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Felix Philipp Ingold: Sprache als Muse und Musik

Memo/Essay > Aus dem Notizbuch > Essay
Felix Philipp Ingold

Sprache als Muse und Musik
Joseph Joubert über das Melos der Dichtung

für Walter Zimmermann

Joseph Joubert – wenig bekannter Zeitgenosse Goethes, Byrons, Manzonis – ist ein Autor ohne Buch. Als er 1824 siebzigjährig starb, fanden sich in seinem Nachlass Dutzende von chronologisch vollgeschriebenen Heften, dazu zirka 20'000 Einzelblätter und ein umfangreiches Bündel disparater Schriftbögen. Ausserdem hat er zu Hunderten Briefe verfasst, viele davon als freundschaftliche Episteln, andere als Essays oder kleine Abhandlungen. Die Thematik seiner teils politischen, teils philosophischen Notate reicht – auf der Zeitachse zwischen der griechischen Antike und der europäischen Aufklärung – von der Frage nach Gott, nach dem Guten, nach der Moral bis hin zu Problemen der Bildkunst, der Musik, der Architektur und Literatur sowie den Umständen und Konsequenzen der Französischen Revolution.

Als selbstbewusster Generalist traut sich Joubert Ansichten und Urteile über unterschiedlichste Dinge zu, vorzugsweise über Schönheit, Schmerz, Geist, Licht, Erinnerung, Genie, Seele, Klarheit, Geschmack, Natur, Stil, Farbe, Feuer – so gut wie nie indes kommt er auf Hässlichkeit, Gewalt, Armut, Ungerechtigkeit, Verbrechen usf. zu reden: Ein militanter Optimist hält hier wider besseres Wissen an der Wunschvorstellung fest, man lebe in der besten aller Welten. Doch manche Widersprüche, Rückzieher und Hermetismen lassen vermuten, dass sich Joubert insgeheim (entgegen seiner konsequenten Forderung nach Klarheit, Wahrheit, Transparenz) auch der Schattenseiten seiner aufgeklärten Epoche und der Leerstellen seines eigenen Denkens bewusst gewesen ist.


Als aufmerksamer Sprachkritiker beobachtet und analysiert Joseph Joubert auch seine eigene Schreibarbeit, und er gewinnt daraus tiefere Einsicht in das Verhältnis von Idee, Wort und Wirklichkeit. Er fragt sich, was Sprache – zumal Literatursprache – kann und können sollte, aber auch, was ihr naturgemäss unerreichbar bleibt; seine generelle Forderung: Sprache muss «nützlich», wahrheitsgemäss und wirklichkeitstreu sein, deshalb immer klar und knapp gefasst, insgesamt hilfreich und gut.
           Auch wenn Joubert dieses zeittypische Postulat durchweg hochhält und ihm nach Möglichkeit zu entsprechen versucht, ist er keineswegs frei von sprachskeptischen Zweifeln. An einer marginalen Stelle seiner Aufzeichnungen gerät er in selbstkritisches Grübeln darüber, welchen Sinn seine eigenen Texte denn gewinnen könnten, da er sie ja unpubliziert lasse und ihnen damit jegliche «nützliche» Wirkung entziehe. Eine Antwort darauf (eine Lösung dafür) scheint er nicht gesucht zu haben, aber tatsächlich tut sich hier ein abgründiges Paradox auf: Da schreibt ein Autor mit höchster Intelligenz und Disziplin im Verlauf seines Lebens Tausende von Seiten hochkarätiger Prosa vor sich hin, wissend und wollend, dass er selbst deren einziger Leser ist – Leser und Autor in einer Person.


Wo bleibt der von Joubert geforderte aufklärerische «Nutzen» philosophischer und künstlerischer Literatur, wenn sie der Öffentlichkeit vorenthalten wird? Wie kann Literatur gleichsam im Gespräch mit sich selbst der Tugend, der Schönheit, der Vernunft zum Durchbruch verhelfen? Welchen «Nutzen» kann ein literarischer Monolog erbringen? Was vermag der Schreibende aus seinem Exerzitium für sich selbst zu gewinnen? Oder schreibt er vielleicht für ein künftiges Publikum, von dem er mehr Verständnis erwartet als von seinen Zeitgenossen?
        Sicherlich durfte Joseph Joubert darauf zählen, dass jemand aus seinem gelehrten Kollegenkreis sich des Nachlasses annehmen und ihn der Öffentlichkeit zugänglich machen würde: Anderthalb Jahrzehnte nach seinem Tod legte François-René de Chateaubriand, ein langjähriger Freund und Vertrauter, die erste postume Textauswahl im Druck vor (1838).


Das Gedicht, die Dichtung gehört nicht zu Joseph Jouberts bevorzugten Themen – Musik, Skulptur, Baukunst, auch Tanz sind bei ihm weit häufiger im Focus. Wo von Poesie die Rede ist, geht es zumeist um die Versdichtung der Alten (Homer, Horaz, Vergil) oder um Sprache und Stil generell: «Wörter, wohl gewählt, sind abgekürzte Sätze.” – “Wörter sind die Körper und der äußere Ort der Gedanken.” – “Wörter sind durchsichtige Orte oder Spiegel, durch die allein unsere Gedanken sichtbar werden.” Usf.
        Die Aussage (Botschaft, Lehre, Zeugnis) des Gedichts hat bei Joubert Vorrang vor Formfragen, der Vers ist für ihn schlicht ein gut gebauter Satz, und gute Prosa (etwa von Tacitus, Montaigne, Rousseau) kann er durchaus als «poetisch» empfinden. «Solche Prosa», notiert er mit dichterischem Flair am 8. Dezember 1804, «ist Amber, der mit der Rose überdauert hat.» Der Gleichklang von Prosa und Rose verleiht dieser Definition tatsächlich eine lyrische Note.
           Und tatsächlich beweist Joubert mit seinen metaphorisch überhöhten oder aphoristisch zugespitzten Sprüchen beachtliche dichterische Qualitäten und darüber hinaus die Fähigkeit, Sprachform und Aussage gleichermassen zur Geltung zu bringen. Dies erreicht er vorab durch die «Verflüssigung» des Sprachmaterials – Fluss, Strom, Strömung, Zusammen- und Auseinander-fliessen sind seine zentralen poetologischen Metaphern – auf der Klangebene seiner Texte, ein Verfahren, das seiner allgemeinen Forderung nach Klarheit, Einfachheit, Bestimmtheit eigentlich zuwiderläuft. Den guten Stil vergleicht er an einer Stelle mit Bezug auf Jean-Baptiste d’Alembert (le Rond) mit dem «Zeichnen von geometrischen Figuren», den guten Stilisten mit einem «Wortarchitekten, einem Wortmaurer». Der gleiche Widerspruch tut sich auf, wenn Joubert da und dort deutlich macht, er ziehe alles «Runde», jede «Rundung» allem Geraden und Eckigen vor, wobei das «Runde» für alles Naturhafte und Poetische steht, das Gerade und Eckige dagegen für jede Form von Rationalität (Logik, Mathematik usf.).


Joseph Joubert war ein Dichterphilosoph durch und durch, womöglich mehr Dichter als Philosoph. Im Dichter erkannte er den «Menschen» schlechthin und damit das optimale Studienobjekt aller Philosophie. Für «poetisch» hielt er keineswegs nur dichterische Werke, sondern auch schon die Sprache als solche, und sogar – gemäss einer Notiz von 1804 – «das Offenkundige hat etwas Poetisches», will heissen: Selbst die wirkliche Welt ist «poetisch» imprägniert.
           Der Philosoph, meint Joubert, müsse seinen Stil von allem freihalten, «was musikalisch oder poetisch» ist, weil alles Poetische und Musikalische die Klarheit des Denkens, d.h. des sprachlich gefassten Gedankens trübe. Die Dichtung wiederum sei umgekehrt darauf angelegt, aus relativer Ungenauigkeit, ja Dunkelheit klare Gedanken erwachsen zu lassen. Teil daran haben vorab ihre klanglichen Qualitäten, Qualitäten mithin, die der Sprache an sich schon eigen sind, die aber zusätzlich «komponiert» werden müssten, nicht ganz anders als in der Musik: «Die Melodie entspringt auch dem Zusammengesetzten (Komponierten)», schreibt Joubert im Dezember 1797, « – wird sie doch bewerkstelligt durch die harmonische Mischung von Tief und Hoch zugleich im selben Ton.»  


«Es gibt lediglich zwei Arten schöner Wörter», notiert Joseph Joubert im Frühjahr 1802: «Jene, die eine grosse Klang- und Sinnfülle haben – Seele, Wärme und Leben – und jene, die eine grosse Transparenz (Klarheit, Genauigkeit) aufweisen.» Erstere wären der Dichtung zuzuschlagen. Und im Herbst fügt Joubert hinzu: «Wenn ein schönes Wort einen noch schöneren Sinn als den des Autors bietet, dann muss man ihn übernehmen.» Damit ist gesagt, dass die Wörter selbst (das Sprachmaterial) durch ihren «musikalischen» Einsatz sinnbildend sein können; dass also lautliche Assoziationen, Gleichklänge, End- oder Stabreime nicht bloss der Sinnerzeugung und -übertragung dienen, sondern diese eigentlich bedingen. Wenn Joubert seine These dann noch zuspitzt mit der Erklärung, dass «alle schönen Wörter mehrsinnig» seien, markiert er bereits deutlich den Übergang von der Poetik der Aufklärung zu der der Romantik.
         

Die «Schönheit» der Wörter, und das heisst bei Joseph Joubert – ihre klangliche Gefälligkeit ist in ihrem Ursprung unabhängig vom Dichter, sie ist ihm vorgegeben durch die Sprache selbst, muss jedoch erst einmal erkannt, dann auch genutzt und mit den immer schon vorhandenen Wörtern gleichsam instrumentiert werden.
                Wenn Joubert in einem seiner Merksätze männliche und weibliche «Schönheiten» streng unterscheidet, dafür aber zwei sehr ähnlich klingende Adjektive verwendet, ergibt sich daraus eine aufschlussreiche Paradoxie beziehungsweise ein paradoxer Erkenntnisgewinn: Weibliche Schönheiten sind – hier nun aus rein lautlichen Gründen – weich («molles»), männliche indes («mâles») sind, was man beim Lesen selbst ergänzen muss, hart. Die Klangähnlichkeit von (ausgesprochen:) mol und mal bringt den Gegensatz von weiblich und männlich überhaupt erst auf den Punkt.
                An anderer Stelle definiert Joubert «Gott» (dieu) über den Gleichklang kurz und bündig als einen «Ort» (lieu), was allerdings – wie bei all seinen Sprachspielen – allein im Französischen zum Tragen kommt und deshalb als Definition nicht taugen kann. Wenn andrerseits Friedrich Nietzsche «Gott» für «tot» erklärt, tut er es nicht zuletzt um des Reims beziehungsweise des Gleichklangs willen; denn er hätte ja, was er ausdrücken will, auch so sagen können: «Gott ist gestorben.» Oder: «Gott existiert nicht (mehr).» Der Klang, so könnte man mit Joubert wohl annehmen, führt den Gedanken an, oder zumindest modifiziere er ihn.
                Der Autor kommentiert: «Mit Klängen (oder Wörtern) spielen – wenn aus solchem Spiel keinerlei Sinnverwirrung erwächst, sondern im Gegenteil Klarheit, dann ist es ein gefälliges Spiel.» Hundertfach hat er dieses «musikalische» Verfahren in seiner Spruchkunst praktiziert und damit seinen literarischen Stil allmählich unverwechselbar herausgebildet; seine Überzeugung, seine Rechtfertigung dafür fasst er zusammen in dem Satz: «Ineinander fließende, leicht lösliche Wörter sind die schönsten und besten, wenn man die Sprache als Musik auffasst.»


“Sprache als Musik” – der Gegenzug zu Poesie als Malerei, bei der die Darstellung der Formgebung vorgeordnet ist. Auffallend bei Joseph Joubert ist, dass er im Zusammenhang mit Dichtung ebenso oft (und gleichermassen affirmativ) von Malerei wie von Musik als Leitmedium spricht, obwohl eins das andre weitgehend ausschliesst; doch Widersprüche und Gegenläufigkeiten dieser Art finden sich in seinen Heften zuhauf. – Um bei der Musik (der Musikalität) der Verssprache zu bleiben, seien hier – gleichsam als Schlussakkord – aus Jouberts “Heften” einige diesbezügliche Zitate angeführt:


Man glaubt im Klang der Wörter gern so etwas wie eine Idee der Verbindung zu spüren, die zwischen den Ideen liegt, die sie ausdrücken.

Das heisst, ich weiss sehr wohl, was ich in Prosa ausdrücken will, aber in Versen weiss ich es nicht.

Es ist ihre Mehrdeutigkeit, ihre Ungewissheit, sprich die Geschmeidigkeit der Wörter einer ihrer größten Vorteile, um sie präzis verwenden zu können.

In einer Stimme müssen mehrere Stimmen zusammenkommen, damit sie schön ist. Und desgleichen in einem Wort, damit es schön wird, mehrere Bedeutungen.

Wörter, die oft selbst losgelöst von den andern bedeutungsvoll bleiben und uns, auf sich gestellt, allein durch ihren Klang gefallen.

... Es ist wie ein Lied. Man erinnert sich an die Melodie, aber nicht an den Text.

Usf.

*Joseph Joubert, “Alles muss seinen Himmel haben» (Notizen), Verlag Jung & Jung, Salzburg 2018;  “Carnets”. Textes recueillis par André Beaunier. I-II. Éditions Gallimard, Paris 1938; 21994.


Felix Philipp Ingold arbeitet als freier Autor, Übersetzer und Publizist in Zürich; jüngste Buchpublikationen: »Haikulike« (Gedichte, 2023), »Die Zeitinsel« (Roman, 2022), »Überzusetzen« (Essays und Arbeitsproben, 2021); als Herausgeber/Übersetzer: »EinZwei-DreiZeiler« (Minimal Poetry from Russia, Anthologie, 2023).
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