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Frank Schmitter: Drei Gedichte

Montags=Text
Foto: Katja Jakob
Frank Schmitter

Drei Gedichte


Der mann jenseits der sechzig
kam zu spät zur lesung
plumpste in den sitz den die dame um die fünfundsechzig
für ihn freigehalten hatte
sein leinenjackett trug ein gitterwerk aus falten wie sein gesicht
das bunte tuch kaschierte die altersflecken am hals
er atmete schwer vor zwanzig jahren saß niemand anderer als er
vorne an dem tisch an dem sich dieser jüngling gerade flegelte

begabt wie er gelesen hatte
stipendien-globetrotter literaturpreisliebling der saison
mit einer sich rattenartig vermehrenden bibliografie
wo hingegen seine eigene versickerte wie ein gartenschlauch
dem man das wasser abgedreht hatte

er konnte nicht wirklich zuhören
jedes wort jede silbe
holte als echo die ablehnungsschreiben hervor
die er in den letzten jahren gesammelt hatte
genug um die wände seines derangierten dichter-egos zu tapezieren
er erfuhr nie warum vielleicht war seine zeit vorbei
sein atem zu flach seine stimme nicht unverkennbar genug
seine bekannte legte als könnte sie gedanken lesen
mit dem almosen eines lächelns flüchtig ihre hand auf sein knie
er schloss die augen als der applaus brandete
für diesen überschätzten beau da vorne
dessen name ihm wieder entfallen war




Notizen zu lyrikline.org
die nase von richard anders
ähnelt ein wenig der von lars gustafsson
jedenfalls mehr als sich ihre gedichte ähneln
die gedichte von lächelnden poeten machen mich neugieriger
osteuropäische dichter haben mehr promille im blick
dichter die im nebenberuf dozenten sind kleiden sich bürgerlicher
poetry-slam-poeten werden gerne mit weit offenem mund fotografiert
sozusagen im wettkampfmodus
dichter die dich frontal mit offenem blick anschauen
können sehr hermetische gedichte schreiben
im suizid geendete dichter lächeln überproportional häufig
wobei ihr lächeln wie aus dem ersehnten jenseits wirkt
die fotos lassen manchmal andere biographien vermuten
der dichter mit krawatte kann der geläuterte bohemien sein
die lyrikerin mit einer gefärbten haarsträhne eine promovierte apothekerin

die dreieinigkeit von foto lebenslauf und gedicht
verändert subtil die wahrnehmung von gedichten
ihr raum kann sich verengen
zu einer art von lyrischer erläuterung (oder verrätselung) des eigenen lebens
aber was sind gedichte letztlich anderes als das
und welchen anderen grund gäbe es sie zu lesen?




Mein vater war ein zebrastreifen
meine mutter war ein farbkasten
mein vater sprach klartext
auch wenn sein text sich in aller regel
in ja und nein erschöpfte
meine mutter war eine mit glasperlen bestickte
schleppe aus worten die sie nie ablegte
die sonntage meines vaters
waren das schwarz seiner hose und das weiß seines hemdes
die sonntage meiner mutter waren ein kolibri
der den käfig verlassen hatte
die freizeit meines vaters war eine skatkarte
die freizeit meiner mutter waren die blumen
die sie sich schenken ließ
die nachricht war das grabkreuz für meinen vater
die nachricht meiner mutter war ein postkarte
mit einem kolibri und den zwei worten
verzeih mir


In Frank Schmitter: Das bezahlbare unglück der kleinfamilien im urlaub. Gedichte. Dortmund (edition offenes feld) 2019. 72 Seiten. 16,00 Euro.
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