Florian Neuner: ROST. Eine psychogeographische Expedition
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Astrid Nischkauer
Florian Neuner: ROST. Eine psychogeographische Expedition. Klagenfurt (Ritter Verlag). 2021. 208 Seiten. 18,90 Euro.
Wie man eine Stadt liest
Die Stadt ist eine Figuration aus Wörtern. Zum Teil ist der Text der Stadt gut lesbar, zum Teil ist er nur schwer zu entziffern.
ROST von Florian Neuner ist ein in vielerlei Hinsicht ungewöhnlicher Band, „eine psychogeographische Expedition“, wie es im Untertitel heißt. Der Stadtwanderer, dem wir auf seinen Expeditionen in die „urbane Prärie“ folgen, ist dabei zu Fuß und mit Bussen in den verfallenden ehemaligen Auto- und Industriezentren des Amerikanischen Rust Belts unterwegs, die geprägt sind von Baulücken, leerstehenden Geschäftslokalen und verfallenden Gebäuden.
Es gibt hier nichts Weltbewegendes zu sehen, aber dennoch wird Cincinnati mit seinem ganz eigenen Flair einen bleibenden Platz auch in Ihrem Herzen erobern!
Gerade dieses scheinbare „nichts“ übt eine besondere Faszination auf den Stadtwanderer aus, und so reist er auch eigens deswegen nach Indianapolis, weil es dort „nichts“ zu sehen gebe:
Zwar haben ihm alle, mit denen er darüber sprach – in Kenntnis oder auch in Unkenntnis der Hauptstadt des Bundesstaates Indiana –, von einem Besuch der Stadt abgeraten, es gebe dort nichts zu sehen, sei im Grunde langweilig usf., aber gerade diese Einhelligkeit in der Ablehnung von Indianapolis – nein: Ablehnung ist nicht der richtige Ausdruck, eher ist es Gleichgültigkeit, polarisierend scheint die Stadt auf niemanden zu wirken – hat ihn darin bestärkt, dorthin fahren zu wollen.
Aufgeteilt ist die Expedition in viele kleine Abschnitte, die meist jeweils nur wenige Seiten umfassen. Was sofort auffällt ist, dass dabei unterschiedliche Schrifttypen verwendet werden, und zwar eine serifenlose Schrift und eine Schrift mit Serifen. Die serifenlose Schrift wird verwendet, wenn es in dem Abschnitt um historische Hintergründe, um Hintergrundwissen zur jeweiligen Stadt und Stadtentwicklung, oder auch um Materialcollagen aus in dieser Stadt vorgefundenen Texten wie Straßennamen oder Werbungen geht. Die Abschnitte in Serifenschrift sind die persönlicheren, in denen wir dem Stadtwanderer auf seinen mühseligen und oft beschwerlichen Wegen auf Flughäfen, Busbahnhöfen und vor allem auch zu Fuß in einer vorwiegend als fußgängerunfreundlich zu bezeichnenden Umgebung begleiten. Wir erfahren, wie lange dieser oder jener Flug oder Bus Verspätung hat, was er auf eine Postkarte schreibt und für welche Biersorten er sich in dieser oder jener Bar entscheidet. Und doch bleibt dieser Reisende bewusst auf Distanz, da es ja nicht um ihn geht, sondern um die von ihm zurückgelegten Wege und die von ihm gemachten Beobachtungen. Wir haben es mit einem unglaublich belesenen Beobachter zu tun, und so wird die Stadt vor seinen Augen jeweils vor dem Hintergrund von Lektüren gelesen, die der Beobachtende einfach derart verinnerlicht hat, dass sie seinen Blick auf die Welt prägen. Dieser Prägungen ist der Beobachtende sich im Beobachten wiederum sehr wohl selbst bewusst, was eine der Raffinessen des Bandes ausmacht:
Wie beschreiben? Wie erzählen? Wie betrachten? Die drei Fragen stellt Georges Perec, der 1978 Ellis Island besuchte, wo viele Millionen Einwanderer die Einwan-derungsprozeduren der USA durchlaufen, sich ärztlich untersuchen lassen mußten usf. Perecs Fragen stellt sich auch der Stadtwanderer, der nicht darauf vergessen darf, daß er noch ein Stück des Weges, einen Anstieg sogar, vor sich hat, wenn er Murphy’s Pub verlassen wird. Vergessen hat er allerdings vieles, wie ihm in dem Moment bewußt wird, in dem er diesen Text schreibt.
Wir begleiten den Stadtwanderer daher gewissermaßen dabei, wie er im Begriff ist, das vorliegende Buch gerade erst zu schreiben, beziehungsweise wir begleiten ihn auf seinen Recherchereisen dafür. Florian Neuner erschafft damit eine Autorenfigur, die er als Autor ebenso distanziert beobachten und beschreiben kann, wie die Stadträume, durch die sein Stadt-wanderer sich bewegt. Dadurch, dass der Stadtwanderer von außen beobachtet wird, und nicht beispielsweise aus der Ich-Perspektive geschrieben wird, gelingt es Florian Neuner, die ihm so wichtige Distanz herzustellen. Ich würde fast sagen, dass es in ROST gar nicht so sehr um das, was beobachtet wird geht, sondern vielmehr um die Beobachtung der Beobachtung, die zugleich eine Selbst- und Fremdbeobachtung ist:
Es reicht nicht aus, im Text der Stadt zu lesen, er muß ihn auch übersetzen, um ihn sich anzueignen. Das verändert den Zugang, die Lektüre der Stadt & führt wahrscheinlich zu einem abstrakteren Bild. Das ist ein distanzierter Blick.
Einen derartig distanzierten Blick fordert Florian
Neuner auch von uns als seinen Lesenden ein. Um uns gewissermaßen dabei zu
helfen, diese Distanz beim Lesen des Buches aufrechtzuerhalten, werden uns
immer wieder sperrige Wortlisten vor die Füße geworfen, damit wir ja nicht auf
die Idee kommen könnten, hier würde irgendwas erzählt. Nein, Florian Neuner
verweigert sich sehr vehement gegen jegliches Storytelling, zitiert
Storytelling aber immer wieder, beispielsweise aus Werbebroschüren. Als Autor
möchte Florian Neuner aber eher zeigen als erzählen, da ihm das Erzählen
einigermaßen suspekt zu sein scheint:
Inzwischen ist Pittsburgh mehrmals zur lebenswertesten Stadt des Landes gewählt worden. Eine Erfolgsgeschichte wird erzählt. Geschichten sind immer Vereinfachungen. Geschichten sind meistens falsch.
Fast manisch liest und sammelt Florian Neuner alles,
was ihm unter die Augen kommt. Seine Materialsammlungen haben dabei fast schon
einen dokumentarischen Charakter. Mit einer unglaublichen Neugier wird alles
aufgesaugt und so enthält ROST auch
sehr vieles, was in die Kategorien „Kurioses“ oder (scheinbar) „unnützes
Wissen“ fallen könnte, worüber man aber genauso gut auch sehr lange nachdenken
könnte:
Heute gibt es in Cincinnati 250 Chili-Restaurants. Das sind, gemessen an der Einwohner-zahl, mehr als irgendwo sonst in der Welt.
Immer wieder schafft Florian Neuner Stimmungsbilder
aus Werbeslogans, Ausstellungs- und Konzertankündigungen, die als übersetzte
Zitatcollage eine Momentaufnahme einfangen. Wie ein Schnappschuss von einem
Platz im öffentlichen Raum, wo zu einem bestimmten Zeitpunkt all diese
Werbebotschaften nebeneinander zu lesen waren. Komik entsteht dabei zum einen
durch den Inhalt der so für sich stehend seltsam anmutenden Werbebotschaften,
zum anderen aber auch durch die von Florian Neuner sehr bewusst eingesetzten
harten Schnitte, die zu starken Kontrastmomenten führen:
Sicher, die Pirates sind eines der schlechtesten Baseball-Teams überhaupt. Aber je tiefer das Loch, desto großartiger ist das Comeback! Das »PirateFest« ist die Gelegenheit, diese Hoffnung lebendig zu halten. Wer jetzt einen Schneeball formt & ihn im Gefrierfach aufbewahrt, hat zur Sonnenwende am 21. Juni freien Eintritt im Carnegie Science Center. Das vergangene Jahr hat Pittsburgh immerhin bemerkenswerte neue Veranstaltungsorte beschert. Krebs ist eine wundervolle Art zu sterben. Wird eine Sängerin zitiert. Man wird oft genug gewarnt. & man hat die Möglichkeit, viele Dinge zu tun, die man tun möchte. Dinosaurier sind nur der Anfang!
Das Schöne an einem Werk wie dem vorliegenden ist
gerade die Selbstreflexivität, mit der Florian Neuner nicht nur hinterfragt,
was er selbst schreibend da eigentlich macht, sondern uns als Lesende auch
teilhaben lässt an seinem Forschungs- und Nachdenkprozess, der als Prozess per
se unabgeschlossen und offen ist. Damit gewinnt der Text vor allem Offenheit
und Authentizität:
Wie man eine Stadt liest & sich einen Weg durch sie bahnt? Zu Fuß oder auch: lesend. Den geologischen Schichtungen entsprechen geographische an der Oberfläche. Dazu kommen die historischen Schichten der Bebauung, an denen sich soziale Hierarchien ablesen lassen. Es gibt ein Nord-Süd-Gefälle oder auch Gegensätze zwischen einem reichen Westen & einem armen Osten. Oder umgekehrt. Wie diese Schichtungen in Sprache gefaßt werden können? Die Rede ist von einer Semantisierung von Räumen. Schichten, das sind auch Bedeutungsebenen. […] Statt von Schichtungen könnte man auch von einem Palimpsest sprechen. Die Schichten können auch nicht-materieller Natur sein. Können die Form von individuellen oder kollektiven Erinnerungen haben, die einander überlagern.
Eine sehr dezent eingebrachte Schicht, die eigentlich
nur kurz und wie nebenbei angetupft wird, ist der Beginn der aktuellen
Pandemie:
In den öffentlichen Gebäuden Ohios werden strengere Hygienemaßnahmen, häufigeres Desinfizieren usf. angeordnet. Der Umsatz von Corona-Bier ist um 40 % eingebrochen. Der Busbahnhof hat rund um die Uhr geöffnet wie auch der Imbiß, bei dem der Reisende sich jetzt einen großen Becher Kaffee & einen Muffin holt.
Und ich habe auch ein sehr feines Listengedicht in ROST gefunden, das möglicherweise von
Florian Neuner nur als Liste und nicht als Gedicht konzipiert gewesen sein
könnte. Doch schließlich ist nicht nur sein Stadtwanderer, sondern auch ich als
Leserin geprägt von dem, was ich kenne und verinnerlicht habe. Daher wird seine
Schiffsliste für mich zu einem wunderschönen Antwortgedicht auf eines meiner
absoluten Lieblingsgedichte, und zwar auf das Gedicht „GREEN WATERS“ des
schottischen Dichters und LandArtist Ian Hamilton Finlay. Das Gedicht Finlays
besteht ebenfalls aus einer Liste von Schiffsnamen (zu finden in: Ian Hamilton Finlay. Selections. Edited and with an introduction by Alec Finlay. University
of California Press, 2012):
GREEN WATERSGreen WatersBlue SprayGrayfishAnna TKaren BNetta CroanConstant StarDaystarStarwood
Starlit WatersMoonlit WatersDrift
Ob Florian Neuner dieses Gedicht Ian Hamilton Finlays
kennt oder nicht, tut dabei nichts zur Sache, weil die beiden Gedichte
zumindest in mir als einer von unzähligen möglichen Lesenden des Buches
zusammenfinden und also auch zusammengehören. Und auch wenn Florian Neuner mir
erklären würde, dass er nie auf die Idee gekommen wäre, in dieser Liste ein
Gedicht zu sehen, so bliebe es dennoch für mich ein Gedicht, über das ich mich
ganz außerordentlich gefreut habe:
SchiffeAmerican QueenCreole QueenDelta QueenIsland QueenMemphis Queen
Mississippi QueenMusic City QueenRiver QueenQuad City QueenQueen of the HeartsThe QueenBonnie BelleCelebration BelleSouthern BelleWest Virginia BelleBelle of LouisvilleBelle of St. LouisSpirit of CincinnatiSpirit of JeffersonSpirit of Peoria
Eine andere absolute Lieblingsstelle aus ROST ist für mich der Abschnitt
„Psychogeographisches Ohio-Alphabet“ in welchem die Landkarte Ohios studiert
wird. Aufgrund der vielen aus anderen Weltteilen bekannten Städtenamen entsteht
dabei ein absurd skurriler und absolut großartiger Text, für den alleine es
sich lohnt, ROST zu lesen:
Arcanum: Von dort sind es ungefähr 150 km nach Antwerpen. & 400 km östlich von Antwerpen liegt Athen. Der Weg entspricht der Ost-West-Ausdehnung des Bundesstaats. Weiter nach Bayern, in den Osten, muß man weitere 400 km zurücklegen. Belfast wiederum ist 280 km von Bayern entfernt. Nach weiteren 400 km Fahrt Richtung Osten, an der Hauptstadt Columbus vorbei, ist Bergholz erreicht. Bergholz, das sagt mir jetzt nichts, aber es sind von dort nur noch 100 km bis Berlin. […] Immer wieder führt der Weg an Columbus vorbei. Versailles liegt etwa 250 km östlich von Warschau. Nach Wellington im Norden sind es dann noch 120 km. Wenn wir dann noch 160 km nach Osten fahren, kommen wir nach Wien, vor dessen Toren bekanntlich der Mosquito Lake liegt.
Florian Neuner ist ein Autor mit sehr viel Humor, wodurch
seine literarische Erkundung des Rust Belts auch weniger von Trostlosigkeit als
von Wortwitz, unbändiger Neugier und Sprachlust geprägt ist. ROST ist nicht unbedingt eine leichte
Lektüre, sondern ebenso herausfordernd wie reichhaltig und dabei auch noch
erfrischend unterhaltsam. Und damit mehr als lesenswert!