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Franz Hofner: Ein Knöchelchen, nicht mehr

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Franz Hofner

Ein Knöchelchen, nicht mehr


Ich schreibe mit der Hand in meinem Kopf. Das ist figürlich gesprochen, weil meine Hand nämlich die Duschtasse putzt und gerade nicht kann. Trotzdem schreibe ich fast immer. Aber nur fast. Das heißt, ich schreibe fast nur, während meine Hand anderes macht, machen muss, denn das muss sie fast immer. Ich wollte mit dem Anfang vor allem nur sagen, dass die Stimme in meinem Kopf nicht wie auf einer Tastatur tippt, sondern mit meiner Handschrift in meinem Kopf schreibt.
So stelle ich mir das vor, Schreiben mit der Hand, großer Unterschied zur Tastatur, wenn ich im Kopf schreibe, ein irrer Unterschied. Während ich putze, fühlt sich mein Kopf nicht wie ein Computer an, das wäre definitiv verrückt. Auch nicht wie Papier, das ist ein berechtigter Einwand. Da kratzt nichts, knistert nichts, während ich Scheuermilch einreibe, es gleitet sanft dahin. Am ehesten, glaube ich, schreibt die Stimme in meinem Kopf auf Wachs. War das nicht früher so, sehr viel früher, dass Schüler mit der Gänsefeder auf Wachs schrieben, auf kleine Täfelchen mit Bienenwachs-Überzug? Und zum Löschen fuhr man mit einem heißen Metallstab drüber? Ich bin nicht sicher, ob das stimmt. Vielleicht habe ich es nur irgendwo gelesen. Doch die Vorstellung meines Kopfes als duftender Bienenstock, mitten im Hirn die von emsigen Arbeitern umsorgte Königin, außen herum das fleißige Bauen an den Wachstäfelchen, die Vorstellung mag ich.
       Und schreiben würde ich mit einem Griffel oder einem Bleistift, so einem wie dem, der vorhin im Staub hinter dem Regal mit den Handtüchern lag. In Wirklichkeit wäre mein Stift jedoch geschnitzt aus dem Fingerknochen eines Toten, den ich abends eingegraben im Sand beim Brunnen fand. Und zuspitzte, indem ich ihn über einen groben Stein rieb. Das wäre mein magischer Stift, mit dem ich in die selbstgemachten und gut versteckten Wachstafeln schriebe, aber das dürfte keiner wissen, denn Knochen von Toten wären tabu und Frauen dürften damals sowieso nicht schreiben und ich würde aus dem Dorf ausgestoßen werden, wenn das jemand mitbekäme, deshalb hätte ich den zugespitzten Fingerknochen mit einem Gummi-artigen Band aus Vogelsehnen umwickelt, damit es niemand von den anderen Frauen merkte.
       Na ja. Manchmal merken sie es schon, die alten Frauen schnurren immer im Leisegang hinter mir her und kontrollieren und schnauzen mich an, ob ich gerade denke, dass ich fürs Löcher in die Luft Schauen bezahlt werde.
      Schreiben ist Verwandlung. Was schmutzig war, wird durch Aufschreiben sauber. Aber Verwandlung heißt, dass es eine Ecke gibt, irgendwo, die sich gleichbleibt. Es ist Arbeit an der Oberfläche, ein schlechtes Haus kann man noch so lange putzen, wenn die schlechte Laune drin haust und die bösen Gedanken schleichen, die riecht man hinterher genauso wie vorher. Wenn etwas durchs Schreiben oder durchs Putzen radikal anders würde, wüsste man hinterher nichts mehr von vorher. Ich wüsste es vielleicht noch, weil ich es gemacht hätte, aber ich verstünde es nicht mehr. Sowas passiert, beim Schreiben ist das gar nicht so selten, aber es ist keine Verwandlung mehr. Ich habe Dinge in meinem Kopf, die verstehe ich nicht im Allerkleinsten. Das ist nicht schlimm, es steht ja nur in meinem Kopf, ich schreibe ja nicht wirklich etwas auf, so gut wie nie, aber es existiert doch trotzdem? Es war nicht da, dann habe ich nachgedacht und es erschien und steht jetzt in den Wachstäfelchen in meinem Kopf, ich könnte es jemandem zeigen. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn das wirklich geschrieben wäre, in einem Buch stünde, sehr eigenartig. Ich stelle mir vor, dass das ungefähr so ist, wie wenn jemand berühmt wird, ich glaube, man erkennt sich nach kurzer Zeit nicht wieder. Man tappt wahrscheinlich hin und wieder in seinem alten Leben herum, notgedrungen, aber es fühlt sich an, stelle ich mir vor, wie die rechte Hand im linken Handschuh. Es reicht mir, wenn das Schreiben in meinem Kopf passiert.
     So leicht wird man ja auch nicht berühmt. Ein Buch, das keiner kauft, macht keine Berühmtheit. Die Schwelle zur Berühmtheit ist zum ersten Mal überschritten, vermute ich, während meine Hand die Scheuermilch in der Duschtasse abspült, wenn sich ein ohne Grund über Geldmittel verfügender Herr oder auch eine Dame nähert, sich für sein Reichsein oder das der Institution, die er oder sie vertritt, fast entschuldigt, größte Bewunderung für das schon gedruckte Werk ausdrückt und von der Hoffnung auf künftige Werke spricht, einen nicht mehr behindert sehen will von der niederen Sorge um Essen kaufen, Miete zahlen, den Friseur, wünscht, dass man sich dem fließenden Strom der Worte überlassen kann, befreit losschreiben, kaum dass die anfangs ungeschickten Finger auf der Tastatur dem Wirbel der Phantasie folgen können.
        So ginge das los, denke ich mir, ausgebremst vom Zitronenduft des WC-Reinigers, die Sorte, die ich gar nicht mag, und schon beim nächsten Buch würden der Herr oder die Dame vielleicht äußern, dass ihre weiteren Erwartungen nur von der Befürchtung gedämpft wären, dass der/die Schreibende, also natürlich ich, aber nicht gebückt den Belag kratzend im Klo-Topf, sondern mit einem dezenten, etwas abgetragenen Blazer, den Kopf im Lauschen schräg haltend, den bereits hie und da in manchen Texten vorhandenen Anzeichen für Langeweile – die beileibe nicht störend, im Gegenteil, reizender Teil des Stils und geradezu Sympathie-weckend wären – erliegen könnte. Und darum, vermutet meine endlich die Wasserhähne polierende Hand, möchte reiche Dame oder Herr dem hoffnungsvoll sich entwickelnden Schreiberling, also natürlich mir, anbieten, kraft seines Reichtums Reisen in die Ferne zu bezahlen, damit die Exotik der Umgebung die dem Zeitalter eingeschriebene Dürftigkeit an Gehalt, für die eine Autorin nichts könne, damit also die Inspiration der fernen Welt die hiesige übermalen möge. Dann, würde ich meinen, könnte man mit Recht zu sich sagen, ›Mädchen, du hast es geschafft!‹.
        Jeder Autor zeigt seine Potenz, vermute ich, während in den Eimer warmes Wasser für den Fußboden einläuft, erst an Reisebeschreibungen, in denen die heimatlichen Gegebenheiten überwunden sind. Im Gewand der Exotik können Dinge geheimnisvoll durchscheinen, so wie die zig-mal gesehenen immer gleichen Brüste junger Frauen hinter chinesischen Seidentüchern plötzlich Dinge versprechen, die ihnen hier vor Ort, unter dem Waschbecken wischend, jedenfalls nicht mehr anhaften.
       Na ja. Man müsste seine Sachen zu Papier bringen. Im hier und jetzt. Mit einer gewissen Länge, also Beharrlichkeit. Ob das nun auf Reisen meins wäre, das Schreiben? Man strolcht durch Städte oder sitzt, sagen wir, nicht pausierend mit Zigarette auf dem Balkon, sondern im Gebirge, nachts vor einer Hütte. Etwas kritzeln, Notizen, vielleicht den Anfang eines Gedichts, das ja, Gedichtanfänge kann ich. Aber was Längeres?
       Ich glaube nicht an Reisen. In der Fremde gehen mich die Dinge sehr viel weniger an als diejenigen, die dort nicht fremd sind. Was soll ich über fremde Sachen mit Herzblut schreiben können und hoffen, dass das besser ist als bei jemandem, dessen Herz dort in echt blutet? Das müsste schon die eigene Not oder Freude oder was immer sein, die ich in die Fremde mitschleppe und verklausuliere. Aber wie soll, frage ich mich, das, was mich angeht, dadurch gewinnen, dass ich es nach Thailand oder in die Arktis transportiere? Wenn mich etwas berühren würde, etwa die Öde des Putzens hier, wie sollte es berührender werden, wenn ich über Putzen in Thailand schriebe? Würde mir doch niemand abnehmen. Der einzige Vorteil ist, dass die Leser guten Gewissens übersehen dürfen, dass dem Autor in Wirklichkeit gar nichts am Fremden liegt, weil sie abgelenkt werden vom exotischen Drumherum.
       Ich glaube, ich wäre mir in der Fremde am gleichsten. Auch wenn ich zu Fuß durch Tibet zöge, ich könnte mir nirgendwo fremder sein als hier, in diesem Badezimmer. Es ist der Blick nach oben, der den Unterschied macht. Ob ich mich vor dem alten Grau in den Ecken ekle und aus mir rausziehe, oder mich vom Blick auf ferne Berge reinziehen lasse. Sich kennen lernen heißt sich fremd werden, das habe ich bei Kafka begriffen. Man kann sich die Fremde nicht aussuchen, sie lauert um die Ecke. Kafka nannte seine Verwandlung einmal eine eklige Geschichte. Als ich das las, wusste ich sofort, dass er vom Schreiben schreibt. Ich finde, sie hat großen Humor. Es fängt verschlafen an wie bei mir, das passiert oft, eigentlich bin ich erst vorhin bei der Duschtasse aufgewacht. Bei ihm liegt einer unten im Bett herum, er könnte genauso gut träge am Schreibtisch sitzen, in den Mustern seiner täglichen Arbeit blättern und eine andere Instanz kuckt von oben zu, hängt an der Decke und kann mit dem da unten nichts mehr anfangen. Und plötzlich weiß man nicht mehr, wer ist wer. Man hüpft hinauf und hinunter. Es gibt immer die andere Seite: das Umgehen mit den ekligen, schimmeligen Dingen, und das sich kopfüber Zuschauen dabei, von der Decke, nahe den Spinnweben überm Fenster. Ich bin das krumm-gebückte Wesen dort unten an den Fliesen und ich bin genauso das, nach dem seine Hände vorhin mit dem Besen hoch stocherten. Das ist alles richtig bei Kafka. Jedenfalls für mich.
      Es stimmt alles, weil ich die Hände wirklich nicht benutzen kann. Ich habe nämlich keine, meine sind verliehen, in einer anderen Welt beschäftigt. Ich bin nur ein Käfer, der träge in die Ecken krabbelt, sich Spinnweben überzieht. Dicker Kopf mit geknickten Fühlern, dünne Beinchen, ein Wesen, das abends kaum noch den Kopf drehen kann. Damit muss ich leben. Innen bin ich weich wie Wachs. Fläche zum Schreiben ist da, jede Menge. Was braucht man schon? Tagsüber werde ich mir immer ein Knöchelchen hinter einem Regal finden. Ich kann es zwischen die Vorderbeinchen klemmen, ich bin geduldig. Mehr brauche ich nicht, ich werde es an den Fliesen reiben, bis es spitz wie eine Feder ist.


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