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Fließen der Identitäten

Rezensionen/Lesetipp > Kurzkritiken


Kristian Kühn

(Nicola Quaß, Stefan Hölscher, Alfred Büngen:) Fließen der Identitäten. Anthologie zum Stefan Hölscher & Geest-Verlag Gedichtwettbewerb 2020. Vechta-Langvörden (Geest Verlag) 2020. 148 Seiten. 12,00 Euro.  

Sich selbst nicht glauben


Das Beste vom Literaturwettbewerb im Geest-Verlag 2020, „Fließen der Identitäten“, wurde gerade aus ein paar tausend Einreichungen als Anthologie zusammengestellt und herausgegeben von der Jury, bestehend aus dem Verleger Alfred Büngen, dem Sponsor des Preises Stefan Hölscher, und Nicola Quaß.

Zu meiner Studienzeit war Identität ein Zielbegriff der Sozialpsychologie für eine Selbstfindung des Individuums, wobei Krisen im Lebenszyklus instabiler Persönlichkeiten eine wichtige Rolle spielten (Erikson) und auch damals – wie heute noch mehr – die Möglichkeit einer Ich-Identität aufgrund von Rollen, Masken, sowie Stigmen und anderen Beschädigungen und deren Bewältigungstechniken bereits in Zweifel gezogen wurde (Goffman). Das Ich und sein Gegenüber, die Täuschungen, Abweichungen von Verhaltensnormen (auch Rimbaud: Das Ich ist das Andere) – insgesamt ein weiter Spielplatz für Gedichte in Zeiten, wo die Angepassten sich auch Unangepassten gegenüber scheinbar anzupassen bereit sind und das Queere speziell in Deutschland im Gegenzug bereits wie eine biedere, gesettelte, fast spießige Erscheinungsform daherkommt. Immer aber, auf beiden Seiten, bleibt der Anspruch, was Besonderes zu sein und das politisch Andere abzulehnen.

So wirkt denn dieses erfreulich gut aufgelegte Buch eher bescheiden in seinem Aktionsradius. Themen sind die Konkurrenz (Esther Ackermann: Curriculum Vitae – „Im Überschreibmodus/ Bin ich wer"), die Angst („hie sprachlose angst/ da worte ohne sinn/ deine gedanken hinaus/ über den bettrand/ suchen“ - Sylvia Bacher: aus der zeit), das Altern (a.a.O.: „ich bin alt/ sagen die anderen“), Orientierungs-losigkeit (Rolf Blessing: „was liegt da nicht alles rum/ auf dem Altar/ des Lebens“, Ausdruckslosigkeit (Bettina Engel-Wehner - „etwas macht mir angst/ doch ich kann’s nicht sagen), Begrenztheit durch Industrie und Anpassung (Antje Ippensen: Wer – „Gefangen in der Mauer steht die Tür.“)
Wie immer bei themengebundenen Preisen greift die Mehrzahl der Einreichenden in die Schublade und sucht Affinitäten beim Vorhandenen, wovon sich Stan Lafleur und Clemens Schittko besonders erfreulich absetzen, indem sie das Thema ablehnen und doch dabei umschreiben. Lafleurs Gedicht „Selbstportrait als jemand, der wenig von sich weiß“ ironisiert die besondere Ausgangsposition von Leuten, die dichten und dabei mondsüchtig sind, gemäß William Blakes Frage an Thomas Taylor: „Bitte sagen Sie mir, Mr. Taylor, haben Sie sich jemals gleichsam unvermittelt dicht neben dem weiten und leuchtenden Rund des Mondes wiedergefunden?“, und er stellt analog dazu gleich anfangs fest: „mein Unglück, dass ich, kaum geboren, schon/ auf dem Mond landete.“ Und Schittko, er zeigt in seinem Langgedicht „wenn der Druck zu groß wird“, was er von fließender Identität hält, nämlich dass er dann auf die Toilette gehen und seine Notdurft verrichten werde: „und nichts und niemand wird mich daran hindern,/ ganz gleich, was sonst noch so geschieht“.


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