Felix Philipp Ingold: Russische Aphoristik
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Felix Philipp Ingold
Russische Aphoristik
Grigorij Landau und Sergej Bulgakow
(in deutscher Erstübersetzung)
(Textauswahl und Übersetzung von Felix Philipp Ingold)
In dritter, aktualisierter Auflage ist neulich Friedemann Spickers umfangreiches Sammelwerk mit «Aphorismen der Weltliteratur» bei Philipp Reclam in Ditzingen erschienen, rund 350 Druckseiten für 52 Autoren aus einem breiten internationalen Einzugsbereich, chronologisch eingegrenzt auf die Zeit zwischen dem 16. und 21. Jahrhundert – mit einem einzigen Beitrag aus dem 15. Jahrhundert und einem einzigen Autor aus Russland.
Tatsächlich hat die russische Aphoristik im westlichen Europa wie auch in den USA bisher wenig Beachtung gefunden, obwohl sie im Zarenreich wie in der Sowjetunion als durchaus populäre Textsorte gelten konnte. Der einfache Grund dafür liegt wohl darin, dass in Russland «exklusive» (eigenständige) Aphorismen eine Ausnahmeerscheinung sind im Verhältnis zu den mehrheitlich «inklusiven» Aphorismen, die als Zitate aus unterschiedlichen Kontexten (Philosophie, Wissenschaft, Memoiren, Dramen, Romanen, Gedichten usf.) herausgelöst und somit verselbständigt werden. Solche Quasi- oder Pseudoaphorismen bilden die weit überwiegende Mehrheit russischer Aphoristik, gelten aber hierzulande nicht als originales literarisches Genre.
So kommt es, dass Kosma Prutkow, der sicherlich populärste Aphoristiker Russlands im 19. Jahrhundert, weit weniger präsent geblieben ist als die vielen uneigentlichen Vertreter des Genres, etwa die romantischen Dichter Puschkin oder Shukowskij, der Dramatiker Gribojedow, die Erzähler Turgenew, Gontscharow, Dostojewskij, Tschechow und (besonders prominent) Lew Tolstoj, von denen entsprechende Textauszüge in beeindruckender Vielzahl noch heute gleichsam als «Volksweisheiten» kolportiert werden. Einer neueren Statistik zu den aphoristischen Präferenzen des russischen Lesepublikums ist zu entnehmen, dass zu den zehn beliebtesten internationalen Autoren vier Russen gehören, nämlich (in dieser Reihenfolge:) Tolstoj, Tschechow, Majakowskij und Ardow, von denen einzig der Letztere, am wenigsten Bekannte «exklusive» Aphorismen verfasst hat. An erster Stelle rangieren allerdings, noch vor den russischen Autoren, George Bernard Shaw und François La Rochefoucauld.
Der separate, eigens konzipierte Aphorismus hat in Russland als eine fast schon elitäre Ausnahmeerscheinung zu gelten. Den reichsten Fundus echter, intellektuell wie formal überzeugender Aphoristik bieten der vorrevolutionäre russische Modernismus (Kljut-schewskij, Rosanow, Belyj u.a.) und die nachrevolutionäre Exilliteratur (Don-Aminado, Landau u.a.). – Mit Grigorij Landau und Sergej Bulgakow werden nachfolgend zwei bedeutsame russische Aphoristiker in deutscher Erstübersetzung vorgestellt, Bulgakow mit aphoristischen Extrakten, Landau mit eigentlichen Aphorismen.
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Grigorij Landau (1877-1941)
Russisch-jüdischer Jurist, Philosoph, Publizist; emigrierte 1920 aus Petrograd nach Finnland, lebte und arbeitete danach in Deutschland (1920-1938), wo er 1923 ein kulturkritisches Werk vorlegte («Europadämmerung»), das in mancher Hinsicht mit Oswald Spenglers «Untergang des Abendlandes» (1918/1922) korrespondierte, jedoch keine entsprechende Aufmerksamkeit fand. Landau war Mitarbeiter zahlreicher exilrussischer Zeitungen, Zeitschriften und Schrif-tenreihen in Paris, Belgrad, Helsingfors usf. 1938 setzte er sich aus NS-Deutschland nach Lettland ab. Nach dem Anschluss Lettlands an die UdSSR wurde er 1940 vom sowjetischen Geheimdienst NKWD verhaftet, im Juli 1941 hingerichtet. – Landaus aphoristisches Werk, «Epigraphen» (Èpigrafy) erschien 1927 in Berlin als Einzelausgabe und wurde fortgeschrieben in der exilrussischen Zeitschrift «Ziffern» (Čisla, Paris 1930); dieser Publikation entstammen die hier abgedruckten aphoristischen Texte.
Die Seele ist ein ewiges Problem, die Kultur – der ewige Versuch, es zu lösen.
Ohne Wiederholungen keine Tiefe.
Reines Denken – ein Anschlag mit untauglichen Mitteln und darüber hinaus – auf ein nicht vorhandenes Objekt.
Ungestraft, falls es nicht sich selbst bestraft.
Ein würdiger Skeptiker kann man nur mit Schmerz sein, nicht mit Scharfsinn.
Gegen Marx
Ketten mögen das Einzige sein, was man bisweilen abwerfen kann, was man aber keinesfalls verlieren darf.
Vorab musst du den Verbündeten besiegen, wenn du den Feind besiegen willst.
Natürlich ist Heldentum nicht obligatorisch – ausser in dem Fall, dass der Anstand es erfordert.
Nicht im Erbarmen zeigt sich der Hunger nach Leben, sondern in der Verschwendung.
Am gefährlichsten ist der, welcher keiner Fliege Böses antun kann: er wird auch einem Skorpion nicht nahetreten.
Ruhm ist nicht als Lohn gerechtfertigt, sondern als Leistungsausweis.
In der Kultur dient der Gipfel als Basis.
Gott hat keine Religion; Religion gibt es nur unter Menschen.
«Kann sein» bedeutet stets – «kann auch nicht sein».
Ein Hohn – Sitzbänke aufzustellen am Weg nach Golgatha.
Grausamkeit – seelischer Gehalt seelischer Leere.
(bei der Lektüre Gogols)
Deine unfassbaren Leiden sollst du – der Menschheit zum Trost – in möglichst erschütternde Worte und Bilder fassen. Darob wird man weinen voller Freude, dass jemand anderes die Leiden erduldet hat.
Ein Beispiel für Tautologie:
Arme Leute.
Schweissgeruch – der Traum vom Müssiggang.
Allein die Angst vor Demütigung ist schon eine Demütigung.
Sich mit dem Nichtigen zufriedengeben ist vor der Menschheit ein noch grösseres Vergehen als vor sich selbst.
Träumerische Folgerichtigkeit:
Was sein wird … Was sein könnte … Was nicht gewesen ist …
Man braucht nicht gescheit zu sein, um die Dummheit des andern zu begreifen: es genügt, auf andere Weise dumm zu sein.
Dümmer als der, welcher eine Dummheit ausgesprochen hat, ist der, welcher sie ihm glaubte.
Die Unfähigkeit, verantwortlich zu denken, nährt die Meisterschaft, ehrlos zu denken.
Auch ein Tolpatsch kann ein Wortakrobat sein.
Geologie des Geistes
Allein in den Klüften erkennen wir die Struktur der Erde wie des Geistes.
… Er gründet zu tief, als dass sich über ihn Unterschiedliches sagen liesse.
Ausdruckskraft erwächst aus Normbruch.
(deutsch von Felix Philipp Ingold)
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Sergej Bulgakow (1871-1944)
Sergej Bulgakow rechts neben Pawel Florenski.
Religions-,
Geschichts-, Wirtschaftsphilosoph; ab 1918 russisch-orthodoxer Priester.
Pro-fessor an der Universität Moskau (1917-1918), Deputierter der 2. Staatsduma;
setzte sich im Bürgerkrieg auf die Krim ab, wirkte in Jalta als Erzpriester,
wurde 1922 aus Sowjetrussland ausgewiesen und übersiedelte via Konstantinopel
und Prag nach Paris (1925), wo er bis zu seinem Tod als Dozent und
Administrator des Orthodoxen Theologischen Instituts tätig war. Zu Bulgakows
Hauptwerken gehören «Philosophie der Wirtschaft» (1912), «Die Philosophie des
Namens» (1920), «Die Tragödie der Philosophie» (1920). – Die hier präsentierten
aphoristischen Extrakte finden sich in dem Band «Das abendlose Licht» (Svet
nevečernij, Sektion «Der Mensch», 1917).
Der Mensch transzendiert die Welt und ist in solchem Verständnis frei von der Welt, ist eine Nicht-Welt. Durch kein Was ist er zu erfassen, durch keine Definition einzugrenzen, er ist, wie Gott, ein absolutes et-Was.
Persönlichkeit lässt sich nicht definieren, da sie schon immer durch alles definiert ist, wobei sie freilich über all ihre Zustände und Bestimmungen erhaben bleibt.
Genialität ist der männliche, ursprüngliche Impuls des Schöpfertums, heisst – dessen Geist; Talent ist der weibliche, empfangende und geburtliche Ursprung – dessen Seele, Psyche. Von daher ist das Genie ganz Unabhängigkeit und Selbständigkeit, derweil das Talent als die Fähigkeit geistiger Formbildung immer schon ein vorgegebenes Thema oder Motiv hat, das nachmals mehr oder minder vollkommen ausgestaltet wird.
Das Leben ist Schöpfertum, und deshalb ist auch die Geschichte Schöpfertum.
Im Namen ihres nichtirdischen Reiches befreit sich die Kunst von wirtschaftlichen Verpflichtungen, vermag sich jedoch selbst nicht von wirtschaftlichen Bedürfnissen freizuhalten.
Soweit die Wirtschaft ein schöpferisches Element, wenn auch bloss eines von niedrigstem Rang, in sich birgt, gewinnt sie tatsächlich eine Nähe zur Kunst.
Der Mensch empfindet sich in der Welt lediglich als ein ökonomisches Subjekt (economic man), für das die Wirtschaft reiner Kommerzialismus ist, und so wird der ökonomische Instinkt oder Egoismus zur Grundlage seines Lebens.
Natürlich ist die Schönheit ursprünglicher als die Kunst («das Lied ist auf Schönheit angewiesen, nicht die Schönheit auf das Lied»), doch gewinnt die Kunst, die Schönheit zur Erscheinung bringt, eben dadurch eine unerforschliche Tiefe.
Kunst ist keine Rettung, sie lindert das Ungemach des irdischen Daseins nicht, tröstet lediglich darüber hinweg – aber haben ohnmächtige Tröstungen irgendeinen Wert, irgendeine Würde?
Wer nach Schönheit dürstet, ohne ihren Verfall zu akzeptieren, ganz gleich, ob er selbst über künstlerische Begabung verfügt oder nicht, wird seinen Durst niemals löschen können.
Der erste Akt der Selbsterfassung, den die Kunst auf dem Weg ihrer Befreiung vollzieht, ist die Ausrufung ihrer vollkommenen Freiheit und Unabhängigkeit von irgendwelchen äusserlich auferlegten Pflichten und Normen, so sehr diese auch allgemeine Wertschätzung erfahren.
… der Künstler schafft Schönheit in Übereinstimmung mit der Natur, doch bis zu einem gewissen Grad auch wider die Natur.
Der Künstler lauscht dem Gesang der Sirenen und wird dabei selbst zur Sirene, so dass jede Berührung mit dem Leben eine schmerzhafte Grimasse bei ihm hervorruft.
… jedwede Kunst ist in ihrer Tiefe die ganze Kunst, ist Kunst schlechthin, doch diese Einheitlichkeit ist weder an ihrer Oberfläche noch in ihrer Phänomenalität zu suchen.
In seinem Geist beherrscht der Mensch alle Künste, weshalb er sie denn auch alle in sich aufzunehmen vermag, darüber hinaus auch die Kunst der Natur – unentgeltlich ist die Schönheit der Welt zu betrachten.
Doch naturgemäss nähert sich die Epoche der Kunst ihrem Ende, wenn die Schönheit selbst in die Welt tritt.
Macht birgt in sich etwas Rätselhaftes: sie wird nicht geschaffen, sie entsteht, sie wird nicht geboren, sie verwirklicht sich bloss.
Das Element der Macht als solchen – als Befehlsgewalt wie als Unterwerfungsbereitschaft – ist etwas naturhaft Menschliches, etwas Unbedarftes, sie gehört dem Bereich der Relativität an.
Der Mensch ist von der Menschheit nicht zu trennen, er ist ein gleichermassen individuelles und gemeinschaftliches Wesen – Gemeinschaft und Individuum sind bei ihm nicht zu trennen, sind wechselseitig gekoppelt.
Das gesellschaftliche Ideal ist nicht allein auf allgemeine Freiheit und Gleichheit angelegt, sondern auch auf echte Hierarchisierung, ausserhalb deren es keine gesellschaftliche Eintracht geben kann.
Das Ziel der Geschichte liegt nach der Geschichte, im «Leben einer künftigen Epoche», und das Ziel der Welt liegt hinter der Welt – «eine neue Erde und ein neuer Himmel».
(Textauswahl und
Übersetzung von Felix Philipp Ingold)