Fjodor Michailowitsch Dostojewski: Ein Versuch über den Bourgeois
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Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Ein Versuch über den Bourgeois
(Auszug - in Autobiographische Schriften, 13, 6)
Eine stark entwickelte Persönlichkeit, die von ihrem Recht, Persönlichkeit
zu sein, vollkommen überzeugt ist, die für sich selbst nichts mehr zu fürchten
braucht, kann ja aus dieser ihrer Persönlichkeit auch nichts anderes mehr
machen, d.h. kann sie ja zu nichts anderem verwerten, als sie restlos allen
hingeben, auf daß auch alle anderen ebensolche selbstberechtigte und glückliche
Persönlichkeiten werden. Das ist ein Naturgesetz; und naturgemäß zieht es den
Menschen zu dem hin. Aber hierbei gibt es ein Härchen, ein allerfeinstes
Härchen, das, so fein es auch ist, doch alles zerstört und über den Haufen
wirft, sobald es in die Maschine gerät. Nämlich: wehe, wenn der Mensch bei der
Gelegenheit auch nur die geringste Berechnung zugunsten des eigenen Vorteils
anstellt! Zum Beispiel: ich bringe mich selbst dar und opfere mich restlos für
alle; nun und eben da ist es nötig, daß ich mich ganz und
gar und unwiderruflich opfere, ohne einen Gedanken an meinen Vorteil, ohne auch
nur im entferntesten daran zudenken, daß ich mich nun zwar restlos der
Gesellschaft opfere, dafür aber die Gesellschaft selbst mich restlos mir
wiedergeben werde. Man muß sich so opfern, daß man alles hingibt und
sogar wünscht, daß einem dafür nichts wiedergegeben werde, – damit niemand
durch dich auch nur irgendwelche Unkosten habe.
Wie ist das nun zu machen? Das ist doch dasselbe, wie sich vornehmen, nicht
an einen weißen Bären zu denken. Versuchen Sie das einmal: stellen Sie sich die
Aufgabe, nicht an einen weißen Bären zu denken, und Sie werden sehen, der
Verwünschte wird Ihnen in einemfort einfallen. Also wie soll man es machen? Ja,
zu machen ist es überhaupt nicht, sondern es ist nötig, daß es sich von
selbst so mache, daß es in der Natur sei, daß es unbewußt in der Natur der
ganzen Rasse liege, mit einem Wort: damit es Brüderlichkeit gäbe, das
Liebesprinzip, muß man – lieben. Es muß einen instinktiv zur Brüderlichkeit
hinziehen, zu Gemeinsamkeit und Eintracht, und es muß einen hinziehen, trotz
aller vielhundertjährigen Leiden des Volkes, trotz barbarischer Rohheit und
Unwissenheit, die sich in der Nation verwurzelt haben, trotz jahrhundertelanger
Knechtschaft, trotz aller Einbrüche fremder Völkerschaften ins Land und der
Fremdherrschaft, kurz, das Bedürfnis nach brüderlicher Gemeinschaft muß in der
Natur des Menschen liegen, er muß damit geboren werden oder ein solches
Bedürfnis schon seit uralten Zeiten sich angeeignet haben.
Worin bestünde nun diese Brüderlichkeit, wenn man sie
vernunftgemäß, bewußt ausdrücken wollte? – Sie bestünde darin, daß jede
einzelne Persönlichkeit von selbst, ohne jeden Zwang, ohne einen Vorteil für
sich im Auge zu haben, zu der Gesellschaft der Menschen sagte: »Wir sind nur
dann stark, wenn wir alle zusammenhalten, so nehmt mich denn ganz, wenn ihr
meiner bedürft, denkt nicht an mich, wenn ihr eure Gesetze verfaßt, sorgt euch
nicht um mich, ich gebe alle meine Rechte Euch und bitte Euch, verfügt über
mich. Das ist mein höchstes Glück, Euch alles zu opfern, und so zu opfern, daß
Euch dadurch keine Unkosten erwachsen. Ich vernichte mein Ich und will nicht
mehr zu unterscheiden sein, damit nur Eure Brüderlichkeit gedeihe und
verbleibe« ... Die Brüderlichkeit aber müßte hierauf sagen: »Du gibst uns zu
viel. Wir haben kein Recht, von dir das nicht anzunehmen, was du uns gibst,
denn du sagst doch, daß dieses Gebenkönnen dein ganzes Glück sei; aber was
sollen wir tun, wenn unser Herz unaufhörlich auch um dein Glück schmerzt. So
nimm denn auch von uns alles. Wir werden uns unaufhörlich und aus allen Kräften
bemühen, es so zu machen, daß du soviel wie nur möglich persönliche Freiheit
habest, soviel wie nur möglich Selbstbestimmungsrecht. Fürchte dich jetzt nicht
mehr vor Feinden, weder vor Menschen noch vor der Natur. Wir stehen alle für
dich, wir alle sichern dich vor Gefahr, wir werden uns unermüdlich für dich
mühen, weil wir Brüder sind; wir sind doch alle deine Brüder, und unserer sind
viele und wir sind stark, also sei ganz unbesorgt und guten Muts, fürchte
nichts mehr und verlaß dich auf uns.«
Nach solchen Worten wäre freilich nichts mehr zu teilen,
es würde sich alles von selbst verteilen. Liebet einander und alles dieses wird
Euch zuteil.
Aber was ist das doch für eine Utopie, meine Herrschaften! Alles beruht auf
dem Gefühl, auf der Natur und nicht auf der Vernunft. Das ist doch sogar fast
wie eine Erniedrigung für die Vernunft. Also was meinen Sie? Ist das nun eine
Utopie oder nicht?