schweigen gefiel ihm wahrscheinlich nicht und er fügte
deshalb hinzu: »Jetzt, Kind, ist kein einziger Jud dort – bewahre der
Himmel! Abend gleich nach Jom Kippur geht selbst der schlimmste Jud nicht ins
Theater.« Dem entnahm ich aber nichts anderes, als daß zwar nach dem Ausgang
des heiligen Jom Kippur kein Jude ins Theater geht, daß aber an den
gewöhnlichen Abenden das ganze Jahr hindurch wohl viele Juden hingehn. In
meinem vierzehnten Lebensjahr war ich zum erstenmal im Großen Theater. So wenig
ich auch von der Landessprache gelernt hatte, so konnte ich doch schon die
Plakate lesen und da las ich eines Tages, daß die Hugenotten gespielt werden.
Von Hugenotten hatte man schon in der ›Klaus‹ gesprochen, auch war das Stück
von einem Juden ›Meier Beer‹ – und so gab ich mir selbst die Erlaubnis,
kaufte eine Karte und am Abend war ich zum erstenmal im Leben im Theater.
Was ich
damals sah und fühlte, gehört nicht hierher, nur das eine: daß ich zur
Überzeugung kam, man singe dort besser als Vetter Chaskel und maskiere sich
auch viel schöner als er. Und noch eine Überraschung brachte ich mit: die
Ballettmusik der Hugenotten hatte ich ja schon längst gekannt, die Melodien
sang man ja in der ›Klaus‹ Freitag abends zum Lecho Dodi. Und ich konnte mir
damals nicht erklären, wie es möglich sei, daß man im Großen Theater das
spiele, was man in der ›Klaus‹ schon so lange singt. Von damals an wurde ich in
der Oper ein häufiger Gast. Nur durfte ich nicht vergessen, zu jeder
Vorstellung einen Kragen und ein Paar Manschetten zu kaufen und sie auf dem
Nachhauseweg in die Weichsel zu werfen. Meine Eltern durften solche Dinge nicht
sehen. Während ich mich an ›Wilhelm Tell‹ und ›Aida‹ sättigte, waren meine
Eltern im sichern Glauben, ich säße in der ›Klaus‹ über den Talmudfolianten und
studiere die heilige Schrift.
II
Einige Zeit
nachher erfuhr ich, daß es auch ein jüdisches Theater gibt. Wie gern ich aber
auch hingegangen wäre, ich getraute mich nicht, denn es hätte meinen Eltern
allzu leicht verraten werden können. Ins Große Theater zur Oper dagegen ging
ich häufig und später auch in das polnische dramatische Theater. In letzterem
habe ich zum erstenmal die ›Räuber‹ gesehn. Sehr überrascht hat es mich, daß
man auch so schön Theater spielen kann ohne Gesang und Musik – das hätte
ich nie gedacht – und merkwürdigerweise war ich dem Franz nicht böse,
vielmehr hat er den größten Eindruck auf mich gemacht, ihn hätte ich gern
gespielt, nicht den Karl.
Von den
Kameraden in der ›Klaus‹ war ich der einzige, der es gewagt hat, ins Theater zu
gehn. Im übrigen aber haben wir Burschen in der ›Klaus‹ uns schon mit allen,
aufgeklärten Büchern gefüttert, damals las ich zum erstenmal Shakespeare,
Schiller, Lord Byron. Von der jiddischen Literatur kamen mir allerdings nur die
großen Kriminalromane in die Hand, die uns Amerika in einer halb deutschen,
halb jiddischen Sprache lieferte. Eine kurze Zeit verstrich, mir gab's keine
Ruhe: ein jüdisches Theater in Warschau, und ich soll es nicht sehn? Und ich
habe es riskiert, alles auf die Karte gesetzt und ich bin ins jüdische Theater
gegangen.
Das hat mich
ganz umgewandelt. Schon vor Beginn des Spiels habe ich mich ganz anders gefühlt
als bei ›jenen‹. Vor allem keine Herren in Frack, keine Damen im Decollete,
kein Polnisch, kein Russisch, nur Juden aller Art, langgekleidete,
kurzgekleidete, Frauen und Mädchen, bürgerlich angezogen. Und man sprach laut
und ungeniert in der Muttersprache, ich bin niemandem aufgefallen mit meinem
langen Kaftänchen und mußte mich gar nicht schämen.
Gespielt hat
man ein komisches Drama mit Gesang und Tanz in sechs Akten und zehn Bildern:
Bal-Tschuwe von Schumor. Angefangen hat man nicht so pünktlich um acht Uhr wie
im polnischen Theater, sondern erst gegen zehn Uhr und geendet erst spät nach
Mitternacht. Der Liebhaber und der Intrigant haben ›hoch-deutsch‹ gesprochen
und ich habe gestaunt, daß ich auf einmal – ohne von der deutschen Sprache
eine Ahnung zu haben – so vortreffliches Deutsch so gut verstehen konnte.
Nur der Komiker und die Soubrette haben jiddisch gesprochen. Im allgemeinen hat
es mir besser gefallen als die Oper, das dramatische Theater und die Operette
zusammengenommen. Denn erstens war es doch jiddisch, deutsch-jiddisch zwar,
aber doch jiddisch, ein besseres, schöneres Jiddisch, und zweitens war doch
hier alles beisammen: Drama, Tragödie, Gesang, Komödie, Tanz, alles beisammen,
das Leben! Die ganze Nacht habe ich vor Aufregung nicht geschlafen, das Herz
sagte mir, daß auch ich einst im Tempel der jüdischen Kunst dienen, daß ich ein
jüdischer Schauspieler werden soll.
Nächsten Tag
aber nachmittags schickte der Vater die Kinder ins Nebenzimmer, nur die Mutter
und mich hieß er bleiben. Instinktiv fühlte ich, daß hier eine ›Kasche‹ für
mich gekocht wird. Der Vater sitzt nicht mehr; immer nur geht er im Zimmer auf
und ab; die Hand am kleinen schwarzen Bart spricht er, nicht zu mir, sondern
nur zur Mutter: »Du sollst wissen: er wird von Tag zu Tag schlimmer, gestern
hat man ihn im jüdischen Theater gesehn.« Die Mutter faltet erschrocken die
Hände, der Vater, ganz bleich, geht fortwährend im Zimmer auf und ab, mir
krampft sich das Herz, wie ein Verurteilter sitze ich, ich kann den Schmerz
meiner treuen frommen Eltern nicht ansehn. Ich kann mich heute nicht mehr
erinnern, was ich damals sagte, nur das weiß ich, daß nach einigen Minuten
gedrückten Schweigens der Vater seine großen schwarzen Augen auf mich gerichtet
und gesagt hat: »Mein Kind, gedenk, das wird dich weit, sehr weit
führen« – und er hat recht gehabt.
Schließlich
war nur noch einer außer mir im Wirtshaus geblieben. Der Wirt wollte schließen
und bat mich zu zahlen. »Dort sitzt noch einer«, sagte ich mürrisch, weil ich
einsah, daß es Zeit wäre zu gehn, aber keine Lust hatte, weg- oder überhaupt
irgendwo hinzugehn. »Das ist die Schwierigkeit«, sagte der Wirt, »ich kann mich
mit dem Mann nicht verständigen. Wollt Ihr mir helfen?« »Hallo«, rief ich
zwischen den hohlen Händen durch, aber der Mann rührte sich nicht, sondern sah
still wie bisher von der Seite in sein Bierglas.
Es war schon
spät nachts, als ich am Tore läutete. Lange dauerte es, ehe, offenbar aus der
Tiefe des Hofs, der Kastellan hervorkam und öffnete.
»Der Herr
läßt bitten«, sagte der Diener, sich verbeugend und öffnete mit geräuschlosem
Ruck die hohe Glastür. Der Graf in halb fliegendem Schritt eilte mir von seinem
Schreibtisch, der beim offenen Fenster stand, entgegen. Wir sahen einander in
die Augen, der starre Blick des Grafen befremdete mich.
Vor einer
Mauer lag ich am Boden, wand mich vor Schmerz, wollte mich einwühlen in die
feuchte Erde. Der Jäger stand neben mir und drückte mir einen Fuß leicht ins
Kreuz. »Ein kapitales Stück«, sagte er zum Treiber, der mir den Kragen und Rock
durchschnitt, um mich zu befühlen. Meiner schon müde und nach neuen Taten
begierig, rannten die Hunde sinnlos gegen die Mauer an. Der Kutschwagen kam, an
Händen und Beinen gefesselt wurde ich neben den Herrn über den Rücksitz
geworfen, so daß ich mit Kopf und Armen außerhalb des Wagens niederhing. Die
Fahrt ging flott, verdurstend mit offenem Mund sog ich den hochgewirbelten
Staub in mich, hie und da spürte ich den freudigen Griff des Herrn an meinen
Waden.
Was trag ich
auf meinen Schultern? Was für Gespenster umhängen mich?
Es war ein
stürmischer Abend, ich sah den kleinen Geist aus dem Gebüsche kriechen.
Das Tor fiel
zu, ich stand ihm Aug in Auge.
Es zersprang
die Lampe, ein fremder Mann mit neuem Licht trat ein, ich erhob mich, meine
Familie mit mir, wir grüßten, es wurde nicht beachtet.
Die Räuber
hatten mich gefesselt und da lag ich nahe beim Feuer des Hauptmanns.
Öde Felder,
öde Fläche, hinter Nebeln das bleiche Grün des Mondes.
Er verläßt
das Haus, er findet sich auf der Straße, ein Pferd wartet, ein Diener hält den
Bügel, der Ritt geht durch hallende Öde.