Franz Kafka: Prometheus
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Franz Kafka
Prometheus
(1918)
Von Prometheus berichten vier Sagen: Nach der ersten wurde er, weil
er die Götter an die Menschen verraten hatte, am Kaukasus
festgeschmiedet, und die Götter schickten Adler, die von seiner immer
wachsenden Leber fraßen.
Nach der zweiten drückte sich Prometheus im Schmerz vor den
zuhackenden Schnäbeln immer tiefer in den Felsen, bis er mit ihm eins
wurde.
Nach der dritten wurde in den Jahrtausenden sein Verrat vergessen,
die Götter vergaßen, die Adler, er selbst. Nach der vierten wurde man
des grundlos Gewordenen müde. Die Götter wurden müde, die Adler wurden
müde, die Wunde schloß sich müde.
Blieb das unerklärliche Felsgebirge. – Die Sage versucht das
Unerklärliche zu erklären. Da sie aus einem Wahrheitsgrund kommt, muß
sie wieder im Unerklärlichen enden.
Das Gesetz der Quadrille ist klar, alle Tänzer kennen es, es gilt für
alle Zeiten. Aber irgend-eine der Zufälligkeiten des Lebens, die nie
geschehen durften, aber immer wieder geschehn, bringt dich allein
zwischen die Reihen. Vielleicht verwirren sich dadurch auch die Reihen
selbst, aber das weißt du nicht, du weißt nur von deinem Unglück.
17. Januar. Weg nach Oberklee. Einschränkung.
Im Teufel noch den Teufel achten.
18. Januar. Die Klage: Wenn ich ewig sein werde, wie werde ich morgen sein?
Wir sind von Gott beiderseitig getrennt: Der Sündenfall trennt uns von ihm, der Baum des Lebens trennt ihn von uns.
Wir sind nicht nur deshalb sündig, weil wir vom Baum der Erkenntnis
gegessen haben, sondern auch deshalb, weil wir vom Baum des Lebens noch
nicht gegessen haben. Sündig ist der Stand, in dem wir uns befinden,
unabhängig von Schuld.
Baum des Lebens – Herr des Lebens.
Wir wurden aus dem Paradies vertrieben, aber zerstört wurde es nicht.
Die Vertreibung aus dem Paradies war in einem Sinne ein Glück, denn
wären wir nicht vertrieben worden, hätte das Paradies zerstört werden
müssen.
Wir wurden geschaffen, um im Paradies zu leben, das Paradies war
bestimmt, uns zu dienen. Unsere Bestimmung ist geändert worden; daß dies
auch mit der Bestimmung des Paradieses geschehen wäre, wird nicht
gesagt.
Bis fast zum Ende des Berichtes vom Sündenfall bleibt es möglich, daß
auch der Garten Eden mit den Menschen verflucht wird. – Nur die
Menschen sind verflucht, der Garten Eden nicht.
Gott sagte, daß Adam am Tage, da er vom Baume der Erkenntnis essen
werde, sterben müsse. Nach Gott sollte die augenblickliche Folge des
Essens vom Baume der Erkenntnis der Tod sein, nach der Schlange
(wenigstens konnte man sie dahin verstehn) die göttliche Gleichwerdung.
Beides war in ähnlicher Weise unrichtig. Die Menschen starben nicht,
sondern wurden sterblich, sie wurden nicht Gott gleich, aber erhielten
eine unentbehrliche Fähigkeit, es zu werden. Beides war auch in
ähnlicher Weise richtig. Nicht der Mensch starb, aber der paradiesische
Mensch, sie wurden nicht Gott, aber das göttliche Erkennen.
Der trostlose Gesichtskreis des Bösen: schon im Erkennen des Guten
und Bösen glaubt er die Gottgleichheit zu sehn. Die Verfluchung scheint
an seinem Wesen nichts zu verschlimmern: mit dem Bauche wird er die
Länge des Weges ausmessen.
Das Böse ist eine Ausstrahlung des menschlichen Bewußtseins in
bestimmten Über-gangsstellungen. Nicht eigentlich die sinnliche Welt ist
Schein, sondern ihr Böses, das allerdings für unsere Augen die sinnliche
Welt bildet.
22. Januar. Versuch nach Michelob zu gehn. Kot.
Seit dem Sündenfall sind wir in der Fähigkeit zur Erkenntnis des
Guten und Bösen im Wesentlichen gleich; trotzdem suchen wir gerade hier
unsere besonderen Vorzüge. Aber erst jenseits dieser Erkenntnis beginnen
die wahren Verschiedenheiten. Der gegenteilige Schein wird durch
folgendes hervorgerufen: Niemand kann sich mit der Erkenntnis allein
begnügen, sondern muß sich bestreben, ihr gemäß zu handeln. Dazu aber
ist ihm die Kraft nicht mitgegeben, er muß daher sich zerstören, selbst
auf die Gefahr hin, sogar dadurch die notwendige Kraft nicht zu
erhalten, aber es bleibt ihm nichts anderes übrig, als dieser letzte
Versuch. (Das ist auch der Sinn der Todesdrohung beim Verbot des Essens
vom Baume der Erkenntnis; vielleicht ist das auch der ursprüngliche Sinn
des natürlichen Todes.) Vor diesem Versuch nun fürchtet er sich; lieber
will er die Erkenntnis des Guten und Bösen rückgängig machen (die
Bezeichnung ›Sündenfall‹ geht auf diese Angst zurück); aber das
Geschehene kann nicht rückgängig gemacht, sondern nur getrübt werden. Zu
diesem Zweck entstehen die Motivationen. Die ganze Welt ist ihrer voll,
ja die ganze sichtbare Welt ist vielleicht nichts anderes als eine
Motivation des einen Augenblick lang ruhenwollenden Menschen. Ein
Versuch, die Tatsache der Erkenntnis zu fälschen, die Erkenntnis erst
zum Ziel zu machen.
Aber unter allem Rauche ist das Feuer und der, dessen Füße brennen,
wird nicht dadurch erhalten bleiben, daß er überall nur dunklen Rauch
sieht.
Staunend sahen wir das große Pferd. Es durchbrach das Dach unserer
Stube. Der bewölkte Himmel zog sich schwach entlang des gewaltigen
Umrisses und rauschend flog die Mähne im Wind.
Der Standpunkt der Kunst und des Lebens ist auch im Künstler selbst ein verschiedener.
Die Kunst fliegt um die Wahrheit, aber mit der entschiedenen Absicht,
sich nicht zu ver-brennen. Ihre Fähigkeit besteht darin, in der dunklen
Leere einen Ort zu finden, wo der Strahl des Lichts, ohne daß dies
vorher zu erkennen gewesen wäre, kräftig aufgefangen werden kann.
Ein Glaube wie ein Fallbeil, so schwer, so leicht.
Der Tod ist vor uns, etwa wie im Schulzimmer an der Wand ein Bild der
Alexanderschlacht. Es kommt darauf an, durch unsere Taten noch in
diesem Leben das Bild zu verdunkeln oder gar auszulöschen.
Morgendämmerung 25. Januar.
Der Selbstmörder ist der Gefangene, welcher im Gefängnishof einen
Galgen aufrichten sieht, irrtümlich glaubt, es sei der für ihn
bestimmte, in der Nacht aus seiner Zelle ausbricht, hinuntergeht und
sich selbst aufhängt.
Erkenntnis haben wir. Wer sich besonders um sie bemüht, ist verdächtig, sich gegen sie zu bemühn.
Vor dem Betreten des Allerheiligsten mußt du die Schuhe ausziehen,
aber nicht nur die Schuhe, sondern alles, Reisekleid und Gepäck, und
darunter die Nacktheit und alles, was unter der Nacktheit ist, und
alles, was sich unter dieser verbirgt, und dann den Kern und den Kern
des Kerns, dann das übrige und dann den Rest und dann noch den Schein
des unvergänglichen Feuers. Erst das Feuer selbst wird vom
Allerheiligsten aufgesogen und läßt sich von ihm aufsaugen, keines von
beiden kann dem widerstehen.
Nicht Selbstabschüttelung, sondern Selbstaufzehrung.
Für den Sündenfall gab es drei Strafmöglichkeiten: die mildeste war
die tatsächliche, die Austreibung aus dem Paradies, die zweite:
Zerstörung des Paradieses, die dritte – und diese wäre die
schrecklichste Strafe gewesen –: Absperrung des ewigen Lebens und
unveränderte Belassung alles andern.
28. Januar. Eitelkeit, Selbstvergessenheit einige Tage.
Zwei Möglichkeiten: sich unendlich klein machen oder es sein. Das
zweite ist Vollendung, also Untätigkeit, das erste Beginn, also Tat.
Zur Vermeidung eines Wortirrtums: Was tätig zerstört werden soll, muß
vorher ganz fest gehalten worden sein; was zerbröckelt, zerbröckelt,
kann aber nicht zerstört werden.
A. konnte weder mit G. einträchtig leben, noch sich (scheiden)
lassen, deshalb erschoß er sich, er glaubte, auf diese Weise das
Unvereinbare vereinigen zu können, nämlich mit: sich selbst ›in die
Laube gehn‹.
›Wenn – –, mußt du sterben‹, bedeutet: Die Erkenntnis ist beides,
Stufe zum ewigen Leben und Hindernis vor ihm. Wirst du nach gewonnener
Erkenntnis zum ewigen Leben gelangen wollen – und du wirst nicht anders
können als es wollen, denn Erkenntnis ist dieser Wille –, so wirst du
dich, das Hindernis, zerstören müssen, um die Stufe, das ist die
Zerstörung, zu bauen. Die Vertreibung aus dem Paradies war daher keine
Tat, sondern ein Geschehen.