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Frank Milautzcki: verzargen

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Samuel Meister

Frank Milautzcki: verzargen. Ein hölzernes alphabet. Frankfurt a.M. (gutleut Verlag) 2022. 104 S. 28,00 Euro.

Da stehen die Wörter – Zu Frank Milautzckis verzargen


Zufällig saß ich an einem sonnenmüden Märzmorgen in meinem Büro und blickte schräg auf das rechte Drittel eines schlechten Mosaiks. Dieses Mosaikdrittel stellt eine dorische Säule zwischen Bergabhängen unbestimmter Art dar, um mir das Altertum nahezulegen (es befindet sich in den USA). Nun schiebt sich vor die entsetzliche Mosaiksäule ein dünner, wirklicher Baumstamm in mein Sehfeld und fügt sich exakt in die Konturen der Säule im Hintergrund ein, als wäre die Pappel als Nougatfüllung für den mosaikenen Zylinder gepflanzt worden, um diesen aus meinem Blickwinkel genießbar zu machen. So sehe ich eine Collage in freier, von der ursprünglichen künstlerischen Absicht befreiten Natur. Da saß ich zufällig und faltete den abgestoßenen Umschlag von Frank Milautzckis verzargen auf, in dem sich ein Plakatgedicht oder Gedichtplakat verbirgt, «zum Berg macht», wie da steht: die «Titelsuche». Angesichts einer Collage stieß ich also auf ein Gedicht, das nicht für sich, aber für mich ein objet trouvé ist, womit zufällig Milautzckis Verfahren in verzargen eingeführt ist. Denn dieser Band der Reihe «staben» im gutleut verlag besteht – im Zusammenspiel mit Michael Wageners Bildern der Serie ordnungen: ein hölzernes alphabet – aus «Gedichten, Cut-Ups, Textcollagen».

Die drei Bezeichnungen schließen sich gegenseitig nicht aus. Einige der längsten Gedichte sind als «Textcollagen» gekennzeichnet, z.B. «The Waiting Room» oder «Wir, nicht grad schweigsam / Brauchen einen neuen Titel für das Knie», und die Techniken des Cut-Ups und Readymades finden fast durchwegs Verwendung. Textcollagen sind hier keine Collagen aus gedruckten Textbildern, wie wir sie von Herta Müller kennen, sondern Texte, die sich zumindest teilweise und verfremdet aus anderen Texten zusammensetzen. «Moribund poppt» zum Beispiel wurde aus Peter Gabriels eingedeutschtem Song «Moribund the Burgermeister» und Klappentexten philosophischer Fachliteratur «gecuttet» (S. 48):

Gefangen auf dem Marktplatz, Rempelpink und Puckelquäler
ich weiß nicht was, ich weiß nicht warum, aber irgendwas da unten läuft verkehrt.
Die Ursünde der Metaphysik: Sie beruht auf einer Sichtung der
Alltagssprache, die mangelhaft ist. Der Achelpeter, der Sießchenbäcker,
der Freischupper – ihre Körper drehen und wenden sich auf tausend
Arten, browsen die Nöte des Atmens,
alle Augen rollen und rollen bis zu einem fernen Starren,
da sie die wichtigen Aspekte jener ethischen Sprachspiele vergessen, in
denen ursprünglich das Absolute vorkommt. Draufbombt das Beschreiben.
Ah, schau dir die Menge an! Und den Pempelpink.

Eine Herangehensweise an Collagen wie diese wäre die Quellenforschung, mit der Pinzette die Bestandteile helvetisch auseinanderzubeineln, aber diese Weise fängt die Stimmung des Verfahrens wohl am schlechtesten ein. Das Prinzip Collage verlangt nach dem Gegenteil: das Produkt als Text für sich zu lesen, als bestünde er nicht aus Versatzstücken, gerade weil er offensichtlich aus solchen besteht. Alle Augen rollen und rollen bis zu einem fernen Starren, / da sie die wichtigen Aspekte jener ethischen Sprachspiele vergessen usw. wirkt poetisch nicht dadurch, dass zwei stilistische Kontexte aufeinanderprallen, obwohl sie das offensichtlich mit dem Versumbruch tun, sondern weil es nun nicht mehr zwei, sondern ein und ein frisches stilistisches Umfeld gibt, in dem sich die ursprünglich fremden Ausdrücke gleich heimisch miteinander bewegen. Wenn man Milautzckis Textcollagen liest, braucht man den Mut, die Wörter, die da stehen, zusammen stehen zu lassen, in Bezug aufeinander, als hätten sie zu nichts sonst einen Bezug. Das wäre womöglich die stimmigere Herangehensweise.

Im Gedicht «Scharlachrote Studie», wie die meisten Texte in verzargen auf dem Sprung zur Selbstreflexion, taucht die Katze des Augenblicks auf, unsichtbar nach nichts als sich selbst hin ausbalanciert (S. 19). Wie diese Katze sind Milautzckis Gedichte: aus fremden Bestandteilen zusammengebaut, aber so, dass diese aufeinander bezogen sind, nicht auf ihren Herkunftstext, und das Ganze zu einem Mobile wird, das von innen her austariert vor uns fragil in der Luft steht, während wir es lesen. Über «Lilientreu» steht ein Zitat von Victor Hugo, das mit der Zeile «Guerre à la rhétorique et paix à la syntaxe» endet, die zum Abschluss des Gedichts aufgegriffen wird: Gebete sind möglich, unter uns Träuflern und Sprachgalleristen der Frieden der Syntax (S. 22). Es sind hier mehrere oder verschiedene Frieden möglich, aber sie scheinen allesamt Frieden der Syntax, nicht der Semantik zu sein. Der Dichter ist Kurator oder Galerist, dessen Kunst nicht darin besteht, die sprachlichen Bilder herzustellen, sondern Ordnung in sie zu bringen, wodurch dann ein neues Gesamtbild entsteht, das sich aus jenen Bildern zusammensetzt. Der Frieden der Syntax kann so zweierlei bedeuten: die Syntax wird in Frieden gelassen, die «Syntaxis» (das Zusammenstellen) als dichterisches Mittel erlaubt, und/oder durch das Vertrauen auf die Syntax und das Mittel des Zusammenstellens stellt sich ein Ausgleich, ein Frieden ein (das Redeblei pendelt sich ein, S. 22). So soll die Rhetorik entschärft und, soweit ich es verstehe, jede Textform wieder möglich werden, sowohl als Ausgangsmaterial als auch als Endprodukt, sogar Gebete sind möglich.

Wofür steht dabei die Rhetorik? Eine Antwort, die sich aus Milautzckis Texten herauslesen lässt, versteht die Rhetorik als grundsätzlich zielgerichtet. Ein Text wird auf ein äußeres Ziel hin gebaut, z.B., um bei BookTokern oder Gott ein gefälliges Kräuseln auszulösen, oder zumindest ein inneres, sodass die Einzelteile auf einen Schlussstein hinstreben. Die Syntax für sich hingegen setzt keine solche Zielrichtung voraus, sondern nur ein Nebeneinandersetzen der Teile. Von der rhetorischen Abrichtung auf ein Ziel befreit, sollen Textformen wie das Gedicht aber auch überladene Zutaten wie im Readymade «Die Fenster der Monade» wieder satisfaktionsfähig werden (s. 25, hier die ersten drei Strophen):

           Das Vorhaben, der Strumpfbandknoten
           Der Kosmos der gefalteten Tunika
           Das Pentagramm und die schwingende Leinwand
          
           Das Theater der Exponate
           Der Pariser «Gedankenscherz»
           Der Text – Guerickes Kugeln

           Modelle und Automaten, Strassenkünstler
           und Spielpaläste, das Spiel von Licht und Schatten
           Schattentheater & Schatten als Lichtbringer

Vielleicht findet sich im Selbstverständnis des Dichters als Galeristen auch eine Replik auf den Einwand Angelika Overaths gegen überladene Lyrik, der immer wieder die Runde macht. Sie schreibt in einer Rezension zu Tom Schulz (dem sie dies nicht vorwirft): «ein Füllhorn ausgeschütteter Einfälle macht Verse zufällig und damit fragwürdig» (NZZ, 28.02.2013). Aber wenn sich die Einfälle nicht rhetorisch zuspitzen sollen, sondern schlicht nebeneinandergestellt werden, um zu einem Verhältnis zu finden, das keiner ursprünglichen Absicht entspricht (wie vor mir das Mosaik und der Baum), ist das vermeintliche Ausschütten genau die poetische Handlung: das Kuratieren der Sprachbilder in der Galerie.

Am darauffolgenden Märzmorgen wird mein Blickwinkel vom eisigen Wind strapaziert, der am Mückengitter rüttelte. Der entfaltete Umschlag liegt unverändert zwischen den ungefähren Abhängen der Bücherstapel. Nun fällt mir auf, dass das Plakat wie der ganze Band eine Supercollage ist, die sich aus Wageners Bildern gemaserter Baumstammscheite, die leuchten wie geröntgter Jamón, und Milautzckis Textcollagen zusammensetzt. Auf dem Plakat findet jedenfalls in einer Abfolge tagebuchartiger Einträge die «Titelsuche» statt. Im letzten Eintrag vom 21.08.2022 steht Help! / Ich traue der Sache nicht, und will noch nichts sagen, doch der erste vom 14. August gibt sich weniger hilflos:

           Warum sollte man nicht dem Dichten den Irrsinn
           des Abdichtens nehmen, indem man Türen einbaut,
           Durchgänge auflädt, Hindernisse wegdenkt
           und darlegt, wo die Zugänge zu setzen sind.
           Da kam das Verzargen. Machs möglich! Vielleicht
           eine Tür. Eine Zarge einbauen. Raushauen.
           Wo wollen wir hin? Wer wollen wir sein?
           Die Frage ist ganz alt. Was soll das Wollen
           noch können? Wohin bauen wir Türen?
           Das steckt hinter «Verzargen».

Gleich darauf erscheint auch noch der «Abstecher ins Versagen» und das «Vers-Sagen», aber der vordergründige Sinn ist der hintergründigere. Der collagierende Dichter, die collagierende Dichterin baut allseits nicht gerade Türen, sondern Türzargen, wohinein die collagierende Leserin, der collagierende Leser eigene Türblätter hängen kann.

Was erreicht dieses Prinzip Collage? Diese Frage kann man wohl nur persönlich beantworten. Aus meiner Sicht könnte es nicht nur ein literarisches, sondern ein Lebensprinzip sein, eine Art des Umgangs mit dem Allerlei, dem wir ausgesetzt sind. Die Collage ordnet das Allerlei, indem sie die Fetzen, die sie enthält, ausstellt und in unerwartete Beziehung setzt. Glückt die Collage, ist sie richtig austariert, dann mag sich im Arrangement ein Frieden der Syntax einstellen, auch in uns, wenn wir das Arrangement vollziehen oder nachvollziehen.


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