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Fernando Pessoa: Der anarchistische Bankier

Montags=Text


Fernando Pessoa


DER ANARCHISTISCHE BANKIER


1922

Übersetzt von Werner Wanitschek




Wir hatten das Abendessen beendet. Mir gegenüber saß mein Freund, der Bankier, ein großer Geschäftsmann und bekannter Spekulant, und rauchte, wie jemand, der an nichts denkt. Die Unterhaltung war eingeschlafen und lag tot zwischen uns. Ich versuchte sie wiederzubeleben, auf gut Glück, indem ich einen Gedanken aufgriff, der mir durch den Kopf ging. Mit einem Lächeln wandte ich mich an ihn.
– Stimmt das: wie man mir sagte, gab es einmal eine Zeit, in der Sie Anarchist waren …
– Ich war es, nein: ich war und bin es. In der Hinsicht hab ich mich nicht geändert. Ich bin Anarchist.
– Das ist gut! Sie und Anarchist! Inwiefern sind Sie denn ein Anarchist …? Doch nur, wenn Sie dem Wort eine andere Bedeutung geben als …
– Als üblich? Nein. Ich gebrauche das Wort in der üblichen Bedeutung.
– Wollen Sie etwa sagen, daß Sie Anarchist in genau demselben Sinn sind, wie es diese Leute von den Arbeiterverbänden sind? Zwischen Ihnen und diesen organisierten Bombenwerfern besteht also keinerlei Unterschied?
– Unterschied, Unterschied, den gibt es schon … Natürlich gibt es einen Unterschied. Doch nicht den, den Sie meinen. Sie zweifeln wohl, daß meine Gesellschaftstheorien die gleichen wie bei diesen Leuten sind …?
– Ah, ich versteh schon! In der Theorie sind Sie Anarchist, aber in der Praxis …
– In der Praxis bin ich ebenso Anarchist wie in der Theorie. Und in der Praxis bin ich mehr, bei weitem mehr Anarchist als diese Leute, von denen Sie sprachen. Mein ganzes Leben zeigt das.
– Wie?!
– Mein ganzes Leben zeigt das, mein Lieber. Sie haben diesen Dingen nämlich nie die rechte Aufmerksamkeit gewidmet. Darum meinen Sie, daß ich Unsinn rede oder mich gar über Sie lustig mache.
– Oh, Bester, ich verstehe nichts … ! Es sei denn …, es sei denn, Sie halten Ihr Leben für gesellschaftsschädlich und anti-sozial und bezeichnen das als Anarchismus …
– Nein, das sagte ich doch schon – das heißt, ich sagte Ihnen schon, daß ich dem Wort Anarchismus keine vom Üblichen abweichende Bedeutung gebe.
– Gut … Also weiter, obwohl ich nichts verstehe … Mein Lieber, wollen Sie mir sagen, daß es keinen Unterschied zwischen Ihren echt anarchistischen Theorien und der Praxis Ihres Lebens gibt – der Praxis Ihres Lebens, wie es jetzt ist? Sie wollen mich glauben machen, daß Sie genau das gleiche Leben führen wie diese Leute, die im üblichen Sinn Anarchisten sind?
–  Nein, das nicht. Was ich sagen will, ist, daß zwischen meinen Theorien und der Praxis meines Lebens keinerlei Unterschied besteht, sondern absolute Übereinstimmung. Daß ich ein anderes Leben als die Bombenwerfer von den Syndikaten führe – das stimmt natürlich. Aber deren Leben steht außerhalb des Anarchismus, außerhalb ihrer Ideale. Meins nicht. Bei mir – ja, bei mir, dem Bankier, großen Geschäftsmann, Spekulant, wenn Sie wollen –, bei mir fallen Theorie und Praxis des Anarchismus zusammen, und beide sind echt. Sie haben mich mit diesen Bomben-schmeißenden Dummköpfen von den Syndikaten verglichen, um zu zeigen, daß ich mich von ihnen unterschiede. Das tu ich, aber der Unterschied besteht darin: sie (ja, sie und nicht ich) sind Anarchisten nur in der Theorie; ich bin es in der Theorie und in der Praxis. Sie sind Anarchisten und dumm, ich bin Anarchist und intelligent. Das heißt, mein Lieber, daß ich der wahre Anarchist bin. Sie – die vom Syndikat und die Bombenwerfer (ich war ja auch dabei und bin gerade wegen meines wahren Anarchismus dort ausgetreten) – sie sind anarchistischer Dreck, die Weiber der großen Freiheitslehre.
–  Donnerwetter! Das höre ich zum erstenmal! Das hätte ich nicht erwartet! Aber wie vereinbaren Sie Ihr Leben – ich meine Ihr Bankiers- und Geschäftsleben – mit den anarchistischen Theorien? Wie bringen Sie das auf einen Nenner, wenn Sie sagen, daß Sie unter anarchistischen Theorien genau das gleiche verstünden wie die gewöhnlichen Anarchisten. Und dann sagen Sie noch obendrein, daß Sie sich von ihnen darin unterschieden, daß Sie mehr Anarchist seien als sie – ist es so?
–  Ganz richtig.
–  Ich verstehe gar nichts.
–  Liegt Ihnen denn daran zu verstehen?
–  Auf jeden Fall.
–  Er nahm die Zigarre, die erloschen war, aus dem Mund; zündete sie umständlich wieder an; betrachtete aufmerksam das erlöschende Streichholz; legte es sachte auf den Aschenbecher; dann hob er den Kopf, den er für einen Augenblick gesenkt hatte, und sagte:
–  Hören Sie. Ich komme aus dem Volk und der Arbeiterklasse der Stadt. Reichtümer habe ich nicht geerbt, wie Sie sich vorstellen können, und auch nicht die Bedingungen oder Umstände, sie zu erwerben. Alles, was ich besaß, war ein von Natur aus scharfer Verstand und ein ziemlich starker Wille. Doch das waren natürliche Gaben, die mir meine niedere Geburt nicht nehmen konnte.
»Ich wurde Arbeiter, arbeitete, lebte ein sehr ärmliches Leben; ich war mit einem Wort das, was die meisten Leute in diesem Milieu sind. Ich will nicht direkt sagen, daß ich Hunger litt, doch war ich nicht weit davon entfernt. Aber auch wenn ich Hunger gelitten hätte, es hätte nichts an dem, was folgte, geändert, und an dem, was ich Ihnen darlegen werde, weder an meinem vergangenen noch an meinem gegenwärtigen Leben.
»Ich war ein gewöhnlicher Arbeiter, mit einem Wort; wie alle arbeitete ich, weil ich arbeiten mußte, und ich arbeitete so wenig wie möglich. Denn ich war intelligent. Wann immer ich konnte, las ich dies und jenes, diskutierte über dies und jenes, und da ich nicht dumm war, wuchs in mir eine große Unzufriedenheit und eine große Empörung gegen mein Schicksal und die gesellschaftlichen Bedingungen, die dafür verantwortlich waren. Ich sagte Ihnen schon wahrheitsgemäß, daß mein Schicksal hätte schlimmer sein können; doch zu jener Zeit hielt ich mich für ein Wesen, dem vom Schicksal sämtliche Ungerechtigkeiten angetan worden waren und daß dieses sich dazu der gesellschaftlichen Konventionen bedient hatte. Ich war etwa zwanzig Jahre alt – einundzwanzig höchstens –, als ich Anarchist wurde.
Er hielt einen Moment inne. Er wandte sich mir noch mehr zu, beugte sich etwas weiter herüber, und fuhr fort.
–  Ich hatte immer einen recht scharfen Verstand. Ich war empört. Ich wollte meine Empörung verstehen. Ich wurde bewußt und aus Überzeugung Anarchist – der gleiche bewußte und überzeugte Anarchist, der ich heute bin.
–  Und die Theorie, die sie heute haben, ist dieselbe, die Sie zu dieser Zeit hatten?
–  Dieselbe. Es gibt nur eine wahre anarchistische Theorie. Ich habe die, die ich immer hatte, seit ich Anarchist wurde. Sie werden es gleich sehen …  Da ich, wie ich schon sagte, einen natürlichen Scharfsinn besitze, wurde ich ein bewußter Anarchist. Was ist nun ein Anarchist? Er empört sich gegen die Ungerechtigkeit, daß wir gesellschaftlich ungleich geboren werden – das ist im Grunde alles. Und daraus resultiert, wie sich zeigen wird, die Empörung gegen die gesellschaftlichen Konventionen, die diese Ungleichheit ermöglichen. Was ich Ihnen gerade aufzeige, ist der psychologische Weg, das heißt, wie es kommt, daß jemand Anarchist wird; wir kommen noch zum theoretischen Teil. Zunächst sollen Sie verstehen, wie die Empörung eines intelligenten Burschen in meiner Lage aussieht. Was versteht er eigentlich unter der Welt? Der eine wird als Sohn eines Millionärs geboren, von Geburt an gegen Unglücksfälle geschützt – und es sind nicht wenige –, die durch Geld verhindert oder gelindert werden können; der andere wird im Elend geboren, das bedeutet, solange er Kind ist, ein hungriger Mund zuviel in einer Familie, in der es Münder mehr als genug gibt für das Essen, das da ist. Der eine wird als Graf oder Marquis geboren und genießt daher die Achtung von jedermann, ganz gleich, was er tut; ein anderer wird so geboren wie ich und muß schnurgerade gehn, wie ein Lot, um nur wie ein Mensch behandelt zu werden. Die einen werden in Bedingungen hineingeboren, unter denen sie studieren, reisen, sich bilden können – intelligenter werden (könnte man sagen) als andere, die es von Natur aus mehr sind. Und so weiter, und so in allem …
»Die Ungerechtigkeiten der Natur, schön: die können wir nicht vermeiden. Dagegen die der Gesellschaft und ihrer Konventionen – warum sollte man die nicht vermeiden? Ich akzeptiere – ich wüßte nicht, wie dem abzuhelfen wäre –, daß mir ein Mensch überlegen ist, weil ihm verliehen wurde von der Natur – Talent, Kraft, Energie; aber ich akzeptiere nicht, daß er über mir stehe künstlicher Eigenschaften wegen, mit denen er nicht den mütterlichen Schoß verläßt, sondern die ihm glücklich zufallen, sobald er hier draußen ist – Reichtum, gesellschaftliche Stellung, der gebahnte Lebensweg usw. Aus der Empörung, die ich Ihnen mit diesen Darlegungen veranschauliche, wurde mein damaliger Anarchismus geboren – der Anarchismus, den ich, wie ich Ihnen schon sagte, ohne die geringste Änderung bis heute beibehalten habe.
Er hielt wieder einen Augenblick inne, wie um zu überlegen, wie er fortfahren solle. Er machte einen tiefen Zug und blies den Rauch langsam in die mir entgegengesetzte Richtung. Er wandte sich wieder um und wollte fortfahren. Ich unterbrach ihn jedoch.
–  Eine Frage, aus Neugierde …  Warum sind Sie denn ausgerechnet Anarchist geworden? Sie hätten doch Sozialist werden können oder sonst etwas Fortschrittliches, das näher gelegen hätte. All das hätte doch aus Ihrer Empörung entstehen können …  Ich schließe aus dem, was Sie sagten, daß Sie unter Anarchismus (und ich halte das für eine gute Definition) die Empörung gegen alle gesellschaftlichen Konventionen und Normen verstehen sowie den Wunsch und die Bemühung, sie alle abzuschaffen …
–  Genau dies.
–  Warum haben Sie diese extreme Position gewählt und sich nicht für eine der anderen entschieden …  eine der gemäßigteren …?
–  Das will ich Ihnen sagen. Ich habe dies alles reiflich überlegt. Natürlich habe ich in unseren Propagandaschriften, die ich las, all diese Theorien kennengelernt. Ich habe die anarchistische Theorie gewählt – die extreme Theorie, wie Sie sehr richtig sagen – aus Gründen, die ich Ihnen kurz nennen möchte.
Er starrte einen Augenblick ins Leere. Dann wendete er sich mir zu.


*


–  Das wahre Übel, das einzige Übel, sind die gesellschaftlichen Konventionen und Fiktionen, die die natürlichen Realitäten überlagern – alles, von der Familie bis zum Geld, von der Religion bis zum Staat. Die Menschen werden als Mann oder Frau geboren – ich meine, werden geboren, um, als Erwachsene, Mann oder Frau zu sein; doch werden sie weder geboren, um, im Sinne natürlicher Gerechtigkeit, Ehemann zu sein, noch um reich oder arm zu sein, ebenso wie man nicht geboren wird, um Katholik oder Protestant oder Portugiese oder Engländer zu sein. Dieses alles  beruht nur auf den gesellschaftlichen Fiktionen. Warum sind nun diese gesellschaftlichen Fiktionen schlecht? Weil es Fiktionen sind, weil sie nicht natürlich sind. Genauso schlecht wie das Geld ist der Staat, sind die Institution der Familie wie die Religionen. Wenn es andere außer diesen gäbe, wären sie gleichfalls schlecht, weil es ebenfalls Fiktionen wären, weil auch sie die natürlichen Realitäten überlagerten und störten. Also ist jedes System, das nicht das reine anarchistische System ist, welches die Abschaffung aller Fiktionen will, jedes einzelne ohne Ausnahme, ebenfalls eine Fiktion. All unsere Wünsche, all unsere Bestrebungen, unseren ganzen Verstand einzusetzen, um eine gesellschaftliche Fiktion anstelle einer anderen einzuführen oder beizutragen, sie einzuführen, sind ein Widersinn, wenn sie nicht gar ein Verbrechen sind, denn es bedeutet, gesellschaftliche Unruhen hervorzurufen mit dem ausdrücklichen Ziel, alles beim alten zu belassen. Wenn wir die gesellschaftlichen Fiktionen für ungerecht halten, weil sie das Natürliche im Menschen erdrücken und unterdrücken, warum sollen wir unsere Bemühung darauf richten, sie durch andere zu ersetzen, wenn wir sie darauf richten können, sie allesamt zu vernichten?
»Das scheint mir schlüssig zu sein. Aber nehmen wir einmal an, daß es das nicht wäre; nehmen wir an, man würde uns einwenden, daß dies alles gewiß so sei, daß das anarchistische System jedoch nicht realisierbar sei in der Praxis. Untersuchen wir doch einmal diesen Teil des Problems.
»Warum sollte denn das anarchistische System nicht realisierbar sein? Wir, alle Fortgeschrittenen, gehen von dem Grundsatz aus, nicht nur, daß das gegenwärtige System ungerecht ist, sondern daß es geboten ist, weil gerecht, es durch ein gerechteres zu ersetzen. Wenn wir nicht so denken, sind wir keine Fortgeschrittenen, sondern Spießbürger. Worauf beruht also dieses Kriterium der Gerechtigkeit? Darauf, daß es natürlich und wahrhaft ist, im Gegensatz zu den gesellschaftlichen Fiktionen und den verlogenen Konventionen. Natürlich ist also das, was vollständig natürlich ist, nicht was zur Hälfte, zu einem Viertel oder einem Achtel natürlich ist. Gut. Also, eins von beiden: entweder das Natürliche ist gesellschaftlich realisierbar, oder es ist es nicht, mit anderen Worten, entweder die Gesellschaft kann natürlich sein, oder die Gesellschaft ist wesensmäßig Fiktion und kann auf keinen Fall natürlich sein. Wenn die Gesellschaft natürlich sein kann, dann kann es die anarchistische oder freie Gesellschaft geben, und muß es geben, denn dies ist die vollständig natürliche Gesellschaft. Wenn die Gesellschaft nicht natürlich sein kann, wenn (aus welchem Grund auch immer) sie notwendigerweise Fiktion sein muß, dann gilt das kleinere Übel; dann wollen wir sie, innerhalb dieser unvermeidlichen Fiktion, so natürlich wie möglich machen, damit sie, aus eben diesem Grund, so gerecht wie möglich sei. Welches ist die natürlichste Fiktion? Keine ist an sich natürlich, denn sie ist Fiktion; die natürlichste, in diesem unserem Fall, wird die sein, die natürlich scheint, die man als die natürlichste empfindet. Welches ist die, die am natürlichsten erscheint oder die wir als am natürlichsten empfinden? Es ist die, an die wir uns gewöhnt haben. (Sie verstehen: natürlich ist, was den Instinkt betrifft; und das, was, ohne Instinkt zu sein, in allem dem Instinkt ähnelt, ist die Gewohnheit. Rauchen ist nicht natürlich, es ist keine Notwendigkeit des Instinktes; aber wenn wir gewohnt sind zu rauchen, wird es uns natürlich, empfinden wir es schließlich als eine Notwendigkeit des Instinktes.) Welche ist also unsere gesellschaftliche Fiktion, die eine Gewohnheit von uns darstellt? Es ist das gegenwärtige System, das bürgerliche System. Wir müssen also, logischerweise, entweder die natürliche Gesellschaft für möglich halten, und dann sind wir Verfechter des Anarchismus; oder wir halten sie nicht für möglich, und dann sind wir Verfechter der bürgerlichen Ordnung. Es gibt keine Hypothese dazwischen. Sie verstehen …?
–  Ja, das ist schlüssig.
–  Noch nicht ganz …  Es gilt noch einen weiteren Einwand gleicher Art zu beseitigen …  Auch wenn man zugibt, daß das anarchistische System realisierbar sei, so kann man doch bezweifeln, daß es sofort realisierbar sei – das heißt, daß man von der bürgerlichen Gesellschaft zur freien Gesellschaft übergehen könne, ohne ein oder mehrere Zwischenstadien. Wer diesen Einwand macht, akzeptiert die anarchistische Gesellschaft als gut und realisierbar, doch scheint es ihm, daß es ein Übergangsstadium zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und dieser geben müsse.
»Nun gut. Nehmen wir an, es wäre so. Welches ist dieses Zwischenstadium? Unser Ziel ist die anarchistische oder freie Gesellschaft; dieses Zwischenstadium kann also nur ein Stadium zur Vorbereitung der Menschheit auf die freie Gesellschaft sein. Diese Vorbereitung ist entweder materiell oder schlechthin geistig; das heißt, entweder ist sie eine Reihe von materiellen beziehungsweise gesellschaftlichen Realisationen, die die Menschheit allmählich für die freie Gesellschaft reif machen, oder sie ist lediglich eine stetig zunehmende, immer wirksamere Propaganda, die sie geistig vorbereitet, so daß sie sie wünscht und akzeptiert.
»Zunächst der erste Fall, die allmähliche materielle Vorbereitung der Menschheit auf die freie Gesellschaft. Das ist unmöglich; es ist mehr als unmöglich, es ist unsinnig. Man kann sich materiell nur auf etwas vorbereiten, das es schon gibt. Niemand von uns kann sich materiell auf das dreiundzwanzigste Jahrhundert vorbereiten, selbst wenn er wüßte, wie es aussähe; und man kann sich nicht materiell auf das dreiundzwanzigste Jahrhundert vorbereiten, weil das dreiundzwanzigste Jahrhundert und sein soziales Milieu materiell noch nicht existieren. So gelangen wir zu dem Schluß, daß beim Übergang von der bürgerlichen Gesellschaft zur freien Gesellschaft der einzige Teil, bei dem eine Vorbereitung, eine Entwicklung, ein Übergang möglich ist, der geistige ist, die allmähliche Anpassung des Geistes an die Idee der freien Gesellschaft …  Jedenfalls gibt es auf dem Gebiet der materiellen Anpassung noch eine Hypothese …
–  Zum Kuckuck mit all den Hypothesen …!
–  Mein Lieber, der Mann mit Scharfsinn muß alle möglichen Einwände berücksichtigen und sie widerlegen, ehe er sich seiner Lehre sicher sein kann. Und außerdem ist dies alles eine Antwort auf eine Frage, die Sie mir gestellt haben …
–  Ja gut.
–  Auf dem Gebiet der materiellen Anpassung, sagte ich, gibt es jedenfalls noch eine andere Hypothese. Das ist die von der Revolutionsdiktatur.
–  Der Revolutionsdiktatur, wie das?
–  Wie ich Ihnen darlegte, kann es keine materielle Vorbereitung auf etwas, das materiell noch nicht existiert, geben. Doch wenn sich, durch eine plötzliche Veränderung, die gesellschaftlichen Revolution vollzöge, dann wäre keine freie Gesellschaft errichtet (denn auf diese kann die Menschheit ja nicht vorbereitet sein), sondern eine von den Diktaturen, die die freie Gesellschaft errichten wollen. Doch es existierte schon, wenn auch nur als Plan oder im Ansatz, es existierte schon materiell etwas von der freien Gesellschaft. Es gäbe immerhin schon etwas Materielles, auf das sich die Menschheit vorbereitete. Dies ist das Argument, mit dem die Dummköpfe, die die »Diktatur des Proletariats« verteidigen, diese auch verteidigen würden, wenn sie fähig wären zu argumentieren oder zu denken. Das Argument ist natürlich nicht von ihnen: es ist meins. Ich bringe es als Einwand gegen mich selbst vor. Und, wie ich Ihnen zeigen werde … , es ist nicht stichhaltig.
»Ein Revolutionsgegime ist, solange es existiert, welches auch das angestrebte Ziel oder der leitende Gedanke sei, materiell nur eines – ein Revolutionsregime. Revolutionsregime bedeutet also eine Kriegsdiktatur oder direkter gesagt ein militärisches Gewaltregime, denn der Kriegszustand ist der Gesellschaft von einem ihrer Teile aufgezwungen –  von dem Teil, der in einer Revolution die Macht übernommen hat. Was ist das Ergebnis? Das Ergebnis ist, daß der, der sich an dieses Regime anpaßt, aus dem einzigen Grund, weil es materiell, unmittelbar ist, ein militärisches Gewaltregime ist, sich einem militärischen Gewaltregime anpaßt. Die Idee, von der die Revolutionäre geleitet wurden, das Ziel, das sie anstrebten, ist vollständig hinter der gesellschaftlichen Realität verschwunden, die ausschließlich vom Phänomen des Krieges beherrscht wird. Dergestalt also, daß das, was bei einer revolutionären Diktatur herauskommt – und es kommt um so vollständiger heraus, je länger diese Diktatur  dauert –, eine Kriegsgesellschaft diktatorischen Typs ist, das heißt, eine militärische Gewaltherrschaft. Wie sollte es auch anders sein. Und es ist immer so gewesen. Ich habe keine großen Geschichtskenntnisse, aber was ich weiß, stimmt hiermit überein; und es könnte gar nicht anders sein. Was ist bei den Aufständen von Rom herausgekommen? Das römische Imperium und seine militärische Gewaltherrschaft. Was ist bei der französischen Revolution herausgekommen? Napoleon und seine militärische Gewaltherrschaft. Und Sie werden sehen, was bei der russischen Revolution herauskommt …  Etwas, das die Verwirklichung der freien Gesellschaft um Jahrzehnte verzögern wird … Was sollte man auch erwarten von einem Volk von Analphabeten und Mystikern …?
»Aber das gehört schon nicht mehr hierher …  Sie haben mein Argument verstanden?
–  Vollkommen.
–  Sie verstehen also, daß ich zu diesem Schluß gekommen bin: Zweck: die anarchistische Gesellschaft, die freie Gesellschaft; Mittel: der Durchgang, ohne Übergang, von der bürgerlichen Gesellschaft zur freien Gesellschaft. Dieser Durchgang würde vorbereitet und ermöglicht werden durch eine intensive, umfassende, mitreißende Propaganda, die den Geist empfänglich macht und jeden Widerstand schwächt. Natürlich verstehe ich unter »Propaganda« nicht nur das geschriebene und gesprochene Wort: ich verstehe alles darunter, jede indirekte oder direkte Aktion, die für die freie Gesellschaft empfänglich machen und den Widerstand gegen ihre Verwirklichung bei ihrem Kommen schwächen kann. Da sie also keinerlei Hindernisse zu besiegen haben würde, wäre die gesellschaftliche Revolution, wenn sie käme, schnell, leicht und bräuchte keine Revolutionsdiktatur zu errichten, da es niemanden gäbe, gegen den sie anzuwenden wäre. Wenn dies so nicht möglich ist, dann ist der Anarchismus nicht realisierbar; und wenn der Anarchismus nicht realisierbar ist, ist nur die bürgerliche Gesellschaft als gerechte zu verteidigen, wie ich Ihnen schon bewiesen habe.        
»Jetzt wissen Sie also, warum und wie ich Anarchist wurde, und warum ich die anderen, weniger kühnen Gesellschaftslehren als falsch und widernatürlich abgelehnt habe.
»Und nun …  Wollen wir in meiner Geschichte fortfahren.
Er ließ ein Streichholz aufflammen und zündete sich in aller Ruhe eine Zigarre an. Er sammelte sich und fuhr bald darauf fort.


*


–  Es gab einige andere junge Leute mit den gleichen Ansichten wie ich. Die meisten waren Arbeiter, mit Ausnahme des einen oder anderen; gemeinsam war uns allen, daß wir arm waren, und soweit ich mich erinnere, waren wir nicht die Dümmsten. Wir waren in gewisser Hinsicht bestrebt, uns zu bilden, etwas zu wissen, und zugleich wollten wir Propaganda betreiben, unsere Ideen verbreiten. Wir strebten für uns und für die anderen – für die gesamte Menschheit – eine neue Gesellschaft an, die frei war von all den Vorurteilen, die die Menschen künstlich ungleich machen und sie Erniedrigungen, Leiden, Beschränkungen unterwarfen, die die Natur ihnen nicht auferlegt hatte! Was mich angeht, so bestärkte, was ich las, mich in meinen Anschauungen. Von anarchistischen Büchern, sie waren billig – die es zu der Zeit gab, und das waren nicht wenige –, las ich so gut wie alles. Ich war auf den Sitzungen und Versammlungen der Agitatoren jener Zeit. Jedes Buch und jede Rede ließen mich mehr von der Richtigkeit und Gerechtigkeit meiner Ideen überzeugt sein. Was ich damals dachte – ich wiederhole es, mein Freund –, ist das, was ich heute denke; der einzige Unterschied ist, daß ich es damals nur dachte, und heute denke und praktiziere ich es.
–  Gut; soweit ist alles verständlich. Es leuchtet vollkommen ein, daß Sie auf diese Weise Anarchist geworden sind, und ich sehe durchaus, daß Sie Anarchist waren. Dazu brauche ich keine weiteren Beweise. Ich würde aber gern wissen, wie daraus nun der Bankier hervorgeht … , wie er ohne Widerspruch daraus hervorgegangen ist …  Das heißt, so ungefähr kann ich es mir schon denken …
–  Nichts können Sie sich denken …  Ich weiß, was Sie sagen wollen …  Sie stützen sich auf die Argumente, die Sie eben von mir gehört haben, und meinen, daß ich den Anarchismus für nicht realisierbar und daher, wie ich Ihnen sagte, nur die bürgerliche Gesellschaft für angemessen und verteidigenswert gehalten hätte – stimmt's?
–  Ja, so ungefähr dachte ich es mir.
–  Aber wie könnte das sein, da ich Ihnen seit Beginn des Gespräches immer wieder gesagt habe, daß ich Anarchist bin, daß ich es nicht nur war, sondern weiterhin bin? Wenn ich Bankier und Geschäftsmann aus dem Grund, den sie annehmen, geworden wäre, wäre ich kein Anarchist, ich wäre Bürger.
–  Ja, Sie haben recht …  Aber wie zum Teufel ist es dann …? Weiter, machen Sie weiter …
–  Wie ich Ihnen schon sagte, habe ich mich immer als ziemlich scharfsinniger sowie als Mann der Tat erwiesen. Das sind natürliche Eigenschaften; die hat man mir nicht in die Wiege gelegt (falls ich überhaupt eine hatte), ich habe sie in die Wiege mitgebracht. Also gut. Als Anarchist fand ich es unerträglich, nur auf passive Weise Anarchist zu sein, nur Reden anzuhören und dabei mit den Freunden zu sprechen. Nein: man mußte etwas tun! Man mußte arbeiten und kämpfen für die Sache der Unterdrückten und der Opfer der gesellschaftlichen Konventionen! Ich beschloß, hier einzugreifen, soweit es mir möglich war. Ich überlegte mir, wie ich der anarchistischen Sache nützen könnte. Ich entwarf einen Aktionsplan.
»Was will der Anarchist? Die Freiheit – die Freiheit für sich und für die anderen, für die gesamte Menschheit. Er will frei sein vom Einfluß und vom Druck der gesellschaftlichen Fiktionen; er will frei sein als der, als der er geboren wurde und auf die Welt kam, so wie es gerechterweise sein soll; und er will diese Freiheit für sich und für alle anderen. In Hinsicht auf die Natur können nicht alle gleich sein; die einen sind groß, die anderen klein; die einen stark, die anderen schwach, die einen mehr, die anderen weniger intelligent …  Doch von da an können alle gleich sein; bloß die gesellschaftlichen Fiktionen verhindern es. Diese gesellschaftlichen Fiktionen waren es also, die man zerstören mußte.
»Man mußte sie zerstören …  Doch behielt ich eine Sache im Auge, man mußte sie zerstören, doch zugunsten der Freiheit, immer im Hinblick auf die Schaffung der freien Gesellschaft. Denn die Zerstörung der gesellschaftlichen Fiktionen kann sowohl dazu dienen, die Freiheit zu schaffen, oder den Weg zur Freiheit zu ebnen, als auch dazu, verschiedene andere gesellschaftliche Fiktionen einzuführen, ebenfalls schlechte, weil ebenfalls Fiktionen. Hier galt es achtzugeben. Man mußte eine Vorgehensweise ausfindig machen, gleich ob mit oder ohne Gewalt (denn gegen die gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten war alles erlaubt), die dazu beitrug, die gesellschaftlichen Fiktionen zu zerstören, ohne zugleich die Schaffung der zukünftigen Freiheit zu beeinträchtigen; und dabei, wenn möglich, sogar schon einen Teil der zukünftigen Freiheit schuf.
»Es versteht sich, daß diese Freiheit, die zu behindern man sich hüten muß, die zukünftige Freiheit, sowie, in der Gegenwart, die Freiheit der durch die gesellschaftlichen Fiktionen Unterdrückten ist. Ebenso selbstverständlich ist, daß wir nicht darauf achten müssen, die »Freiheit« der Mächtigen nicht zu behindern, der Wohlhabenden, all derer, die die gesellschaftlichen Fiktionen repräsentieren und Vorteile von ihnen haben. Diese ist keine Freiheit; das ist die Freiheit zu tyrannisieren, was das Gegenteil von Freiheit ist. Diese ist es sogar, die zu behindern und zu bekämpfen wir am meisten trachten müssen. Ich denke, das ist verständlich …
–  Mehr als verständlich. Fahren Sie fort …
–  Für wen will der Anarchist die Freiheit? Für die ganze Menschheit. Auf welche Weise erreicht man die Freiheit für die gesamte Menschheit? Indem man alle gesellschaftlichen Fiktionen vollständig zerstört. Wie kann man alle gesellschaftlichen Fiktionen vollständig zerstören? Ich habe die Erklärung schon vorweggenommen, als ich, anläßlich Ihrer Frage, die anderen fortschrittlichen Systeme erläuterte und Ihnen erklärte, wie und warum ich Anarchist bin …  Sie erinnern sich an meine Schlußfolgerung …?
–  Ja …
–  …  Eine gesellschaftlichen Revolution, die, alles mit sich reißend und unter sich begrabend, losbricht und die Gesellschaft mit einem Schlag aus der bürgerlichen Ordnung in den Stand der freien Gesellschaft versetzt. Diese gesellschaftliche Revolution, die durch eine intensive und beharrliche Arbeit in direkter und indirekter Aktion vorbereitet wurde mit dem Ziel, den Geist auf die Verwirklichung der freien Gesellschaft vorzubereiten und jeden Widerstand des Bürgertums bis hin zur Bewußtlosigkeit zu schwächen. Ich erspare es mir, Ihnen die Gründe zu wiederholen, die unvermeidlich zu dieser Schlußfolgerung führen, innerhalb des Anarchismus; ich habe Sie Ihnen schon dargelegt, und Sie haben sie schon verstanden.
–  Ja.
–  Diese Revolution sollte möglichst in der ganzen Welt stattfinden, an allen Punkten bzw. an allen wichtigen Punkten der Welt zugleich; oder sie muß, wenn dies nicht möglich wäre, schnell von einem auf den anderen Punkt übergreifen, aber auf jeden Fall an jedem Punkt, bei jeder Nation also, blitzartig und total sein.
»Schön und gut. Was konnte ich zur Verwirklichung dieses Zieles beitragen? Allein konnte ich sie nicht machen, die Weltrevolution, ich hätte die totale Revolution nicht einmal in dem Land, in dem ich lebte, machen können. Was ich tun konnte, war, unter Anspannung aller meiner Kräfte an der Vorbereitung zu dieser Revolution mitzuwirken. Ich erklärte Ihnen schon wie: indem ich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln die gesellschaftlichen Fiktionen bekämpfte; wobei ich niemals bei der Durchführung dieses Kampfes oder der Propaganda für die freie Gesellschaft weder die zukünftige Freiheit noch die gegenwärtigen Freiheit der Unterdrückten beeinträchtigte; wobei ich schon, wenn möglich, einen Teil der zukünftigen Freiheit verwirklichte.
Er zog den Rauch ein; machte eine kurze Pause; und fuhr fort.

*


–  Hier nun, mein Freund, setzte ich meinen Scharfsinn ein. Für die Zukunft arbeiten, ist recht, dachte ich; arbeiten, damit die anderen frei würden, selbstverständlich. Aber wo bleibe ich? bin ich niemand? Wenn ich Christ wäre, würde ich freudig für die Zukunft der anderen tätig sein, denn dann würde ich ja dafür im Himmel belohnt; wenn ich aber Christ wäre, wäre ich kein Anarchist, denn dann wären solche gesellschaftlichen Ungleichheiten ohne Bedeutung in unserem kurzen Leben: sie wären nur die Bedingungen unserer Prüfung und würden dann im ewigen Leben belohnt werden. Doch ich war kein Christ, ebensowenig wie jetzt, und ich fragte mich: für wen soll ich mich eigentlich opfern bei all dem? Mehr noch: warum soll ich mich denn opfern?
»Augenblicke des Unglaubens überkamen mich; und Sie verstehen, daß er berechtigt war …  Ich bin Materialist, dachte ich; ich habe nur dieses Leben; was soll ich mich plagen mit Propaganda und gesellschaftlichen Ungleichheiten und anderem Zeug, wenn ich viel mehr Spaß und Vergnügen habe, wenn ich mich nicht damit abgebe? Wer nur dieses Leben hat, wer nicht an das ewige Leben glaubt, wer als Gesetz nur die Natur anerkennt, wer sich dem Staat widersetzt, weil er nicht natürlich ist, der Ehe, weil sie nicht natürlich ist, dem Geld, weil es nicht natürlich ist, allen gesellschaftlichen Fiktionen, weil sie nicht natürlich sind, warum in drei Teufels Namen soll der eigentlich den Altruismus und die Aufopferung für die anderen oder für die Menschheit vertreten, wenn der Altruismus und die Aufopferung ebenfalls nicht natürlich sind? Ja, die gleiche Logik, die mir beweist, daß ein Mensch nicht geboren wird, um verheiratet oder Portugiese oder reich oder arm zu sein, lehrt mich ebenfalls, daß er nicht geboren wird, um solidarisch zu sein, daß er nur geboren wird, um er selber zu sein, demzufolge das Gegenteil eines Altruisten und solidarischen Menschen, und folglich ausschließlich Egoist.
»Ich ging darüber mit mir selbst zu Rate. Bedenke, sagte ich zu mir, daß wir durch unsere Geburt dem Menschengeschlecht angehören und daß wir die Pflicht haben, mit allen Menschen solidarisch zu sein. Doch war die Idee der »Pflicht« natürlich? Woher kam eigentlich diese Idee der »Pflicht«? Wenn diese Idee der Pflicht mich zwang, mein Wohlbefinden, meine Behaglichkeit, meinen Selbsterhaltungstrieb und meine anderen Naturinstinkte zu opfern, worin unterschied sich die Einwirkung dieser Idee von der Einwirkung irgendeiner gesellschaftlichen Fiktion, die in uns genau die gleiche Wirkung hervorbringt?
»Diese Idee der Pflicht, diese menschliche Solidarität, konnte nur als natürlich angesehen werden, wenn sie eine egoistische Kompensation mit sich brachte, denn dann, auch wenn sie grundsätzlich dem natürlichen Egoismus entgegenstand, würde dieser Egoismus mit einer Kompensation bedacht, jedenfalls stand sie ihm dann letztendlich nicht entgegen. Auf ein Vergnügen zu verzichten, so einfach darauf verzichten, ist nicht natürlich; auf ein Vergnügen zugunsten eines anderen zu verzichten, das bleibt schon innerhalb der Grenzen der Natur: zwischen zwei natürlichen Dingen, die man nicht zugleich haben kann, eines auszuwählen, das ist normal. Welche egoistische das heißt natürliche Kompensation konnte ich nun dafür bekommen, daß ich mich der Sache der freien Gesellschaft und des zukünftigen Glücks der Menschen verschrieb? Nur das Bewußtsein der erfüllten Pflicht, der Anstrengung zu einem guten Zweck; nichts davon ist eine egoistische Entschädigung, ein Vergnügen an sich, sondern ein Vergnügen, wenn es eines ist, das einer Fiktion entstammt, so wie es bei dem Vergnügen, steinreich oder in eine gute gesellschaftliche Position hineingeboren zu sein, der Fall sein kann.
»Ich gestehe Ihnen, mein Lieber, daß ich Anfechtungen des Unglaubens hatte …  Ich glaubte meiner Lehre untreu zu sein, sie zu verraten …  Aber bald war ich über das alles hinweg. Die Idee der Gerechtigkeit ist hier, in mir, dachte ich. Ich empfand sie als natürlich. Ich fühlte, daß es eine Pflicht gab, die höher stand als die alleinige Sorge um mein Schicksal. Und ich machte weiter in meinem Sinn.
–  Ich finde nicht, daß diese Entscheidung von großem Scharfsinn Ihrerseits zeugt …  Sie haben die Schwierigkeit nicht gelöst …  Sie haben weitergemacht aus einer vollkommen sentimentalen Anwandlung.
–  Zweifelsohne. Doch was ich Ihnen hier berichte, ist die Geschichte, wie ich Anarchist wurde und wie ich es weiterhin blieb und bin. Ich will Ihnen aufrichtig die Anfechtungen und Probleme, die ich hatte, darlegen, und wie ich ihrer Herr wurde. Ich gebe zu, daß ich zu diesem Zeitpunkt das logische Problem mit dem Gefühl bewältigte und nicht mit dem Verstand. Sie sollen sehen, daß später, als ich zum vollen Verständnis der anarchistischen Lehre gelangte, dieses Problem, bis dahin logisch ungelöst, seine totale und absolute Lösung fand.
–  Interessant …                                                                                                         
–  Ja …  Lassen Sie mich nun in meiner Geschichte fortfahren. Ich hatte dieses Problem, und ich löste es, mehr schlecht als recht, wie ich es Ihnen sagte. Bald darauf zeigte sich in eben der Richtung meiner Gedanken noch ein Problem, das mir auch sehr zu schaffen machte.
»Mochte es noch angehen, daß ich bereit war zu verzichten, ohne eine wirklich persönliche Belohnung, ohne eine wirklich natürliche Belohnung. Aber nehmen wir an, daß die zukünftige Gesellschaft in keiner Weise zu dem werden würde, was ich mir von ihr erhoffte, daß es nie eine freie Gesellschaft geben würde, und warum in aller Welt sollte ich in diesem Fall verzichten? Aufgrund einer Idee zu verzichten, ohne persönliche Belohnung, ohne daß ich etwas gewönne mit meiner Bemühung um diese Idee, das mochte angehen; aber zu verzichten, ohne zumindest überzeugt zu sein, daß das, wofür ich arbeitete, eines Tages Wirklichkeit würde, ohne daß die Idee selbst durch meine Bemühung gewönne – das war doch etwas stark …  Ich sage Ihnen schon jetzt, daß ich dieses Problem mit der gleichen sentimentalen Methode löste, mit der ich das andere gelöst habe; aber ich mache Sie auch darauf aufmerksam, daß ich, ebenso wie das andere, dieses logisch löste, von selbst, als ich zum vollkommenen Bewußtsein über meinen Anarchismus gelangte …  Sie werden es dann sehen …  Zu dem Zeitpunkt, von dem die Rede ist, zog ich mich mit ein paar läppischen Phrasen aus der Verlegenheit. »Ich tat meine Pflicht der Zukunft gegenüber; die Zukunft möge ihre mir gegenüber tun«  …  So in der Art …
»Ich legte diesen Schluß, oder vielmehr diese Schlüsse, meinen Kamaraden dar, und sie stimmten mir alle zu; sie stimmten alle zu, daß man vorwärts gehen und alles für die freie Gesellschaft tun müsse. Wohl geriet der eine oder andere von den Intelligentesten ein wenig ins Schwanken bei meiner Darlegung, nicht weil sie nicht einverstanden waren, sondern weil sie die Dinge nie so klar gesehen hatten, und auch nicht die Schwierigkeiten, die diese Dinge bereiten …  Doch schließlich waren alle einig …  Wir würden alle für die große gesellschaftlichen Revolution, für die freie Gesellschaft arbeiten, gleich ob uns die Zukunft recht geben würde oder nicht! Wir bildeten eine Gruppe von überzeugten Leuten und begannen mit der Propaganda im großen Stil – groß natürlich innerhalb der Grenzen, die uns gesetzt waren. Eine geraume Zeit lang, mit fast unlösbaren Problemen und manchmal Verfolgungen konfrontiert, waren wir für das anarchistische Ideal tätig.
Als der Bankier an diesem Punkt angelangt war, machte er eine längere Pause. Er zündete die Zigarre nicht an, die wieder ausgegangen war. Plötzlich lächelte er schwach, und mit der Miene dessen, der zum Hauptpunkt kommt, heftete er den Blick besonders eindringlich auf mich und fuhr mit klarer Stimme und nachdrücklichen Worten fort.

*


–  Zu dieser Zeit – sagte er –, trat etwas Neues auf. »Zu dieser Zeit« ist eine Redensart. Was ich meine, ist, daß ich nach einigen Monaten dieser Propaganda eine andere Schwierigkeit bemerkte, und das war die größte von allen, die war nun wirklich ernst …
»Sie erinnern sich doch, wie?, daß ich, durch eine rein rationale Überlegung, festlegte, worin die Vorgehensweise der Anarchisten zu bestehen habe …  Eine Methode, oder Methoden, welche auch immer, die dazu beitrügen, die gesellschaftlichen Fiktionen zu zerstören, ohne zugleich die Schaffung der zukünftigen Freiheit zu beeinträchtigen, ohne also in irgendeiner Weise das Wenige an Freiheit, das die derzeit durch die gesellschaftlichen Fiktionen Unterdrückten besitzen, zu beeinträchtigen; eine Methode, die, falls möglich, schon einen Teil der zukünftigen Freiheit schaffen würde …
»Also gut: nachdem dieses Kriterium einmal festgelegt war, war es mir immer gegenwärtig …  Zur Zeit nun unserer Propaganda, von der ich spreche, machte ich eine Entdeckung. In der Propagandagruppe – wir waren nicht viele; wir waren etwa vierzig, wenn ich nicht irre – ergab sich dieser Fall: es entstand Tyrannei.
–  Es entstand Tyrannei …? Tyrannei, wie das?
–  Auf folgende Weise …  Einige befahlen über andere und lenkten diese dahin, wohin sie wollten; einige setzten sich gegen andere durch und zwangen sie, sich so zu verhalten, wie sie es wollten. Ich meine damit nicht, daß sie das in wichtigen Angelegenheiten getan hätten, es gab ja auch gar keine wichtigen Angelegenheiten, bei denen sie es hätten tun können. Doch war es so, daß es immer und jeden Tag geschah, und es kam nicht nur bei den Angelegenheiten vor, die die Propaganda betrafen, sondern auch bei den alltäglichen Dingen. Die einen wurden unmerklich zu Chefs, die anderen unmerklich zu Untergebenen. Die einen waren Chefs durch Zwang, die anderen waren Chefs durch List. Das zeigte sich bei ganz einfachen Dingen. Zum Beispiel: zwei von den Jungs gingen gemeinsam draußen auf der Straße; ans Ende der Straße gekommen, wollte der eine nach rechts, der andere nach links gehen; für jeden war seine Seite die vorteilhaftere. Doch der, der nach links gehen wollte, sagte zum anderen: »gehen wir doch zusammen hier lang« der andere antwortete wahrheitsgemäß: »ich kann nicht, ich muß dorthin« aus dem und dem Grund …  Doch schließlich ging er dann doch, gegen seinen Willen und Vorteil, nach links …  Das geschah das eine Mal durch Überredung, das andere Mal durch einfaches Drängen, das dritte Mal aus irgendeinem anderen Grund …  Es geschah also nie aus einem vernünftigen Grund; es lag immer in diesem Befehlen und diesem Gehorchen etwas Spontanes, gleichsam Instinktives …  in diesem einfachen Fall wie in allen anderen; von den geringfügigsten bis zu den bedeutendsten …  Sie verstehen den Fall?
–  Ja. Aber was zum Teufel ist daran Besonderes? Das ist doch alles nur zu natürlich …!
–  Ist es wohl. Wir kommen noch dazu. Was ich Sie bitte festzuhalten ist, daß es genau das Gegenteil der anarchistischen Lehre ist. Bedenken Sie, daß das in einer kleinen Gruppe geschah, in einer Gruppe ohne Einfluß und Bedeutung, in einer Gruppe, die man nicht mit der Lösung eines wichtigen Problems oder der Entscheidung in einer wichtigen Angelegenheit betraut hatte. Und vergessen Sie nicht, daß es in einer Gruppe von Leuten geschah, die sich gerade deshalb zusammengefunden hatten, um alles in ihrer Macht stehende für das anarchistische Ziel zu tun – also so gut sie konnten die gesellschaftlichen Fiktionen zu bekämpfen und, soweit möglich, die zukünftige Freiheit zu schaffen. Haben Sie diese beiden Punkte im Auge behalten?
–  Ja.
–  Bedenken Sie einmal, was das bedeutet …  Ein kleine Gruppe, aufrichtige Leute (ich versichere Ihnen, daß sie aufrichtig waren!), die ausdrücklich gegründet und gebildet wurde, um für die Sache der Freiheit zu arbeiten, hatte einige Monate später nur eine Sache erreicht, die wirklich und konkret war – daß sie unter sich Tyrannei schufen. Und bedenken Sie, was für eine Tyrannei …  Es war nicht eine Tyrannei, die auf die Einwirkungen der gesellschaftlichen Fiktionen zurückzuführen war, was zwar bedauerlich, aber entschuldbar gewesen wäre, bis zu einem gewissen Punkt, wenn auch weniger bei uns, die diese Fiktionen bekämpften, als bei anderen Leuten; aber wir lebten immerhin in einer Gesellschaft, die auf diesen Fiktionen beruhte, und es wäre nicht ausschließlich unsere Schuld gewesen, wenn wir uns ihren Einwirkungen nicht gänzlich hätten entziehen können. Doch so war es nicht. Die, die über die anderen befahlen oder diese führten, wohin sie es wollten, taten dies nicht durch die Macht des Geldes, der gesellschaftlichen Stellung oder einer anderen Autorität fictiver Art, die sie sich angemaßt hätten; sie taten es unter der Einwirkung von Etwas außerhalb der gesellschaftlichen Fiktionen. Das heißt, diese Tyrannei war im Vergleich zu den gesellschaftlichen Fiktionen eine neue Tyrannei. Und es war eine Tyrannei, die auf Leute ausgeübt wurde, die schon wesentlich durch die gesellschaftlichen Fiktionen unterdrückt waren. Und es war obendrein noch eine Tyrannei, die Leute unter sich ausübten, deren ehrliche Absicht in nichts anderem bestand, als die Tyrannei zu zerstören und Freiheit zu schaffen.
»Nun übertragen Sie den Fall auf eine Gruppe, die viel größer, viel einflußreicher ist, die sich schon mit wichtigen Problemen und Entscheidungen grundsätzlicher Natur befaßt. Lassen Sie diese Gruppe ihre Anstrengungen, wie bei uns, auf die Entstehung einer freien Gesellschaft richten. Und dann sagen Sie mir, ob sie jenseits dieser Last von sich überschneidenden Tyranneien irgendeine zukünftige Gesellschaft sehen, die einer freien Gesellschaft oder einer ihrer selbst würdigen Menschheit gliche …
–  Ja, sehr interessant …
–  Interessant, nicht wahr … Und dann gibt es noch sekundäre Punkte, die auch sehr interessant sind …  Zum Beispiel: die Tyrannei der Hilfe …
–  Die was?
–  Die Tyrannei der Hilfe. Bei uns gab es welche, die, statt den anderen zu befehlen, statt die anderen zu beherrschen, ihnen im Gegenteil in allem möglichen behilflich waren. Sieht wie das Gegenteil aus, wie? Aber sehen Sie, es ist das gleiche. Es ist die gleiche neue Tyrannei. Es ist die gleiche Art, gegen die anarchistischen Prinzipien zu verstoßen.
–  Das ist gut! Wie denn das??
–  Jemandem helfen, mein Lieber, heißt ihn für unfähig zu halten; wenn jemand nicht unfähig ist, dann macht man ihn dazu, oder man hält ihn dafür, das bedeutet im ersten Fall eine Tyrannei und im zweiten eine Verachtung. In einem Fall schränkt man die Freiheit eines anderen ein, im anderen Fall hält man, zumindest unbewußt, den anderen für verachtenswert und unwürdig oder zur Freiheit nicht fähig.  
»Kehren wir zu unserem Fall zurück …  Wie Sie sehen, war dies ein schwerwiegender Punkt. Es mochte noch angehen, daß wir für die zukünftige Gesellschaft arbeiteten ohne Hoffnung, daß sie es uns danken würde, oder daß wir sogar Gefahr liefen, daß sie nie verwirklicht würde. All das mochte ja noch angehen. Was aber zu viel war, war die Tatsache, daß wir für die Zukunft der Freiheit arbeiteten, aber selbst als greifbares Ergebnis nichts anderes zustande brachten als Tyrannei, und nicht nur Tyrannei, sondern eine neue Tyrannei; und eine von uns, den Unterdrückten, gegenseitig ausgeübte Tyrannei. Das ging nun wirklich nicht …
»Ich dachte nach. Hier lag ein Fehler vor, eine Verirrung. Unsere Absichten waren gut; die Lehren schienen unanfechtbar; sollten wir uns in den Methoden geirrt haben? Das mußte es sein. Doch wo zum Teufel steckte der Fehler? Ich dachte darüber nach und verlor schier den Verstand dabei. Eines Tages stieß ich auf die Lösung, plötzlich, wie es immer in solchen Fällen geschieht. Das war der große Tag meiner anarchistischen Theorie: der Tag, an dem ich sozusagen die Technik des Anarchismus entdeckte.
Er schaute mich einen Augenblick an, ohne mich anzuschauen. Dann fuhr er im gleichen Ton fort.
–  Mein Gedanke war folgender …  Wir haben hier eine neue Tyrannei, eine Tyrannei, die nicht auf die gesellschaftlichen Fiktionen zurückzuführen ist. Worauf ist sie dann zurückzuführen? Etwa auf natürliche Eigenschaften? Wenn das so ist, dann leb wohl, freie Gesellschaft! Wenn eine Gesellschaft, in der sich nur die natürlichen Eigenschaften des Menschen geltend machen – diese Eigenschaften, mit denen sie geboren werden, die sie nur der Natur verdanken und über die sie keine Gewalt haben –, wenn eine Gesellschaft, in der allein diese Eigenschaften sich geltend machen, eine Anhäufung von Tyranneien ist, wer wollte da auch nur den kleinen Finger rühren, um zur Verwirklichung dieser Gesellschaft beizutragen? Tyrannei anstelle von Tyrannei, dann mag die bleiben, die da ist, das ist wenigstens die, die wir gewohnt sind und die wir deshalb notwendigerweise weniger fühlen, als wir eine neue Tyrannei fühlen würden, die die schreckliche Eigenart aller tyrannischen Dinge besitzt, die direkt von der Natur stammen – daß man sich nicht gegen sie empören kann, so wie man sich nicht dagegen empören kann, daß man sterben muß, oder dagegen, daß man von niederem Stand ist, und man lieber von hohem Stand wäre. Und ich habe Ihnen ja schon dargelegt, daß, wenn die anarchistische Gesellschaft aus irgendeinem Grund nicht realisierbar wäre, daß dann, als die nächst jener natürlichste von allen, die bürgerliche Gesellschaft existenzberechtigt wäre.
»Aber beruhte nun diese, die so unter uns entstanden war, wirklich auf natürlichen Eigenschaften? Was sind denn natürliche Eigenschaften? Es sind der Intelligenzgrad, die Vorstellungskraft, die Willenskraft usw., mit denen jeder geboren wird – das gilt selbstverständlich für den geistigen Bereich, denn die natürlichen körperlichen Eigenschaften gehören nicht hierher. Also jemand, der, ohne daß er sich auf von den gesellschaftlichen Fiktionen abgeleitete Gründe beriefe, befiehlt über einen anderen, er macht es notwendigerweise, weil er ihm in der einen oder anderen natürlichen Eigenschaft überlegen ist. Er herrscht über ihn durch den Gebrauch seiner natürlichen Eigenschaften. Doch gilt es etwas zu prüfen: ist dieser Gebrauch der natürlichen Eigenschaften legitim, das heißt, ist er natürlich?
»Welches ist nun der natürliche Gebrauch unserer natürlichen Eigenschaften? Er dient den natürlichen Zwecken unserer Persönlichkeit. Wäre demnach die Herrschaft über jemanden ein natürlicher Zweck unserer Persönlichkeit? Das ist möglich; es gibt einen Fall, wo es möglich ist: dann, wenn dieser Jemand uns als Feind gegenübersteht. Für den Anarchisten, versteht sich, gilt jeder Repräsentant der gesellschaftlichen Fiktionen und ihrer Tyrannei als Feind; sonst niemand, denn alle anderen Menschen sind Menschen wie er und natürliche Kameraden. Sie sehen also, es war nicht diese Art von Tyrannei, die wir unter uns geschaffen hatten; die Tyrannie, die wir geschaffen hatten, wurde auf Menschen wie uns ausgeübt, auf natürliche Kameraden, und außerdem noch auf Menschen, die auf zweifache Art unsere Kameraden waren, denn sie waren es noch durch die Gemeinsamkeit desselben Ideals. Schlußfolgerung: diese unsere Tyrannei, wenn sie nicht auf den gesellschaftlichen Fiktionen beruhte, ebensowenig auf den natürlichen Eigenschaften, beruhte auf einer falschen Anwendung, auf einer Perversion der natürlichen Eigenschaften. Wo aber kam diese Perversion her?
»Sie mußte herkommen von einem der beiden Dinge: entweder davon, daß der Mensch von Natur aus schlecht ist, dann waren alle natürlichen Eigenschaften von Natur aus pervertiert; oder von einer Perversion, die daraus resultiert, daß die Menschheit schon so lange in einer Atmosphäre von gesellschaftlichen Fiktionen fortbesteht, die alle Tyrannei hervorbrachten und daher schon instinktiv dazu neigten, den natürlichsten Gebrauch der natürlichsten Eigenschaften in Tyrannei zu verwandeln. Welche nun von diesen beiden Hypothesen war also die zutreffende? Auf befriedigende Weise – das heißt rein logisch oder wissenschaftlich – konnte man das nicht bestimmen. Das reine Denken konnte das Problem nicht lösen, weil es historischer oder wissenschaftlicher Natur ist und auf der Kenntnis von Fakten beruht. Die Wissenschaft ihrerseits hilft uns auch nicht, denn so weit wir auch in der Geschichte zurückgehen, wir stoßen immer auf den Menschen, der in dem einen oder anderen tyrannischen Gesellschaftssystem lebt, demzufolge stets in einem Zustand, der uns nicht erlaubt festzustellen, wie der Mensch ist, wenn er in rein und vollständig natürlichen Umständen lebt. Da wir das mit Gewißheit nicht bestimmen können, müssen wir uns an die wahrscheinlichste Möglichkeit halten; und die wahrscheinlichste Möglichkeit liegt in der zweiten Hypothese. Es ist natürlicher anzunehmen, daß der immerwährende Einfluß der Tyrannei-schaffenden gesellschaftlichen Fiktionen auf die Menschheit jeden Menschen schon mit natürlichen Eigenschaften zur Welt kommen läßt, die pervertiert sind in  dem Sinn, daß er auf spontane Weise Tyrannei ausübt, selbst über die, die er nicht zu tyrannisieren beabsichtigt, statt anzunehmen, daß natürliche Eigenschaften von Natur aus pervertiert sein können, was in gewisser Hinsicht einen Widerspruch darstellt. So entscheidet sich der Philosoph, wie ich mich entschied, mit beinahe absoluter Gewißheit, für die zweite Hypothese.
»Etwas ist also gewiß …  Beim gegenwärtigen Stand der Gesellschaft kann es keine Gruppe von Menschen geben, welche guten Absichten sie auch immer haben mögen, so sehr sie sich auch bemühen mögen, die gesellschaftlichen Fiktionen zu bekämpfen und für die Freiheit zu arbeiten, die zusammen arbeiten, ohne daß sie nicht automatisch untereinander Tyrannei schafften, ohneuntereinander eine neue Tyrannei zu schaffen, zusätzlich zu  der der gesellschaftlichen Fiktionen, ohne in der Praxis all das zu zerstören, was sie in der Theorie wollen, ohne ungewollt mit aller Kraft ihr eigenes Vorhaben zu behindern, das sie fördern wollen. Was ist zu tun? Es ist ganz einfach …  Wir müssen alle auf dasselbe Ziel hinarbeiten, aber getrennt.
–  Getrennt?!
–  Ja. Sind Sie meiner Beweisführung nicht gefolgt?
–  Doch.
–  Und Sie halten diesen Schluß nicht für logisch, nicht für zwingend?
–  Doch, schon …  Was ich nicht ganz verstehe ist, wie das …
–  Das will ich Ihnen verdeutlichen …  Ich sagte: alle arbeiten für dasselbe Ziel, doch getrennt. Indem alle für dasselbe anarchistische Ziel arbeiten, trägt jeder von ihnen mit seiner Anstrengung zur Zerstörung der gesellschaftlichen Fiktionen bei, darauf also richtet er sie und auf die Schaffung der freien Gesellschaft der Zukunft; und wenn wir getrennt arbeiten, können wir nicht, auf keinerlei Weise, neue Tyrannei hervorbringen, denn niemand hat Gewalt über den anderen und kann daher nicht, da er nicht über ihn herrscht, dessen Freiheit einschränken oder sie unterdrücken, indem er ihm hilft.
»Indem wir solchermaßen getrennt für dasselbe anarchistische Ziel arbeiten, haben wir zwei Vorteile – den der gemeinsamen Anstrengung und den, keine neue Tyrannei hervorzubringen. Wir sind weiterhin geeint, denn wir sind es moralisch und arbeiten auf die gleiche Weise für das gleiche Ziel; wir sind weiterhin Anarchisten, denn jeder arbeitet für die freie Gesellschaft; doch sind wir nicht mehr, gewollt oder ungewollt, Verräter an unserer Sache, ja wir können es gar nicht mehr sein, denn wir haben uns, vermittels der isolierten anarchistischen Arbeit, außerhalb des zerstörerischen Einflusses der gesellschaftlichen Fiktionen begeben, außerhalb ihres sich weitervererbenden Reflexes auf die von der Natur verliehenen Eigenschaften.
»Es versteht sich, daß diese ganze Taktik sich auf das bezieht, was ich die Übergangsperiode zur gesellschaftlichen Revolution nannte. Ist die bürgerliche Verteidigung zerstört und die gesamte Gesellschaft in dem Zustand, wo sie die anarchistischen Lehren annimmt, so daß nur noch die gesellschaftliche Revolution durchzuführen ist, dann, für den letzten Schlag, erst dann, muß das getrennte Vorgehen beendet werden. Doch zu diesem Zeitpunkt zeichnet sich schon die freie Gesellschaft als Möglichkeit ab; die Dinge liegen dann schon anders. Die Taktik, von der ich spreche, gilt nur hinsichtlich des anarchistischen Vorgehens zur Zeit der Blüte der bürgerlichen Gesellschaft, wie derzeit, wie in der Gruppe, zu der ich gehörte.
»Das war – endlich! – die wahre anarchistische Methode. Vereint richteten wir nichts Bedeutendes aus, sondern tyrannisierten uns noch obendrein, behinderten sowohl uns gegenseitig als auch unsere Theorien. Getrennt würden wir auch wenig erreichen, doch würden wir zumindest nicht die Freiheit behindern, keine neue Tyrannei hervorbringen; was wir erreicht hätten, so wenig es sein mochte, hätten wir wirklich erreicht, ohne Nachteil oder Verlust. Und je länger wir auf diese Weise getrennt arbeiten würden, würden wir lernen, unseren eigenen Kräften zu vertrauen und uns nicht gegenseitig zu stützen, schon freier zu werden und sowohl uns persönlich als auch die anderen durch unser Beispiel auf die Zukunft vorzubereiten.
»Ich war überglücklich über diese Entdeckung. Ich begann sie sofort meinen Kameraden darzulegen …  Es war eins der wenigen Male in meinem Leben, wo ich dumm war. Bedenken Sie, ich war so begeistert von meiner Entdeckung, daß ich erwartete, sie würden mir beipflichten … !
–  Sie pflichteten natürlich nicht bei …
–  Sie widersprachen, mein Freund, sie widersprachen alle! Die einen mehr, die anderen weniger, alles protestierte … ! Das geht nicht … ! Das ist nicht möglich … ! Aber niemand sagte, was ging oder wie es gehen sollte. Ich versuchte mit Argumenten zu überzeugen, und als Antwort auf meine Argumente bekam ich nur Phrasen zu hören, Müll, sowas, was die Minister vor dem Parlament antworten, wenn sie keine Antwort wissen …  Da sah ich, mit was für Dummköpfen und Feiglingen ich mich abgegeben hatte! Sie hatten die Masken fallenlassen. Dieses Pack war für die Sklaverei geboren. Sie wollten Anarchisten auf Kosten anderer sein. Sie wollten die Freiheit, wenn sie ihnen von anderen besorgt wurde, wenn man sie ihnen gab, wie einen vom König verliehener Titel! So sind sie fast alle, diese Lakaien!
–  Und da wurden Sie böse?
–  Und wie! Ich tobte! Ich ersparte ihnen nichts. Ich spuckte Gift und Galle. Ich wurde fast mit zweien oder dreien handgemein. Schließlich machte ich mich davon. Ich zog mich von allem zurück. Sie können sich nicht vorstellen, wie mich diese stumpfsinnige Herde anwiderte! Ich wollte schon dem Anarchismus abschwören. Ich war schon entschlossen, mich mit all dem nicht mehr abzugeben. Doch nach ein paar Tagen fing ich mich wieder. Ich dachte, daß das anarchistische Ideal hoch über solchen Streitereien stand. Sie wollten keine Anarchisten sein? Dann würde ich es sein. Sie wollten nur Anarchisten spielen? Mir war nicht nach Spielen in so einem Fall. Sie waren nicht stark genug zu kämpfen, außer wenn sie sich gegenseitig stützten und dabei unter sich eine neue Variante der Tyrannei hervorbrachten, die sie angeblich bekämpfen wollten? Sollten sie es doch tun, diese Tölpel, wenn sie zu nichts anderem taugten. Ich jedenfalls würde wegen so einer Kleinigkeit nicht zum Bürger werden.
»Es stand also fest, daß im wahren Anarchismus jeder nach seinen Kräften Freiheit schaffen und die gesellschaftlichen Fiktionen bekämpfen mußte. Ich würde also nach meinen Kräften Freiheit schaffen und die gesellschaftlichen Fiktionen bekämpfen. Es gab niemanden, der mir auf dem wahren Weg des Anarchismus folgen wollte? Dann würde ich ihn gehen. Ich würde allein, nach meinen Möglichkeiten und meinem Glauben, verlassen von allen, sogar ohne die geistige Stütze derer, die meine Kameraden gewesen waren, gegen sämtliche gesellschaftlichen Fiktionen zu Felde ziehen. Ich behaupte nicht, daß es eine edle Geste war oder eine heroische. Es war ganz einfach eine natürliche Geste. Wenn der Weg von jedem einzeln gegangen werden mußte, brauchte ich niemanden sonst, um ihn zu gehen. Mein Ideal genügte. Von diesen Grundsätzen und Bedingungen ausgehend, beschloß ich, die gesellschaftlichen Fiktionen ganz allein zu bekämpfen.
Er hielt für einen Moment inne in seiner Rede, deren Feuer ihn mitgerissen hatte. Bald darauf fuhr er mit schon wieder ruhigerer Stimme fort.


*


–  Es besteht der Kriegszustand, sagte ich mir, zwischen mir und den gesellschaftlichen Fiktionen. Sehr gut. Was kann ich gegen die gesellschaftlichen Fiktionen ausrichten? Ich arbeite allein, um das Entstehen jeglicher Tyrannei auszuschließen. Wie kann ich allein mitarbeiten an der Vorbereitung der gesellschaftlichen Revolution, an der Vorbereitung der Menschheit für die freie Gesellschaft? Ich muß eine der beiden Methoden, der beiden Methoden, die möglich sind, auswählen; falls ich, versteht sich, mich nicht beider bedienen kann. Die beiden Methoden sind die indirekte Vorgehensweise, in Form von Propaganda, und die direkte Vorgehensweise in welcher Form auch immer.
»Ich dachte zunächst an die indirekte Aktion, also an die Propaganda. Welche Propaganda konnte ich ganz allein durchführen? Abgesehen von der Propaganda, die immer im zufälligen Gespräch mit diesem und jenem stattfindet und bei sonstigen Gelegenheiten, die man ausnutzt, wollte ich wissen, ob die indirekte Verfahrensweise für mich ein Weg war, auf dem ich meine Tätigkeit als Anarchist energisch durchführen konnte, so daß also sichtbare Resultate entstanden. Ich sah bald, daß das nicht möglich war. Ich bin kein Redner und kein Schriftsteller. Ich will sagen: ich kann öffentliche Reden halten, wenn es nötig sein sollte, ich kann einen Zeitungsartikel schreiben; aber was ich herausfinden wollte, war, ob meine Naturanlage, wenn ich mich auf die indirekte Vorgehensweise spezialisieren würde, eine ihrer beiden Formen oder beide, eindeutigere Ergebnisse für die anarchistische Idee zeitigen würde, als wenn ich meine Kräfte in einer anderen Richtung spezialisieren würde. Das direkte Vorgehen nun ist immer erfolgversprechender als die Propaganda, außer für solche Menschen, deren Anlage sie wesentlich zum Propagandisten bestimmt – die großen Redner, die die Menge elektrisieren und mitreißen, oder die großen Schriftsteller, deren Bücher fesseln und überzeugen. Ich halte mich nicht für besonders eitel, aber sollte ich es sein, so liegt mir zumindest nicht daran, mich solcher Eigenschaften zu rühmen, die ich nicht habe. Und wie ich Ihnen sagte, lag mir wenig daran, als Redner oder Schriftsteller zu gelten. So ließ ich also den Gedanken an das indirekte Vorgehen fallen als möglichen Weg für meine anarchistische Tätigkeit. Von einigen Ausnahmen abgesehen war ich zum direkten Vorgehen gezwungen, das heißt, ich hatte meine Bemühungen auf das praktische Leben, das reale Leben zu richten. Nicht die Intelligenz war es, sondern die Tatkraft. Sehr gut. So sollte es sein.
»Ich mußte also die grundsätzliche Methode der anarchistischen Tätigkeit, die ich schon dargelegt habe, auf das praktische Leben anwenden – die gesellschaftlichen Fiktionen bekämpfen, ohne neue Tyrannei hervorzubringen und wenn möglich dabei schon einen Teil der zukünftigen Freiheit schaffen. Aber wie zum Teufel macht man das in der Praxis?
»Was heißt denn kämpfen in der Praxis? Kämpfen in der Praxis ist Krieg, ist ein Krieg zumindest. Aber wie führt man Krieg gegen die gesellschaftlichen Fiktionen? Vor allem, wie führt man überhaupt Krieg? Wie besiegt man den Feind in irgendeinem Krieg? Da gibt es zwei Möglichkeiten: man tötet ihn, das heißt, man vernichtet ihn;  oder man nimmt ihn gefangen, das heißt, man unterwirft ihn, man verurteilt ihn zur Wirkungslosigkeit. Die gesellschaftlichen Fiktionen zerstören, das konnte ich nicht vollbringen; die gesellschaftlichen Fiktionen zerstören, das konnte nur die gesellschaftliche Revolution vollbringen. Bis dahin konnten die gesellschaftlichen Fiktionen gelockert, ins Wanken gebracht werden, an einem Faden hängend; doch zerstört werden, das könnten sie erst mit der Verwirklichung der freien Gesellschaft und dem Umsturz der bürgerlichen Gesellschaft. Das äußerste, das ich in dieser Hinsicht hätte tun können, war vernichten – vernichten in der physischen Bedeutung von töten – den einen oder anderen Vertreter der die bürgerliche Gesellschaft repräsentierenden Klassen. Ich studierte den Fall und sah, daß es Unsinn war. Nehmen Sie an, ich würde einen oder zwei oder ein Dutzend Vertreter der Tyrannei der gesellschaftlichen Fiktionen töten …  Das Ergebnis? Würden die gesellschaftlichen Fiktionen ins Wanken gebracht? Nein. Die gesellschaftlichen Fiktionen sind etwas anderes als die politische Lage, die von einer kleinen Anzahl Menschen abhängen kann, manchmal von einem einzigen Menschen. Das Übel der gesellschaftlichen Fiktionen sind diese selbst, in ihrer Gesamtheit, und nicht die Individuen, die sie repräsentieren, außer daß sie ihre Repräsentanten sind. Und dann, ein Attentat gesellschaftlicher Art ruft immer Gegenmaßnahmen hervor; nicht nur, daß alles beim alten bleibt, sondern es wird meist schlimmer. Und außerdem, nehmen Sie an, was möglich wäre, man würde mich nach einem Attentat ergreifen; man würde mich ergreifen und beseitigen, auf die eine oder andere Weise. Und nehmen Sie an, ich hätte ein Dutzend Kapitalisten zur Strecke gebracht. Wozu hätte all das geführt, letztendlich? Mit meiner Beseitigung, selbst wenn sie nicht den Tod bedeutete, sondern nur Gefängnis oder Verbannung, hätte die anarchistische Sache ein Element ihres Kampfes verloren; und das Dutzend Kapitalisten, das ich erledigt hätte, wären nicht zwölf Elemente gewesen, die die bürgerliche Gesellschaft verloren hätte, denn die Elemente, aus denen die Gesellschaft besteht, sind nicht Elemente des Kampfes, sondern vollkommen passive Elemente, denn der »Kampf« gründet sich nicht auf die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auf die Gesamtheit der gesellschaftlichen Fiktionen, auf denen diese Gesellschaft beruht. Die gesellschaftlichen Fiktionen sind keine Leute, auf die man schießen könnte …  Sie verstehen? Ich wäre kein Soldat eines Heeres gewesen, der zwölf Soldaten des gegnerischen Heeres getötet hätte; ich wäre wie ein Soldat gewesen, der zwölf Zivilisten der Nation des anderen Heeres getötet hätte. Das ist ein Töten ohne Verstand, denn es wird kein einziger Kämpfer getötet …  Ich konnte also nicht daran denken, weder insgesamt noch teilweise, die gesellschaftlichen Fiktionen zu zerstören. Ich mußte sie also unterwerfen, sie durch Unterwerfung besiegen, sie zur Wirkungslosigkeit verurteilen.
Er richtete plötzlich den rechten Zeigefinger auf mich.
–  Und das tat ich!
Er zog den Finger gleich wieder zurück und fuhr fort.                                          
–  Ich versuchte herauszufinden, welches die vorherrschende, die wichtigste gesellschaftliche Fiktion war. Diese wäre es, an der ich mein Wort, mehr als an jeder anderen einlösen, und die zu unterwerfen, zur Wirkungslosigkeit zu verurteilen ich versuchen würde. Die wichtigste, zu unserer Zeit jedenfalls, ist das Geld. Wie konnte man das Geld unterwerfen oder, um es genauer zu sagen, die Macht oder die Tyrannei des Geldes? Indem ich mich frei von seinem Einfluß machte, seine Macht, also seinen Einfluß überwand, es zur Wirkungslosigkeit hinsichtlich seiner Bedeutung für mich verdammte. Hinsichtlich seiner Bedeutung für mich, Sie verstehen? denn ich war es, der es bekämpfte; wenn es darum gegangen wäre, es zur Wirkungslosigkeit in bezug auf jedermann zu verdammen, dann hätte das schon nicht mehr seine Unterwerfung, sondern seine Vernichtung bedeutet, denn dann hätte man mit der ganzen Fiktion des Geldes ein Ende machen müssen. Und ich sagte Ihnen ja schon, daß jede gesellschaftliche Fiktion nur durch eine gesellschaftliche Revolution »vernichtet« werden kann, wenn sie beim Sturz der bürgerlichen Gesellschaft mit den anderen mitgerissen wird.
»Wie konnte ich mich über die Macht des Geldes erheben? Das einfachste Mittel wäre gewesen, mich seiner Einflußsphäre, also der Zivilisation, fernzuhalten; mich in der freien Natur aufzuhalten, Wurzeln zu essen und Quellwasser zu trinken; nackt wie ein Tier zu leben. Doch das, selbst wenn es leicht auszuführen gewesen wäre, wäre kein Kampf gegen eine gesellschaftliche Fiktion, wäre nicht einmal ein Kampf: das wäre Flucht. In der Tat, wer einem Kampf ausweicht, wird dabei nicht besiegt. Doch ist er moralisch besiegt, denn er hat nicht gekämpft. Das Mittel mußte ein anderes sein – ein Mittel zum Kampf und nicht zur Flucht. Wie sollte man das Geld im Kampf bezwingen? Wie sich seinem Einfluß und seiner Tyrannei entziehen, ohne das Zusammentreffen mit ihm zu scheuen? Es gab nur ein Mittel – es erwerben, es in ausreichender Menge erwerben, um seinen Einfluß nicht zu spüren; und in je größerer Menge ich es erwürbe, um so freier würde ich von seinem Einfluß. Als ich das deutlich sah, mit der ganzen Kraft meiner Überzeugung als Anarchist und meiner ganzen Logik als scharfsinniger Mensch, trat ich in die letzte Phase meines Anarchismus ein – die als Geschäfts- und Bankmann, mein Freund.
Er machte eine kleine Pause, überwältigt von seiner Begeisterung, in die er sich bei seiner Darstellung erneut gesteigert hatte. Schließlich fuhr er, nicht ohne ein gewisses Feuer, in seiner Erzählung fort.
–  Sie erinnern sich doch an jene beiden logischen Probleme, die, wie ich Ihnen sagte, zu Beginn meiner Laufbahn als bewußter Anarchist aufgetaucht waren … ? Und Sie erinnern sich, wie ich Ihnen sagte, daß ich sie zu jener Zeit künstlich löste, mit dem Gefühl und nicht mit der Logik? Das heißt, Sie selbst haben es bemerkt, und zwar ganz richtig, daß ich sie nicht durch die Logig gelöst hatte.
–  Ja, ich erinnere mich …
–  Und Sie erinnern sich, daß ich Ihnen sagte, daß ich später, als ich schließlich die richtige anarchistische Methode herausfand, sie schließlich endgültig löste, das heißt mit der Logik?
–  Ja.
–  Nun passen Sie auf, wie sie gelöst wurden …  Die Probleme waren diese: es ist nicht natürlich, für etwas zu arbeiten, was es auch immer sei, ohne eine natürliche Belohnung, das heißt, eine egoistische; und es ist nicht natürlich, unsere Anstrengung einem Ziel zu widmen, ohne als Belohnung die Gewißheit zu haben, daß dieses Ziel erreicht werde. Das waren die beiden Schwierigkeiten; jetzt passen Sie auf, wie sie gelöst wurden durch die anarchistische Arbeitsmethode, zu der mich meine Überlegungen als der einzig wahren führten … Die Methode führt zu dem Ergebnis, daß ich reich werde; folglich egoistische Belohnung. Die Methode ist auf das Erlangen der Freiheit gerichtet; indem ich die Macht des Geldes beherrsche, mich also von ihr freimache, erlange ich Freiheit. Ich erlange Freiheit nur für mich, gewiß; doch liegt das daran, wie ich Ihnen schon bewiesen habe, daß die Freiheit für alle nur durch die Zerstörung der gesellschaftlichen Fiktionen, durch die gesellschaftliche Revolution verwirklicht werden kann und daß ich, für mich allein, die gesellschaftliche Revolution nicht machen kann. Der konkrete Punkt ist: ich strebe nach Freiheit, ich erlange Freiheit; ich erlange die Freiheit, die möglich ist, versteht sich, denn die, die nicht möglich ist, kann ich nicht erlangen …  Und nun sehen Sie: abgesehen vom Denken, das diese anarchistische Methode für die einzig wahre erklärt, beweist zudem die Tatsache, daß sie automatisch die logischen Probleme löst, die sich jeder anarchistischen Methode entgegenstellen können, daß sie die richtige ist.
»Das war also die Methode, die ich befolgte. Ich machte mich daran, die Fiktion des Geldes zu beherrschen, indem ich reich wurde. Ich schaffte es. Es brauchte eine gewisse Zeit, denn es war ein schwerer Kampf, doch ich schaffte es. Ich erspare es mir, Ihnen zu erzählen, wie mein Geschäfts- und Bankleben aussah und wie es verlief. Das könnte interessant sein, was gewisse Punkte betrifft vor allem, aber das gehört schon nicht mehr zum Thema. Ich arbeitete, kämpfte, verdiente Geld; ich arbeitete noch mehr, kämpfte noch mehr und verdiente noch mehr Geld; ich verdiente schließlich viel Geld. Die Methoden waren mir egal – ich gestehe Ihnen, mein Freund, daß mir die Methoden egal waren; ich bediente mich aller möglichen Mittel – Aufkauf, Finanzmanöver, sogar unlauterer Wettbewerb. Na und?! Ich bekämpfte die gesellschaftlichen Fiktionen, die unmoralisch und unnatürlich an sich waren, und da sollten mich Methoden interessieren?! Ich arbeitete für die Freiheit und sollte auf die Waffen achten, mit denen man die Tyrannei bekämpfte?! Der primitive Anarchist, der Bomben wirft und der schießt, weiß gut, daß er tötet, und er weiß gut, daß seine Lehren nicht die Todesstrafe beinhalten. Er bekämpft eine Unmoral mit einem Verbrechen, weil er meint, daß diese Unmoral zu zerstören ein Verbrechen wert sei. Er ist primitiv, was die Methode angeht, weil, wie ich Ihnen schon zeigte, diese Methode falsch und kontraprodukiv als anarchistische Methode ist; dagegen hinsichtlich der Moral der Methode ist sie intelligent. Meine Methode war also unwiderlegbar, und ich bediente mich, als Anarchist, zu Recht aller Mittel, um reich zu werden. Heute habe ich meinen begrenzten Traum als praktischer und scharfsinniger Anarchist verwirklicht. Ich bin frei. Ich tue das, was ich will, natürlich innerhalb der Grenzen, in denen es möglich ist. Mein Leitmotiv als Anarchist war die Freiheit; nun gut, ich habe die Freiheit, die Freiheit, die man vorläufig in unserer unvollkommenen Gesellschaft bekommen kann. Ich wollte die gesellschaftlichen Kräfte bekämpfen; ich bekämpfte sie, und ich besiegte sie sogar.
–  Halt, halt! – sagte ich. – Das ist schön und gut, doch da ist etwas, was Sie übersehen haben. Die Bedingungen Ihrer Methode waren, wie Sie bewiesen, nicht nur, Freiheit zu erlangen, sondern auch, keine Tyrannei zu schaffen. Sie haben aber Tyrannei geschaffen. Sie als Spekulant, als Bankier, als skrupelloser Finanzmann – Sie entschuldigen, aber das haben Sie selbst gesagt –, haben Sie Tyrannei geschaffen. Sie haben ebensoviel Tyrannei geschaffen wie jeder andere Repräsentant der gesellschaftlichen Fiktionen, die zu bekämpfen Sie behaupten.
–  Nein, mein Guter, Sie irren sich. Ich habe keine Tyrannei geschaffen. Die Tyrannei, die sich aus meiner Kampftätigkeit gegen die gesellschaftlichen Fiktionen ergeben haben kann, ist eine Tyrannei, die nicht von mir kommt, die ich also nicht geschaffen habe; sie wohnt den gesellschaftlichen Fiktionen inne, ich habe sie ihnen nicht hinzugefügt. Diese Tyrannei ist die Tyrannei der gesellschaftlichen Fiktionen selbst: und ich konnte nicht, und habe es mir auch nicht vorgenommen, die gesellschaftlichen Fiktionen zerstören. Ich sage Ihnen zum hundertsten Mal: allein die gesellschaftliche Revolution kann die gesellschaftlichen Fiktionen zerstören: vorher kann die ideale anarchistische Vorgehensweise, wie die meine, die gesellschaftlichen Fiktionen nur unterwerfen, unterwerfen kann sie nur der Anarchist, der diese Methode in die Praxis umsetzt, denn diese Methode erlaubt keine Unterwerfung dieser Fiktionen in größerem Umfang. Es geht nicht darum, keine Tyrannei zu schaffen: es geht darum, keine neue Tyrannei zu schaffen, Tyrannei, wo vorher keine war. Die Anarchisten, die zusammenarbeiten, sich, wie ich Ihnen sagte, gegenseitig beeinflussen, schaffen untereinander, außerhalb und unabhängig von den gesellschaftlichen Fiktionen, eine Tyrannei; diese ist eine neue Tyrannei. Diese habe ich nicht geschaffen. Ich konnte sie nicht einmal schaffen aufgrund der Bedingungen selbst meiner Methode. Nein, mein Freund; ich habe nur Freiheit geschaffen. Ich habe einen befreit. Ich habe mich selbst befreit. Denn meine Methode, die, wie ich Ihnen bewiesen habe, die einzig wahre anarchistische Methode ist, erlaubt mir nicht, mehr Menschen zu befreien. Wen ich befreien konnte, den habe ich befreit.
–  Gut …  Das gebe ich zu …  Aber bedenken Sie, daß nach dieser Schlußfolgerung die Leute glauben müssen, daß kein Repräsentant der gesellschaftlichen Fiktionen Tyrannei ausübt …
–  Tut er auch nicht. Die Tyrannei kommt von den gesellschaftlichen Fiktionen und nicht von den Menschen, die sie verkörpern; diese sind, um es so zu sagen, die Mittel, derer sich die Fiktionen bedienen, um Tyrannei auszuüben, wie das Messer ein Mittel ist, dessen sich der Mörder bedienen kann. Und Sie glauben gewiß nicht, daß man durch Abschaffung der Messer die Mörder abschafft …  Seh'n Sie …  Angenommen, man würde alle Kapitalisten auf der Welt vernichten, ohne das Kapital zu vernichten …  Am nächsten Tag würde das Kapital, nun in den Händen anderer, vermittels dieser seine Tyrannei fortsetzen. Würde man nicht die Kapitalisten, sondern des Kapital zerstören; wie viele Kapitalisten würden übrigbleiben … ? Sie verstehen … ?
–  Ja; Sie haben recht.
–  Mein Lieber, das Äußerste, das Sie mir vorwerfen können, ist, daß ich ein wenig – sehr, sehr wenig – die Tyrannei der gesellschaftlichen Fiktionen vermehre. Das Argument ist sinnlos, denn wie ich Ihnen schon sagte, die Tyrannei, die ich nicht schaffen durfte und nicht schuf, ist eine andere. Doch hat es einen weiteren schwachen Punkt: Sie können nämlich aus demselben Gedankengang heraus einem General, der  für sein Land kämpft, vorwerfen, daß er seinem Land den Verlust der Anzahl Menschen seines eigenen Heeres zufügt, die er für den Sieg opfern mußte. Wer in den Krieg zieht, teilt aus und steckt ein. Wenn er nur die Hauptsache erreicht; der Rest …
–  Das ist alles richtig …  Aber da ist noch etwas …  Der wahre Anarchist will die Freiheit nicht nur für sich, sondern auch für die anderen …  Er will doch die Freiheit für die gesamte Menschheit …
–  Zweifelsohne. Aber ich sagte Ihnen schon, daß, durch die Methode, die ich herausfand und die die einzige anarchistische Methode ist, jeder sich selbst befreien muß. Ich habe mich selbst befreit; ich habe meine Pflicht zugleich mir gegenüber und der Freiheit gegenüber erfüllt. Warum haben denn die anderen, meine Kameraden, nicht das gleiche gemacht? Ich habe sie nicht daran gehindert. Das wäre nämlich ein Verbrechen gewesen, wenn ich sie daran gehindert hätte. Aber ich habe sie nicht einmal dadurch gehindert, daß ich ihnen die wahre anarchistische Methde verheimlichte; sobald ich die Methode entdeckt hatte, teilte ich sie rückhaltlos den anderen mit. Die Methode selbst verwehrte mir, mehr zu tun. Was hätte ich mehr tun können? Sie dazu zwingen, diesen Weg zu gehen? Selbst wenn ich es hätte tun können, hätte ich es nicht getan, denn das hätte bedeutet, ihnen die Freiheit zu rauben, und das war gegen meine anarchistischen Prinzipien. Ihnen helfen? Das war ebenfalls nicht möglich, aus demselben Grund. Ich habe nie jemandem geholfen und werde nie jemandem helfen, denn dies, da es die Freiheit anderer beschneidet, verstößt ebenfalls gegen meine Prinzipien. Was Sie mir vorwerfen, ist, daß ich nicht mehr Leute bin als nur eine Person. Warum tadeln Sie die Erfüllung meiner Pflicht, zu befreien, soweit ich sie erfüllen konnte? Warum tadeln Sie nicht zuerst diejenigen, die ihre nicht erfüllt haben?
–  Ja, schon. Aber diese Menschen machten nicht das, was Sie machten, versteht sich, weil sie nicht so intelligent waren wie Sie oder weniger Willenskraft besaßen, oder …
–  Oh, mein Freund, das sind schon die natürlichen Ungleichheiten, nicht die gesellschaftlichen …  Damit hat aber der Anarchismus nichts zu tun. Der Intelligenzgrad oder die Willenskraft eines Individuums sind, so wie sie sind, von Natur aus; die eigentlichen gesellschaftlichen Fiktionen sind hier nicht beteiligt. Es gibt natürliche Eigenschaften, wie ich Ihnen schon sagte, von denen man annehmen kann, daß sie durch das lange Fortbestehen der Menschheit innerhalb gesellschaftlicher Fiktionen pervertiert wurden; aber die Perversion betrifft nicht die Stärke der Eigenschaft, die absolut von der Natur gegeben ist, sondern die Anwendung der Eigenschaft. Das Problem der Dummheit oder der Willensschwäche hat nichts mit der Anwendung dieser Eigenschaften zu tun, sondern nur mit ihrer Stärke. Darum sage ich Ihnen: das sind schon ganz und gar die natürlichen Ungleichheiten, an denen niemand etwas ändern kann und an denen keine gesellschaftliche Veränderung etwas ändern kann, so wie sie mich nicht groß machen kann oder Sie klein …
»Es sei denn …  Es sei denn, daß, wie es bei einigen der Fall ist, die weitervererbte Perversion der natürlichen Eigenschaften schon so lange währt, daß sie die Wesensanlage selbst angreift …  Sicher, wenn einer zum Sklaven geboren wird, dann wird er natürlich als Sklave geboren, und ist demzufolge unfähig, irgendeine Anstrengung, sich zu befreien, zu machen …  Doch in dem Fall …  in dem Fall …  was haben diese mit der freien Gesellschaft zu tun oder mit der Freiheit … ? Wenn ein Mensch zum Sklaven geboren wurde, dann ist die Freiheit, da sie seinem Wesen entgegensteht, für ihn eine Tyrannei.
Es trat eine kleine Pause ein. Plötzlich lachte ich laut.
–  Wirklich – sagte ich –, Sie sind ein Anarchist. Auf jeden Fall muß man lachen, gerade nachdem man Sie gehört hat, wenn man vergleicht, was Sie sind, mit dem, was die Anarchisten sind, die es hier gibt …
–  Mein Freund, ich habe Ihnen schon gesagt, Ihnen schon bewiesen, und wiederhole es jetzt …  Der Unterschied ist nur dieser: sie sind nur theoretische Anarchisten, ich bin ein theoretischer und praktischer; sie sind mystische Anarchisten, ich bin ein wissenschaftlicher; sie sind Anarchisten, die sich ducken, ich bin ein Anarchist, der kämpft und befreit …  Mit einem Wort: sie sind Pseudoanarchisten, und ich bin Anarchist.
Und wir erhoben uns vom Tisch.

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