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Felix Philipp Ingold: Literatur als Betrieb und Geschäft

Memo/Essay > Aus dem Notizbuch > Essay

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Felix Philipp Ingold
Literatur als Betrieb und Geschäft
Retrospektive und Ausblick mit Joseph Roth

Mit einem guten Dutzend erzählerischer Meisterwerke – von «Hotel Savoy» (1924) über «Hiob» (1930) und «Radetzkymarsch» (1932) bis hin zu «Leviathan» (1934) und zur «Legende vom heiligen Trinker» (1939) – hat sich Joseph Roth als ein Klassiker der literarischen Moderne etabliert, und als solcher genießt er auch heute noch eine gewisse Popularität; seine Bücher werden weiterhin nachgedruckt, gern gelesen und vielstimmig kommentiert.

Weniger bekannt sind Roths publizistische Schriften, mit denen er in den 1920er/1930er Jahren Furore machte, Texte unterschiedlichster Form und Thematik: Hunderte von Essays, Reportagen, Feuilletons, Rezensionen, Theater- und Filmkritiken bezeugen seine grapho-manische Energie ebenso wie seine intellektuelle Vielseitigkeit, aber auch seinen abgründigen Weltschmerz angesichts der verlorenen «Welt von gestern» und neuer katastrophischer Bedrohungen – durch den Nationalsozialismus, den Stalinismus sowie den technischen «Fortschritt» bei gleichzeitigem rasantem Niedergang von Bildung und Kultur. Roths damalige Beobachtungen im internationalen Feld der Literatur frappieren nicht allein durch ihre analytische Schärfe, sie führen auch Phänomene und Probleme vor Augen, die noch heute, ein Jahrhundert danach, unverändert relevant sind.


Joseph Roth war wohl ein scharfer Beobachter und Diagnostiker – ein Therapeut oder Ratgeber war er nicht. Dass er immer auch zu schwermütiger, wenn nicht apokalyptischer Verzweiflung tendierte, ist exemplarisch durch sein «Panoptikum» (Gestalten und Kulissen, 1930) und seinen großen späten Essay «Der Antichrist» (1934) belegt. Auch die Literatur sah er von der heraufziehenden Apokalypse bedroht. Zu deren endzeitlicher Symptomatik zählte er die Mutation von Literatur als Kunst zu Literatur als Betrieb und Geschäft, einer Art von Literatur mithin, die sich der Mechanisierung und Automatisierung der kapitalistischen Lebenswelt anpasst (sich diese zum Vorbild nimmt), indem sie auf äußere Anreize und Nachfrage reagiert; eine Literatur, die primär gefallen und verkauft werden will, die auf geschäftlichen und persönlichen Erfolg angelegt ist statt auf eigenständige Sinnbildung und formale Qualität.

Was Roth der zeitgenössischen internationalen Literatur pauschal (und manchen schreibenden Kollegen persönlich) zum Vorwurf macht, liest sich über weite Strecken – verstreut in ungezählten Buchbesprechungen und Kolumnen – wie ein laufender Kommentar zum heutigen Status der sogenannten schönen Literatur. Generell hält er fest, die Belletristik wolle ohne Rücksicht auf künstlerische Verluste lediglich unterhaltsam, spannend, aktuell sein und beziehe sich dabei vorzugsweise auf «Tatsachenmaterial», das sie zu bekömmlicher Lektüre aufbereite. Die Autoren seien zu bloßen Kolporteuren geworden, die ausbeuteten, was sie in der Wirklichkeit (gern auch im eigenen Leben) vorfinden, um es ins Täuschungsgeschäft des gängigen Realismus einzubringen.


«Die meisten unter den sogenannten ‘Jüngsten’ schreiben aus dem Stofflichen her», konstatiert Roth 1929 in einer Rezension für «Die Literarische Welt»: «Sie behandeln ein Material. Sie sind keine Schriftsteller, sie sind Stoffbehandler, Mitteiler (nicht einmal immer Mitteilungsbedürftige). Ihre Sprache ist von einer platten, verluderten Sachlichkeit.» Eben dies ließe sich wortwörtlich auch von der heute rekurrenten Befindlichkeits- und Betroffenheitsbelletristik sagen, von all den Familien-, Leidens-, Flucht-, Sucht-, Missbrauchsgeschichten, die noch immer die Bestseller- und größtenteils auch die Bestenlisten dominieren.

Auch das Beharren heutiger Erfolgsliteratur auf Wokeness, Diversität und Gleichstellung hat Joseph Roth vorwegnehmend schon damals (als es die Begriffe in ihrer gegenwärtigen Bedeutung noch gar nicht gab) kritisch beobachtet und entsprechend auf den Punkt gebracht: «Menschen sind [als literarische Figuren] immer Repräsentanten von Rassen, Nationen, Religionen, Ständen, Typen, und man schlägt die Bücher […] auf wie die bekannten farbigen Blätter in einem grossen Atlas, in dem die Menschen so sauber klassifiziert sind wie die Hunde im Lehrbuch der Naturgeschichte.» – Schon 1931 resignierte Roth in der «Frankfurter Zeitung» mit dem desolaten Fazit: «Es wird jetzt soviel Neues produziert, in der Chemie und in der Literatur. Man verliert den ‘Überblick’. Und man bedarf seiner auch gar nicht.»


Die Kriterien der Korrektheit und Diversität sind zu ergänzen durch die Forderung nach Aktualität und Spannung – das galt zu Joseph Roths Zeiten ebenso, wie es für die konsensfähige Gegenwartsliteratur gilt. «Langeweile» ist seit jeher das schlimmste Verdikt geläufiger Literaturkritik. Man erinnert sich an das öffentliche Gähnen Marcel Reich-Ranickis über Musils Erzählwerk! Also müssen Geschichten, ob Roman oder Erzählung, in jedem Fall «spannend» sein; der Krimi bietet das leicht umsetzbare Muster dafür. Roth wiederum mag «spannende» Texte eher nicht und plädiert statt dessen, im Gegenzug, für literarische Langeweile (lange Weile), die er bei so unterschiedlichen Autoren wie Adalbert Stifter oder Raymond Radiguet gleichermaßen zu schätzen weiß.

Wenn spannende Texte in aller Regel diagonal überflogen werden, hält man sich bei langweiligen Vorlagen notwendigerweise länger auf und lässt sich auf genauere Lektüre ein: Mehr als die Handlung nimmt dann die Schreibweise des Autors das Leseinteresse in Anspruch, etwa der Bau und der Rhythmus der Sätze, die eingebrachten Vergleiche und Metaphern. Roth stellt diesbezüglich fest: « … die Nichthandlung wächst durch solche Präzision zur stärksten Handlung. Die Relativität des ‘Geschehens’ wird fühlbar. Das ‘Ereignis’ ist schon da, ehe es sich ereignet hat. Das Abenteuer, das nicht stattfindet, ist so spannend wie nur einer der abenteuerreichsten Kriminalromane.» – Eine elitäre Lesart? Aber nein, jedermann kann sie einüben und praktizieren. Joseph Roths Hinweis mag denkbar unzeitgemäß sein, doch er hat seine überzeitliche Richtigkeit.


Bleibt die Aktualität, an die alle zeitgenössische Literatur – selbst die Lyrik – angeschlossen sein sollte, auch dann (gerade dann!), wenn sie historische Stoffe und Ereignisse vorführt. Auch dazu wiederholt Joseph Roth nach eigenem Bekunden vergessene «Banalitäten», wenn er Stifters «Witiko», den angeblich langweiligsten und altbackensten Roman der deutschsprachigen Literatur, gegen die «allseits hörbar und autoritär gewordenen Fanatiker der ‘Aktualität’» vehement in Schutz nimmt und all jene Leser und Kritiker zurechtweist, «die ihr Urteil über ein literarisches Werk zuerst von der Frage abhängig machen, ob es auch einen Stoff behandle, der ‘uns Menschen von heute’ angehe – als ob die Formung des Stoffes nicht wichtiger wäre als der Stoff …»

Wenn die «Wichtigkeit» der weithin präsentierten Stoffe seinerzeit durch den Human touch der «Stoffbehandler» beglaubigt wurde, so ist dies – dem inzwischen zelebrierten «Tod des Autors» zum Trotz! – nach wie vor der Fall: Autoren und Autorinnen betreiben ihre Selbstdarstellung professionell in allen Medien, in Homestories, auf Instagram und Linked-In, bei Lesungen, Talkshows, Buchpremieren, Preisverleihungen, Literaturfestivals – ihr Konter-fei gehört obligatorisch zur Werbung und darf auf keinem Cover, auf keiner Umschlagklappe fehlen.

Die Anfänge dieses literarischen Persönlichkeitskults hat Joseph Roth – vor hundert Jahren! – klarsichtig und vorausschauend in der «Frankfurter Zeitung» (1927) wie folgt registriert: «Es ist, als ob die jungen Autoren anfingen, auf ihr Gesicht ebenso stolz zu werden wie auf ihren Stil. Oder als ob eine Art dumpfer Ahnung, dass sie auf ihren Stil nichts mehr sich einzubilden hätten, sie antriebe, mit ihrem Gesicht zu prahlen. Niemals liessen sich Schriftsteller so oft und so nachdrücklich photographieren, porträtieren und veröffentlichen.» Das damalige schlichte Bedürfnis vieler Schriftsteller, «ihre Physiognomien der Mitwelt darzubieten», war lediglich ein erster Ansatz zu dem heute üblichen und gefragten totalen Outing des Autors als Person.  

Roths kritische Beobachtungen zur literarischen Kultur mögen «banal» und zeitbedingt sein – bedenkenswert und «aktuell» sind sie nach wie vor.


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