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Fernando Pessoa: Ich ziehe die Prosa dem Vers als Kunstform vor

Montags=Text
Fernando Pessoa

übersetzt von Werner Wanitschek


Prefiro a prosa ao verso, como modo de arte

Ich ziehe die Prosa dem Vers als Kunstform vor, aus zwei Gründen, von denen der erste, der meiner ist, darin besteht, daß ich keine Wahl habe, denn ich bin unfähig, in Versen zu schreiben. Der zweite aber betrifft alle und ist nicht – wie ich überzeugt bin – ein Schatten oder eine Verkleidung des ersten. Es lohnt also der Mühe, daß ich ihn darlege, denn er berührt den inneren Sinn jedweden Wertes der Kunst.

Ich halte den Vers für ein Zwischending, einen Übergang von der Musik zur Prosa. Wie die Musik ist der Vers durch rhythmische Gesetze eingeschränkt, die, selbst wenn es nicht die starren Gesetze des üblichen Verses sind, sich doch als Schutz, Zwang, automatische Unterdrückungs- und Strafvorrichtungen erweisen. In der Prosa reden wir frei. Wir können musikalische Rhythmen einbeziehen und dennoch denken. Wir können poetische Rhythmen einbeziehen und doch außerhalb ihrer stehen. Ein gelegentlicher Versrhythmus behindert die Prosa nicht; ein gelegentlicher Prosarhythmus bringt den Vers ins Stolpern.

In der Prosa ist alle Kunst einbeschlossen – teils weil im Wort die ganze Welt enthalten ist, teils weil im freien Wort die ganze Möglichkeit sie auszusprechen oder zu denken enthalten ist. In der Prosa geben wir alles übertragen wieder: die Farbe und die Form, die die Malerei nur direkt, durch sie selbst, ohne innere Dimension wiedergeben kann; den Rhythmus, den die Musik nur direkt, in ihm selbst, ohne formalen Körper, noch diesen zweiten Körper, den Gedanken, wiedergeben kann; die Struktur, die der Architekt aus harten, äußerlich gegebenen Dingen formen muß, errichten wir in Rhythmen, Unentschiedenheiten, Verläufen und Fließendem; die Realität, die der Bildhauer in der Welt lassen muß, ohne Aura und Transsubstantiation; die Poesie schließlich, in der der Dichter, wie ein in einen Geheimorden Eingeweihter, ein wenn auch freiwilliger Diener eines Grades und eines Rituales ist.

Ich bin sicher, daß es in einer vollkommen zivilisierten Welt keine andere Kunst als die Prosa geben würde. Wir würden die Sonnenuntergänge den Sonnenuntergängen selbst lassen und in der Kunst nur dafür sorgen, sie verständlich auszudrücken, indem wir sie also in verstehbare Farbenmusik übertrügen. Wir würden keine Skulpturen aus den Körpern machen, diese behielten, angeschaut und berührt, ihr eigenes bewegliches Relief und ihre angenehme Lauheit. Wir würden Häuser nur zum Bewohnen machen, was es ja schließlich ist, wofür sie da sind. Die Poesie bliebe, damit sich die Kinder der zukünftigen Prosa annnäherten; denn die Poesie ist gewiß etwas Kindliches, Gedächtnishaftes, Hilfreiches und Anfängliches.

Selbst die geringeren Künste, oder die, die wir so bezeichnen können, spiegeln sich, als Gemurmel, in der Prosa wider. Es gibt Prosa, die tanzt, die singt, die sich selbst Reden hält. Es gibt Wortrhythmen, die getanzt sind, in denen sich der Gedanke schlangengleich entblößt, in einer durchscheinenden und vollkommenen Sinnlichkeit. Und es gibt auch in der Prosa zuckende Feinheiten, in denen ein großer Schauspieler, das Wort, das unfaßbare Mysterium des Universums rhythmisch in seine Körpersubstanz verwandelt.


227 - 18. 10. 1931

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