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Franz Dodel: Nicht bei Trost. Mikrologien

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Jan Kuhlbrodt

Das große Ganze, und wir darin


Zu Franz Dodel: Nicht bei Trost
Mikrologien


In Halberstadt in Sachsen-Anhalt wird derzeit ein Musikstück von John Cage aufgeführt. ORGAN²/ASLSP. So langsam wie es geht, heißt das auf Deutsch. Und die Aufführung wird auch mehrere hundert Jahre dauern. Während die ersten Töne klingen, wird die Orgel fertiggestellt, auf der gespielt wird und auch die Kirche wird dabei saniert. An dieses Projekt musste ich bei der Dodel-Lektüre immer wieder denken.


Nicht bei Trost ist ein Mammutprojekt. Leider bin ich erst kürzlich darauf aufmerksam geworden, als ich die Ankündigung zu Mikrologien, dem jüngsten Band, las. Bei der Recherche dazu stolperte ich über die Aufnahme einer Diskussion im Rahmen des Lyrischen Quartetts des Münchner Lyrik Kabinetts, in welchem die Dichterin und Übersetzerin Anja Utler dieses Projekt gegen Anwürfe und akademistische Einwände Harald Hartungs verteidigte.
Hartung warf dem Text vor, nicht an jeder Stelle von höchster lyrischer Qualität zu sein. Nun kann man sich darüber streiten, was diese lyrischen Qualität ausmacht. Es lässt sich vermuten, dass ein etwas konservatives Dichtungsverständnis diese in der Bildhaftigkeit, in der Bildsprache findet. Metaphernbildung als Zentrum. Letzteres geht aber an Dodels Text vorbei. Obwohl er auf Metaphorik nicht verzichtet, nicht verzichten kann.

dieser Text versucht in Form
einer Umarmung
zu artikulieren was
stattfindet um mich
auf keine Art und Weise
will er Fenster sein
auf etwas anderes hin
es genügt ihm wenn die
Buchstaben Wörter werden


So heißt es auf Seite 247.

Zum zweiten Mal, dass mir in diesem Jahr ein langer Text begegnet, der auf eine japanische Kurzform zurückgreift. Der erste war der auf dieser Seite an anderer Stelle besprochene Carson-Zyklus Die Anthropologie des Wassers, der sich den Haibon gewählt hat. Hier also der Haiku, die hierzulande wohl bekannteste Form japanischer Dichtung.
Aber Dodel leiht sich vom Haiku letztlich nur das 5-7-5-Schema, das im europäischen und amerikanischen Raum mit Silben nachzuahmen versucht, was in Fernost Schriftzeichen leisten. Franz Dodel nennt das, was er macht, im 2008 erschienen Buch mit den Untertitel Haiku endlos, und unterläuft damit natürlich die Form, die sich in den schönsten Momenten als kristallines Kurzgedicht zeigt.

Bei ihm aber erzeugt die Silbenstruktur einen anderen, nicht zu unterschätzenden Effekt. Man begibt sich bei der intensiven Lektüre in eine Art Gebetshaltung.

ein unheimlicher
Zweitakt nahe am Luftrand
der setzt ihm den Leib
an die Stelle der Seele
und die Seele schiebt
sich an den Ort wo er denkt

Diese Passage entstammt dem 2008 erschienenen Band von Nicht bei Trost und beschreibt ganz gut, diese Haltung, die ich lesend einnehme.  
Aber diese Monotonie erzeugt beim Lesen auch eine Art inneres Schreiten, eine Bewegung die mich in die Lage versetzt, den Text aufzunehmen und innerlich geradezu zu erweitern. Allerdings wird dieser Prozess immer wieder unterbrochen durch Zitate auf den linken Buchseiten, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und den Text kommentieren, so wie sie vom Text selber kommentiert werden. Die Zitate bestehen auch aus Bildzitaten, was so viel bedeutet, als dass Dodel die Vorlagen (zuweilen Gemälde aber auch Fotografien) abgezeichnet hat.

Man kann, und das ist erstaunlich, an jeder Stelle in den Text einsteigen, als sei er weniger Linie als vielmehr eine Fläche, und ich bedaure, dass ich nicht das Vermögen besitze, rückwärts zu lesen.

Der neueste hier vorliegende Band von Nicht bei Trost heißt im Untertitel Mikrologien. Dieser Untertitel beschreibt ziemlich genau das was hier passiert. Das Fraktale, der sich endlos wiederholende Haiku, ergibt eine Art Weltgewebe. Unüberschaubar aber in jedem Moment formal dem Ganzen verpflichtet. So etwas schafft man wahrscheinlich nur, wenn man nicht ganz bei Trost ist, um noch einen Hartungschen Einwand aufzugreifen. Aber es tröstet. Mich zumindest.


Franz Dodel: Nicht bei Trost. Mikrologien. Wien (Edition Korrespondenzen) 2014. 612 Seiten. 30,00 Euro.

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