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Frank Norten: Die nicht mischbaren Farben der Freiheit

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Ulrich Schäfer-Newiger

Verräterische Sprache


Der Lyriker Frank Norten hat bisher vier Gedichtbände veröffentlicht, zuletzt im Jahre 2019 den Band mit dem Titel „Die nicht mischbaren Farben der Freiheit“, von dem hier die Rede sein soll. Gedichte von ihm wurden in Polen schon 2004 unter dem Titel „Wir sind Vertriebene“ veröffentlicht, einzelne auch ins Englische, Französische und Litauische übertragen. 2016 erhielt er in Berlin den Preis für politische Lyrik POLLY. Geboren wurde er 1952 in Neustadt, Brandenburg, erhielt eine Ausbildung als Arzt, ging 1983 nach West-Berlin und 1999 nach Spanien. Seit 2014 lebt er in der Nähe von Dresden.
    Diese zuletzt genannten, ganz wenigen biographischen Eckdaten sind von Bedeutung für das Verständnis der in seinem neuesten Gedichtband enthaltenen, explizit politisch motivierten Gedichte und vor allem der vielfältigen, auffällig häufigen und zunächst befremdlichen Selbstdarstellungen, Selbstgestaltungen, Selbstbezichtigungen des Autors. Verse wie „Ich glänzte / Ich war das Messer. / Stumpf bin ich jetzt. / Ich bin der Esser / an Deinem Tisch. / Von grauenhaftem Appetit versetzt.“ gehören zu den harmlosen. An anderer Stelle sagt der Autor über sich: „Ich bin eine deutsche Missgeburt“, oder: „Ich war Schilf. / Ich war Molekül im Meteorgestein. / Ich musste Ratte sein.“ Das Gedicht „Ich bin eine Zikade“ handelt insgesamt zwanzig verschiedene Selbstbilder ab, von ‚Zikade‘ über ‚geprügelter Hund‘, ‚ungehobelter Berliner Taxifahrer‘ und ‚Bombenbastler‘, ‚Kinderschänder‘, ‚geängstigter Mensch‘ bis „Ich bin die Monotonie des Lebens.“ Immer wieder sind biographische Selbstdarstellungen Gegenstand der Texte, besonders eindrücklich in dem Gedicht „Nazis liefen im Gebirge Ski“, in dem er eigene Verhaltensweisen jenen der Nazis gegenüberstellt: „Nazis sangen deutsche Lieder. / Ich singe auch deutsche Lieder“, oder „Nazis hatten Väter und Mütter / Meine Eltern waren Nazis“ oder: „Nazis vergasten Juden / ich vergaß, dass du Jüdin bist.“ Das Wortspiel ‚vergasten‘ - ‚vergaß‘ verleiht diesem Beispiel einen für Frank Nortens Texte typischen Beigeschmack, der die Leser bewusst im Unklaren darüber lässt, wie der Autor es denn nun meint, ernst oder doch lieber nicht so ernst.

Schon diese wenigen Zitate und Wortbeispiele machen deutlich: Die Leser haben es hier mit einem direkten, deutlich-unartifiziellen Deutsch, mit einer unromantischen, bissigen, sich selbst stilisierenden, aber auch (selbst)hassgetriebenen Sprache zu tun. Sie erinnert in den besten Stellen an den Sarkasmus von Benn, an die gezielt-provokante Sachlichkeit eines Nicolas Born oder Jörg Fauser. Also an eine Poesie und Ästhetik der siebziger und frühen achtziger Jahre. So, wie Frank Norten schreibt, sagt ein innerer Reflex, darf man heute eigentlich nicht mehr schreiben, darüber sind wir doch hinaus. Sind wir in Wirklichkeit aber nicht, und ist auch der Autor nicht, wie seine Texte dokumentieren. Denn der Gegenstand seiner Lyrik ist ein noch immer oder sogar wieder aktuell werdender, ausgesprochen alter und lästiger politischer Gegenstand, nämlich die (nicht gewollte, als aufgezwungen empfundene, diffuse, unreflektierte oder zum Selbsthass führende) Identität als nachkriegsgeborener Deutscher vor dem Hintergrund des Faschismus und des zweiten Weltkrieges.
Einer der Schlüsseltexte für diese Deutung der Texte Frank Nortens ist das Gedicht „Berlin und spanische Insel“. Die letzte Strophe lautet: „Meine Mutter überlebte die letzten Monate des Krieges / in den Kellern von Breslau, / Vater desertierte. / Ich lernte an der Berliner Mauer das Saufen. / Weggehen wurde so eine Art Job.“ Diese Zeilen rufen in Erinnerung, dass der Autor, wie alle zwischen 1945 und mindestens bis 1965 Geborenen, Kinder der traumatisierten Kriegsgeneration sind (vergl. dazu z.B.: Sabine Bode, Kriegsenkel, Das Erbe der vergessenen Generation, 2013). Dieses Erbe führt bei dem Autor dazu, dass er sich nicht nur in andere, unverdächtige Personen hineinversetzt und deren Identität anzunehmen versucht (z.B. in den Gedichten „Mozarts Röcke“ oder „Paula Modersohn Becker“), sondern auch z.B. so tut, als habe er selbst an der Evakuierung Danzigs 1945 teilgenommen („Danzig, Januar1945“). Er imaginiert also eine Erfahrung des Verlustes und der Flucht, die er selbst nicht gemacht, sondern nur durch Erzählungen Dritter gehört haben kann. Er verinnerlicht sie aber als Teil seiner eigenen Identität. Dazu gehört bei ihm auch immer wieder das Gefühl des Heimatverlustes, den er von der Vätergeneration übernimmt und in eigener Person sozusagen widerholt, indem er Berlin und Deutschland verlässt und nach Spanien zieht. Psychologisch lässt sich diese Identifikation mit der Erfahrung der Weltkriegsgeneration sicherlich deuten. Wichtig ist, hier festzuhalten: Der Autor reflektiert diesen Vorgang literarisch nicht. Er beschäftigt sich nicht selbstreflektierend und kritisch mit dieser Identifikation. Diese unterlassene Reflektion führt weiterhin dazu, dass er fremde Zuschreibungen unmittelbar auf sich bezieht und einfach abwehrt. In dem Gedicht „Nach einer Reise durch Polen“ stellt er zunächst erstaunt fest, „unsere Historie“ gäbe es jetzt als polnischen Comic und „sie“ hätten sich in den „Häusern meiner Großeltern“ auf Dauer eingerichtet. Dabei lässt der Autor bewusst offen, wen oder was er mit „sie“ und „unsere Historie“ genau meint. Man soll es sich denken können. Dann heißt es in Kursivdruck weiter: „Ich habe den Krieg verloren / Ich habe die Juden getötet / Ich bin ihre Trophäe.“ Das sind die fremden angeblichen Zuschreibungen, die ihn treffen. Er wähnt sich von ‚ihnen‘ auf die Türme der gotischen Backsteinkirche gepflanzt und wird beklatscht. Zum Schluss heißt es: „Der letzte Krieg liegt lange zurück. / Es herrscht Frieden. / Findet einen anderen!“ Auf diese Weise, mit einer solch unkritischen Abwehrhaltung, möchte man dem Autor zurufen, entkommt er der Last seines Deutsch-Seins aber nie, und wird es daher als eine für ihn immer unverständliche und ungerechte Last mit sich herumschleppen. Im Grunde genommen handelt sein ganzer Gedichtband von dieser Last und den Versuchen, ihr zu entkommen. Dazu soll wohl auch die zeitweilig martialische Sprache dienen.
    In einem weiteren Gedicht („Ostpreußen oder von den abgeschnittenen Zungen“) versteigt sich der Autor zu der Behauptung „Gras wächst über das Pflaster der östlichsten deutschen Städte. / Ihre Rätsel scheinen gelöst durch ihren / Untergang.“ Natürlich weiß auch Frank Norten, dass Tilsit, Königsberg, Insterburg oder Memel oder Breslau usw. nicht untergegangen sind. Er übernimmt hier den Sprachgebrauch der Vertriebenenverbände. Diese Städte tragen heute andere Namen und beherbergen andere Bewohner als vor dem Krieg, aber sie existieren noch. Diesen Sachverhalt als „Untergang“ zu etikettieren, ist gedankenlos, weil eben nicht reflektiert, oder sie ist von ihm politisch gewollt. Zur letzten Deutung passt: Der Autor weiß zu berichten, dass Immanuel Kant, „der Geisterseher“ (was meint er nun mit dieser Bezeichnung?) am wiedererrichteten Königsberger Dom begraben liegt (sein Grabmal ist auch wiedererrichtet), seine Knochen würden, behauptet der Autor, seit längerem aber „nicht mehr vermisst“, was immer er damit meint. Daraus folgert er u.a.: „Wir sind das Volk mit den abgeschnittenen Zungen.“ Nicht nur, dass diese Schlussfolgerung unverständlich, weil unsachlich und wirr ist. Wenn der Autor tatsächlich in Kaliningrad war und dort mit Leuten geredet hätte, die noch oder wieder Deutsch sprechen, dann hätte er wahrgenommen, dass es dort (bekanntlich) auch ein Schillerdenkmal gibt, das den Krieg unversehrt überstand (der Rezensent war selbst zweimal dort), und dass erzählt wird, einer der ersten sowjetischen Soldaten, die bei der Eroberung Königsbergs in die Stadt eindrangen, habe ein Schild um das Denkmal gehängt, auf dem er für die Nachrückenden mitteilte: ‚Nicht zerstören! Das ist einer von uns!‘ Das Denkmal wurde nicht zerstört. Wenn man also der verqueren Logik des Autors zu folgen geneigt wäre, spräche alleine diese schöne Geschichte gegen die These, „wir“ seien ein Volk mit abgeschnittenen Zungen. Zusammenfassend lässt sich urteilen: Der Autor repräsentiert mit einer großen Anzahl seiner Gedichte eine unreflektierte, unkritisch-behauptende, abwehrende, lamentierende Haltung gegenüber der deutschen Geschichte nach 1945 (und auch seiner damit untrennbar verbundenen eigenen Geschichte).
 Auch der mitunter rassistische – und machohafte Sprachgebrauch („Zigeuner“, „Zigeunermädchen“, „Generalkanaken“, die in Teilen Berlins „die Nacht und die Mädchen“ beherrschen) dokumentiert dies und verrät den Autor als jemanden, der nicht darüber nachgedacht hat, dass Sprache verletzen und beleidigen kann, weil sie als Instrument der Literatur immer Teil der Gesellschaft ist. Und die Bedeutung der Literatur überhaupt erst durch ihren Gesellschaftsbezug erzeugt wird (so wieder kürzlich Max Czollek, in der FAZ vom 29.9.2019 in einer Replik auf Olga Martynovas Essay ‚Wer der Sprache Gewalt antut.‘) Und diesen Gesellschaftsbezug will der Autor ja auch ausdrücklich herstellen. Will er also mit seinem Sprachgebrauch auch ausdrücklich verletzen und beleidigen? Seine Gedichte sind bewusst politische Gedichte. Und somit ist der Autor auch verstrickt in die politischen Bezüge, die er bewusst oder unbewusst evoziert. Dieser Verstrickung muss er sich stellen, will er nicht für immer in ihr gefangen bleiben oder sich in ihr wohlfühlen.
    Viele der weiteren Gedichte berichten vom unstetigen Umherziehen des Autors: Wir erfahren, dass er den Moskauer Untergrund kennt, dass er dem in einschlägigen Kreisen schon legendären Treffen von Dichtern in einem Palazzo eines deutschen Lektors in Venedig beiwohnte, ähnliche Literaturveranstaltungen werden ironisch-herablassend, leicht sarkastisch-überheblich unter namentlicher  oder den Namen von Kritikern verballhornenden Begriffen dargestellt. Die Leser erfahren, dass man ihn auf Swingerparties ‚Klaus‘ nennt, dass er Paris und Ibiza kennt usw. usw. Das Ganze wirkt etwas wie ein koketter Panzer, der ihn als „Mann von Welt“ wie er sich einen solchen vorstellt, ausweist.
    Politische Gedichte sind gegenwärtig in Deutschland rar. Und auch der Mut von Autoren, sich explizit auf die gesellschaftliche Rolle von Lyrik (die immer gegenwärtig ist) zu beziehen. Frank Norten hat diesen Mut, das muss hier ausdrücklich hervorgehoben werden. Er hat damit auch den Mut, sich angreifbar zu machen. Und er hat den Mut und das sprachliche Können, ein Gedicht mit dem Titel „Die Juden von Ausschwitz“ zu schreiben und damit nicht zu scheitern. Auch in diesem Gedicht beklagt der Autor den Verlust eines Landes, das es nie wieder geben wird. Wobei er hier erkennt, dass dieser Verlust seine Ursache eben in Ausschwitz hat.


Frank Norten: Die nicht mischbaren Farben der Freiheit. Gedichte. Berlin (Dahlemer Verlagsanstalt) 2019. 142 Seiten. 17,00 Euro.
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