Frank Norten: Königsberger Fegefeuer oder Wer ist reinen Herzens
Frank Norten
Königsberger Fegefeuer oder Wer ist reinen Herzens
“Wozu Eis auf ein leeres Herz legen ...”
Anton Tschechow
“Die Blindesten aber sind Göttersöhne ...”
Friedrich Hölderlin
In Badenweiler, in einem Bett des Hotel Sommer,
bist Du, Tschechow, an den Folgen
von Tuberkulose gestorben.
Aber hiess der Tod nicht Krüger?
Kurz vor seiner Ankunft liess der Arzt Champagner kommen.
Du hast das Glas geleert, Dich von den
Umstehenden weggedreht und aufgehört zu atmen.
Wenn ich mich nach einem Menschen sehne,
dann nach Dir, Tschechow!
Du mochtest nicht über Dinge philosophieren,
die keiner Erklärung bedürfen -
wie das Leben, die Liebe und der Tod.
“Ja, ich habe die Dame mit dem Hündchen
geheiratet, Anton Pawlowitsch.”
(“Weiter! Weiter!”
Ein französischer Verkleidungskünstler
(seine theatralische Melancholie missfiel mir)
sagte in einem Zeitungsinterview,
das Beste, was er in Berlin erlebt hätte,
war, im nächtlichen Viktoriapark
ein Glas Apfelsaft zu trinken.
Er hatte das Lokal verlassen,
sich ins Gras gesetzt
und vom Kreuzberg hinunter
auf die Stadt geblickt.
Diese Szene erinnert nur oberflächlich an die,
welche Balzac in einem seiner Romane beschrieb:
Dort schaut Rastignac, der Held,
von oben herab auf das schlafende Paris.
(“Mit mir sollst Du zu tun bekommen!”)
Auch ich schlief dort.
Mein Mädchen in jener Nacht war dünn und blond.
Beide wurden wir wach,
als im frühen Morgengrauen
Hitler sich über die menschenleeren
Champs-Elyseés chauffieren liess.
Sein Gesicht war völlig reglos.
Alles was er tat, schien ihm umsonst.
Sein Hass war unermesslich.
“Schicklgruber! Schicklgruber!”
Ich weiss nicht mehr,
ob Rastignac erfolgreich war.
Egal, sein Blut stank.
Die Geschäfte Rimbauds in Afrika
ruinierten seine anfällige Gesundheit.
Im Hospital “Zur Unbefleckten Empfängnis” in Marseille
starb der zu stolze Dichter.
Die Leichen auf den Strassen von Harar
weinten um ihn.
Dschami, sein Diener, hat mir dies bezeugt.
Sonst weinte niemand.
Ich liebe Dich, Arthur, trunkenes Boot.
Tschechow, die Seelen dieser Männer waren krank.
Auch meine Seele ist krank,
denn woher sonst die Schwermut
auf den Stufen des Marineministeriums.
“Aber was sollen wir denn tun?” -
“Katja, mein Kind, auf Ehre, ich weiss es nicht!
Vielleicht … Marmelade kochen.”
Ist das nicht Beschäftigung genug?
Die Blindesten aber sind Göttersöhne.
Stecht mir die Augen aus!
In unserem Untermietszimmer in Paris
hing über dem Bett ein polnisches Heiligenbildchen.
Wer auch immer dies befestigt haben mochte,
das dünne Mädchen hatte keinen Schutz.
Die Gestapo kam gegen acht Uhr abends.
Der Verkleidungskünstler reiste
noch rechtzeitig nach London ab.
Auch er war Jude.
Immanuel Kant hatte die ganze Nacht geschrien,
jetzt war er endlich still.
Betrunkene russische Soldaten
warfen seine Knochen
in das lodernde Königsberger Fegefeuer.
Ist es das, was uns erwartet?
Und wer ist reinen Herzens, Tschechow, wer?
Dieser Freitagmorgen im Oktober ist ruhig.
Auf dem Kreuzberg balgen sich die Hunde.
Einer schnüffelt an einem leeren Glas.
Auf der Parkbank am Denkmal der Befreiungskriege
schläft ein verwahrlostes Mädchen.
In dieser Nacht bin ich wieder
wie durch ein Wunder
dem Totentraum entronnen.
Im Kühlschrank steht noch
eine angebrochene Flasche Apfelsaft.
Oktober 1994/März 1995