Felix Philipp Ingold: Geistesblitz und Sprachwitz
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						Felix Philipp Ingold
						
						Geistesblitz und Sprachwitz
						
						Skizze zu einer Poetik des Aphorismus
						
						In einer Zeit der Unübersichtlichkeit,
						der Ungeduld, der vielfach geteilten und entsprechend eingeschränkten
						Aufmerksamkeit könnte der Aphorismus die optimale Textsorte für eine an
						Literatur interessierte Leserschaft sein – maximaler Erkenntnisgewinn aus
						minimaler kunstvoller Sprachform; rascher Input mit nachhaltiger Wirkung;
						leicht zu memorieren und oft von individuellem Nutzen, auch wenn der Aphorismus
						auf allgemeine Geltung angelegt ist. 
						
						            Aphoristisch abgefasste Texte
						bilden, wie knapp auch immer sie ausfallen, eine explizite Ganzheit, sind also
						nicht Fragmente (unfertig, abgebrochen) und auch nicht Zitate aus grösseren
						Kontexten, sondern eigenständige Werke, die in einem Zug gelesen werden
						können und so auch gelesen werden sollten. 
						
						                Doch all diesen
						günstigen Prämissen zum Trotz bleibt aphoristisches Schreiben ein wenig
						beachtetes und schlecht honoriertes Geschäft. Zwar sind Aphorismen in
						Anthologien und auf einschlägigen Websites tausendfach abzurufen, doch die
						Würdigung als eigenständige literarische Kunstform wie auch als eigenständige
						philosophische Ausdrucksweise bleibt ihnen (obwohl die internationale
						Aphoristik wissenschaftlich gut aufgearbeitet ist) weithin vorenthalten: Dass
						ein aphoristisches Werk zum Bestseller gerät oder ein Aphoristiker mit einem
						renommierten Literaturpreis ausgezeichnet wird, ist noch immer gleichermassen
						undenkbar. Wenn demgegenüber nach wie vor dickleibige Romane bevorzugt und
						deshalb unentwegt lanciert werden, deren Lektüre Wochen beanspruchen kann,
						fragt man sich, wieso die ungleich höhere Effizienz aphoristischer Texte so
						konsequent verkannt wird.
						
						•
						
						Tatsache ist
						allerdings, dass Aphorismen, anders als Erzähltexte, nicht diagonal gelesen
						oder gar «überflogen» werden können; dass sie vielmehr auf intensive und
						vollständige Lektüre angewiesen sind, um ihre beabsichtigte Wirkung zu
						erreichen. Die aphoristische Aussage muss gleichzeitig ihrem Inhalt und ihrer
						Sprachform nach begriffen werden – sie ist Denkfigur und rhetorische Figur
						zugleich, Erkenntnisgewinn und Formwahrnehmung bedingen einander, fallen ineins.
						
						            Durch seine
						ebenso komplexe wie vielfältige Rhetorik kann der Aphorismus dichterische
						Qualität gewinnen, die auf ähnlichen, teilweise den selben Sprach- und
						Redeformen beruht. Die antike Aphoristik war diesbezüglich in ihrer Mehrheit
						eine poetische Textgattung, weit ausgeprägter als die später
						massgeblichen aphoristischen Schriften der Aufklärung (Maximen, Reflexionen, Sentenzen)
						– von Chamfort und La Rochefoucauld bis hin zu Joseph Joubert. Vorrang hatten
						versifizierte oder rhythmisch gegliederte Lehr- und Leitsätze mit mehrheitlich moralischer
						Aussage, vorzugsweise als Einzeiler oder als Distichen ausformuliert, angereichert
						durch klangliche Effekte (Assonanzen, Wiederholungen) und deshalb leicht zu
						merken. Andrerseits können keineswegs alle Kürzesttexte auch als
						Aphorismen gelten.
						
						                     Die Nähe der
						Lyrik zur Aphoristik erweist sich (jenseits formaler Ähnlichkeiten) nicht
						zuletzt darin, dass in vielen Gedichten einzelne Zeilen – oft die Schlussverse
						– aphoristisch intendiert und entsprechend abgefasst sind. Religiöse,
						philosophische, auch politische Poesie bietet dafür zahlreiche Beispiele, und
						bekanntlich werden solche Zeilen, obwohl sie am Gesamttext umfangmässig stets
						nur minimalen Anteil haben, häufig als selbständige Merksprüche oder geflügelte
						Worte zitiert. Allerdings sind derartige Einsprengsel für die lyrische Rede
						eher eine Belastung, oft sogar ein Störfaktor, während umgekehrt der Aphorismus
						durch poetische Formgebung gemeinhin an Qualität gewinnt. 
						
						                   Vielzitierte
						Sprüche aus Gedichten («warte nur, balde ruhest du auch»; «du musst dein Leben
						ändern»; «es kommen härtere Zeiten») muten in ihrer lehrhaften Nüchternheit
						geradezu antilyrisch an: Gesinnung und Stimmung geraten unweigerlich in
						Konflikt. Die aphoristische Rede vermag, andersherum, ihre Prägnanz merklich zu
						steigern durch poetische Instrumentierung, wobei aber forcierte Poetizität kein
						Garant für intellektuelle Substanz ist. 
						
						•
						
						Der Aphorismus kann
						als seriöses Gedanken- und Wortspiel nur dann produktiv werden, wenn ihm ein
						Aha!-Effekt gelingt, eine Überraschung also, die bestehendes Wissen düpiert und
						bestehende Erwartungen oder Vorurteile enttäuscht, dabei jedoch jäh den
						geistigen Horizont der Leserschaft erweitert – wenn nicht durch neue, so
						doch durch neu konfigurierte, mithin verfremdete «Wahrheiten», die Sinn wie
						auch Unsinn erbringen können. Selbst lügenhafte Wahrheiten oder wahrhaftige
						Lügen sind gerechtfertigt. Hauptsache bleibt, dass der Aphorismus (nach Manfred
						Hinrich) «einer Mine gleich» den Aha!-Effekt realisiert, «damit jemand hochgeht».  
						
						            Geistesblitz und
						Sprachwitz, Einfall und Ausfall zugleich! Das müsste für jeden Aphoristiker die
						Grundregel sein; tatsächlich aber bleibt dieses elementare Gebot in allzu
						vielen Fällen unerfüllt, und was «aphoristisch» zu sein vorgibt, erweist sich
						dann lediglich als ein Merkspruch, eine Devise, eine Definition, ein elegantes
						Bonmot oder schlimmstenfalls eine Binsenweisheit. Dazu kommt, dass es sich bei
						der Mehrzahl der als «Aphorismen» rapportierten Texte um aphoristische Herleitungen
						handelt, mithin um Auszüge (Zitate) aus grösseren Kontexten (Erzählungen,
						Dramen, Gedichten, Essays u.a.) oder um Anleihen aus dem Fundus von
						Sprichwörtern, Redensarten, Werbetexten u.a.
						
						            Unter diesem
						Gesichtspunkt wäre demnach zu unterscheiden zwischen absoluten, relativen und
						alternativen Aphorismen, mithin solchen, die eigens und exklusiv als
						solche ausgearbeitet worden sind, und Scheinaphorismen, herausgelöst und
						herausgestellt aus bereits bestehenden Zusammenhängen oder bestehend aus
						willkürlich adaptierten Sprüchen aller Art.
						
						Der starke
						eigenständige Aphorismus vergegenwärtigt stets einen Gedankensprung, und
						er selbst ist ein springender Punkt in der logisch und chronologisch gefügten
						Geisteswelt, immer riskant und immer effizient wie ein Gewinnzug beim
						Schachspiel. Solche Gewinnzüge haben bekanntlich ihre eigene, gewissermassen
						artistische «Schönheit», können aber auch hektisch oder grobschlächtig, sogar
						«brutal» bewerkstelligt werden. 
						
						•
						
						Friedrich Paulsen,
						ein namhafter deutscher Schulphilosoph, konstatiert in seinem «System der
						Ethik» (1889), Aphorismen wollten «nicht das Wesen der Sache erschöpfend
						darlegen, sondern von irgend einem Standpunkt aus plötzlich ein
						überraschendes Licht auf sie werfen, wobei denn der selbstverständliche
						Vorbehalt gilt, daß auf dieselbe Sache auch von anderen Punkten aus anderes
						Licht möge geworfen werden». Das ist eine durchaus zutreffende
						Funktionsbestimmung, die aber formale (rhetorische, stilistische, poetische)
						Kriterien völlig ausseracht lässt, obwohl sie für aphoristische Texte – generell
						wie in jedem Einzelfall – unabdingbar sind. 
						
						        Das Wechselspiel
						zwischen Form und Funktion kann im Aphorismus auf Harmonisierung oder auch auf
						Kontrafaktur angelegt sein, muss jedenfalls präzis austariert und koordiniert werden,
						wobei jedes Detail, bis hin zur Rechtschreibung und Interpunktion, zu bedenken
						ist. Keine andere Textgattung, auch nicht das Gedicht, ist auf solch
						detaillierte Ausarbeitung – letztlich also auf Perfektion – angewiesen wie die
						Aphoristik. Dieser hohe Anspruch wird allerdings gern relativiert dadurch, dass
						man auch weniger formstarke Kurztexte (irgendwelche Sinnsprüche, Parolen oder fragmentarische
						Zitate) als Aphorismen gelten lässt. 
						
						               Aphorismen zu
						bewerten – ob mit Lob, ob mit Kritik – ist ein schwieriges Unter-fangen. Denn zu
						beurteilen sind zwei ganz unterschiedliche Qualitäten, nämlich die Qualität des
						Denkens und des Gedachten einerseits, die Qualität der Sprachform und des
						Ausdrucks andrerseits, und beides muss, streng ganzheitlich, in einem gesehen
						werden: Ein ingeniös gefügter Spruch erbringt als solcher nicht
						notwendigerweise auch eine ingeniöse Gedankenfügung. Eine Schwierigkeit liegt
						ausserdem darin, dass es zwar aphoristische «Wahrheiten», nicht aber «die» oder
						«eine» aphoristische Wahrheit gibt. «Wie gleicht doch der Aphorismus dem Janus»,
						gibt der Aphoristiker Peter E. Schumacher zu bedenken: «Er blickt gleichzeitig
						in verschiedene Richtungen.» Und nicht ganz so anschaulich, doch
						übereinstimmend Elazar Benyoëtz: «Vielsagend / heisst / klug geschwiegen.» 
						
						                Was der
						Aphorismus als wahr ausweist, kann auch unwahr sein, und es gibt relative
						Wahrheiten, die nur momentweise Geltung haben, als Möglichkeit, als Ahnung, als
						Wunschtraum. Selbst Lüge oder Verführung haben ihre eigene «Wahrheit» – sie ist
						identisch mit ihrer Wirkung. 
						
						•
						
						Mit der
						Subjektivität, der Relativität, der Eventualität aphoristischer Wahrheiten
						kontrastiert deren klare rigide Sprachform, doch der Kontrast bewirkt hier
						keine Spaltung, bildet keinen Gegensatz, hat vielmehr inhärenten Anteil an dem,
						was den Aphorismus als Ganzes ausmacht. Die Grundoperationen aphoristischen
						Denkens sind mehrheitlich dialektischer Art; als ihre bevorzugten sprachlichen
						Elementarteile kommen die Konjunktionen «und», «aber», «sondern», «also»,
						«folglich» sowie die rhetorischen Wendungen «zwar … aber», «entweder … oder»,
						«je … desto» zum Einsatz. (Demgegenüber sind Aussagen, die für einen
						Sach-verhalt «sowohl … als auch» oder «weder … noch» gelten sollen, in der
						Aphoristik weit weniger gefragt, weil sie die Dialektik aufheben und damit
						jeden Gedankensprung verunmöglichen.)
						
						            Einige in diesem Verständnis charakteristische
						(«absolute») Aphorismen seien hier beispielshalber eingerückt: «Nur wer den Tod
						fürchtet, darf sich seines Mutes rühmen.» (Schnitzler) – «Eine halb neue
						Erfindung mit ganz neuem Namen.» (Lichtenberg) – «Wir sind so gewohnt, uns
						voranderen zu verstellen, dass wir uns am Endevoruns selbst verstellen.» (La
						Rochefoucauld) – «So viel Vorgeschmack auf die Hölle. So wenig Nachgeschmack
						vom Paradies.» (Strauß) – «Man verzweifelt nicht, solange man zweifeln kann.»
						(Benyoëtz) – «Was wir suchen, macht unsere Grösse aus, und was wir finden,
						unsere Mittelmässigkeit.» (Gómez Dávila) – «Die Tatsache, dass das Leben keinen
						Sinn hat, ist ein Grund, um zu leben. Übrigens der einzige.» (Cioran) – «Wir
						haben keinen anderen Beweis für die Existenz der Welt als den, dass wir ohne
						sie nicht existieren würden.» (Napierski) – «Eine Wahrheit hört auf, wahr zu
						sein, wenn sie von mehr als einer Person geglaubt wird.» (Shaw) – «Es gibt
						mehrere Arten, sich vor Versuchungen zu schützen. Aber die sicherste ist
						Feigheit.» (Twain).
						
						             Besondere
						aphoristische Relevanz haben – bei entsprechend häufiger Verwendung –
						gleichbedeutende (synonyme) und gleichklingende (homophone) Ausdrücke, die aber
						sinngemäss einen Gegensatz markieren; dazu gehören auch zahlreiche
						assonantische (klangähnliche) Fügungen, die bei formaler Ähnlichkeit
						inhaltliche Unterschiede festhalten oder zumindest behaupten. Sprachspiel und
						Gedankenspiel sind im Aphorismus fast durchwegs antagonistisch verschränkt; man
						lese: «Je mehr sich einer gehen lässt, um so weniger lassen ihn
						die andern gehen.» (Nietzsche) – «Der Trotz ist die einzige Stärke
						des Schwachen – und eine Schwäche mehr.» (Schnitzler) – «Es ist
						nicht wahr, dass man ohne eine Frau nicht leben kann. Man kann bloss
						ohne eine Frau nicht gelebt haben.» (Kraus) – «Was uns in den Schoss fällt,
						fällt sehr oft unter den Tisch.» (Beutelrock) – «Man muss sich wichtig
						sein, nicht wichtig nehmen.» (Reinhardt) – «Was an der Kunst erklärbar
						ist, erklärt nicht die Kunst.» (Behrmann) – «Sinn. Sonne. Besinnen.
						Besonnen.» (Stölzel) – «Besser als gut kann der Beste nicht
						sein.» (Kudszus). Usf.
						
						              Zwei, drei
						weitere Beispieltexte, von ihren Verfassern als «Aphorismen» deklariert, mögen
						die genannten Spezifika des Genres noch einmal in Nahsicht vor Augen führen,
						und man wird sehen, wie und ob die aphoristische Rede in diesen Fällen an die
						zu erwartende, ja zu fordernde Perfektion herankommt.  
						
						•
						
						Er blieb gern für sich allein,
						
						um nicht einsam sein zu müssen.
						
						(Hans Kudszus)
						
						Wortspiel und
						Gedankenspiel werden in diesem kompakten, diskret rhythmisierten Zweizeiler
						gekonnt verschränkt. Der aphoristische Kunstgriff besteht darin, die
						bedeutungsähnlichen Wörter «einsam» und «allein» aus ihrer gewohnten synonymen Verwendung
						herauszulösen und statt dessen, gerade umgekehrt, ihre Gegensätzlichkeit zu
						behaupten. Implizit wird damit unterstellt, dass «Alleinsein» keine Position
						der Schwäche oder des Elends ist, sondern souveräner Verzicht auf
						gesellschaftliche und auch verwandtschaftliche Beziehungen zugunsten
						dezidierter Selbstbestimmung. Unterstellt wird (in der zweiten Zeile)
						ausserdem, dass Einsamkeit stets sozial bedingt sei, und eben daraus ergibt
						sich der Schluss, wonach gewolltes «Alleinsein» ungewollter «Einsamkeit»
						vorzuziehen ist. Dass das Subjekt des Aphorismus in der dritten Person («er»)
						auftritt, entspricht der üblichen aphoristischen Rhetorik – das
						Personalpronomen wird hier gern als «Platzhalter» oder «Shifter» eingesetzt; es
						könnte in diesem Fall auch «ich», «du» oder «wir» die entsprechende Stelle
						einnehmen. Der vorliegende Aphorismus liesse sich denn auch mit nahezu gleichen
						Worten und ohne jeden Bedeutungs- und Formverlust anders ausschreiben; etwa so:
						«Um nicht einsam sein zu müssen, bleibe man für sich allein.» Was bei Kudszus
						lediglich eine aphoristische Feststellung ist, mutiert solcherart zu einer
						aphoristischen Empfehlung oder Anweisung, doch ihrer Aussage nach bedeuten die
						beiden unterschiedlichen Formulierungen ein Gleiches.
						
						•
						
						Das Gute
						
						ist eine vom Bösen
						
						geschützte Zone
						
						Das Gute warnt vor dem Bösen,
						
						das Böse verspricht Gutes
						
						Das Böse
						
						ergründet nichts,
						
						zerstörend
						
						kommt es auf den Grund
						
						(Elazar Benyoëtz)
						
						Elazar Benyoëtz,
						Alt- und Grossmeister der jüngeren deutschsprachigen Aphoristik, ist weithin
						bekannt für seine präzise Arbeit am Wort und sein philosophisches Interesse an
						der Sprache. Manche seiner aphoristischen Texte haben den Aphorismus selbst zum
						Gegenstand, sind also Aphorismen über Aphoristik («Kürze – Klarheit; Länge –
						Erklärung», «Wenig sprechen … entsprechend schweigen») und nehmen sich oft wie poetisch
						überhöhte Definitionen aus: «Aphorismus – / ein Wort in Sinn getaucht; / ein
						Satz, mit Kunde behaftet». – «Die aphoristische Regel: / handfest und
						federleicht». – «Der Aphorismus / nimmt den Widerspruch vorweg, / der Spruch
						setzt ihn voraus». …– «Aphoristik – / Hochschule des Buchstabierens; /
						massvolle Werklosigkeit». Usf.  
						
						             Tatsächlich sind
						Benyoëtz’ Aphorismen durchwegs sorgsam ausbuchstabiert, bis-weilen erinnern sie
						in ihrer Gediegenheit und Feierlichkeit eher ans Hochamt als an die Hochschule.
						Auch lassen sie jeden Überraschungseffekt und damit die vorrangige Funktion
						aphoristischen Denkens ausseracht. Statt dessen liefern sie in kunstvoller
						Sprachform verbindliche Aussagen, die man gern als «Wahrheiten» akzeptiert.
						Einwendungen dagegen sind an kaum einer Stelle aufzubringen. Jede
						Verunsicherung bleibt aus, man wird solide belehrt, gelegentlich auch
						getröstet. Abgründiges, Zweifelhaftes, Bedrohliches wird einem ebenso wenig
						zugemutet wie Scherz oder Satire. Schöngeistiges hat Vorrang. Ein «aber», ein
						«sondern», ein «entweder … oder» – häufigste Versatzstücke der Aphoristik –
						kommen hier nicht vor.
						
						          Die
						Mehrgliedrigkeit der aphoristischen Rede ist bei Benyoëtz (wie im oben
						angeführten Zitat) ein charakteristisches Merkmal: In aller Regel platziert er
						auf einer Druckseite drei, manchmal vier Kurztexte, die auch separat als
						Aphorismen bestehen könnten, die aber als Ensemble eine synthetische Lesart
						ermöglichen – ein Gedanke, ein Thema wird durch unterschiedliche
						Ausformulierung variiert und dabei auch differenziert. 
						
						              Das Mittelstück
						präsentiert sich in formaler Hinsicht als ein ausgefeilter Aphorismus:
						
						Das Gute warnt vor dem Bösen,
						
						das Böse verspricht Gutes
						
						Das «Gute» und das
						«Böse» werden überkreuz als Gegensätze festgemacht dadurch, dass ihnen
						gegensätzliche Tätigkeitswörter («warnen», «versprechen») zugeordnet sind. Das
						Gute setzt sich warnend (negativ) vom Bösen ab, das Böse realisiert sich, indem
						es Gutes verspricht (positiv). Benoëtz bringt dies sprachlich gediegen auf den
						Punkt, kommt aber gedanklich nicht über die Selbstverständlichkeit hinaus,
						wonach Gut und Böse einander in ihrer Gegensätzlichkeit ausschliessen. Mit
						andern Worten: Ein Aphorismen kann sich trotz formaler Perfektion als trivial
						erweisen.
						
						            Die beiden übrigen Textpartien, die
						erste und die dritte, sind nicht ganz so souverän ausgeführt wie das
						Mittelstück, doch sie geben auch nicht mehr zu denken. «Das Gute / ist eine
						vom Bösen / geschützte Zone» – das ist ein schlichtes Statement, kein
						Aphorismus, und es ist auch als Statement keineswegs überzeugend; denn wieso
						sollte das Böse das Gute gleichsam als Sonderzone «schützen»? Und wovor? Oder
						ist vielleicht gemeint, das Gute sei eine vor dem Bösen geschützte Zone?
						Die Vertauschung, die Beifügung oder die Entfernung eines einzigen Buchstabens
						kann eine aphoristische Aussage in ihr Gegenteil verkehren. 
						
						            Und weiter: «Das Böse / ergründet
						nichts, / zerstörend / kommt es auf den Grund» – auch das ist lediglich eine
						Feststellung, fussend auf dem unergiebigen, weil pleonastischen Wortspiel von
						«ergründen» und «auf den Grund» gehen; beides hat mit Gründlichkeit zu tun,
						«ergründen» heisst einen Grund erkunden, «auf den Grund» kommen heisst einen
						Grund, eine Grenze, ein Ende, eine Lösung finden, könnte aber auch (im Sinn von
						«auf Grund stossen») stranden oder scheitern bedeuten – worauf das Wort «zerstörend»
						zu verweisen scheint. Solche Unentschiedenheiten sollten der Aphoristik
						eigentlich fremd sein, in jedem Fall mindern sie, ungeachtet ihrer Sprachkraft,
						deren intellektuelle Qualität.
						
						•
						
						Nochmals: Der
						Aphorismus kann als seriöses Gedanken- und Wortspiel nur dann produktiv werden,
						wenn ihm ein Aha!-Effekt gelingt – Geistesblitz und Sprachwitz, Einfall und
						Ausfall zugleich! Aphorismen aller Art gibt es übergenug, gelungene
						Aphorismen bleiben (nicht anders als gelungene Gedichte) die Ausnahme; in ihnen
						finden poetische und philosophische 
						
						Komponenten
						gleichwertig zusammen und bilden eine besondere Textsorte, die auch gegenüber
						verwandten Kurzformen wie der Maxime, der Reflexion, dem Gleichnis, dem Rätsel,
						dem Bonmot, dem Kalauer oder dem Werbespruch ihre Eigenständigkeit behauptet.
						
						            Dazu einige Musterbeispiele aus der
						jüngsten deutschsprachigen Aphoristik: «Wer alles überblickt, übersieht
						manches.» (Ansull) – «Eine Philosophie, die man leben könnte, verlöre ihren
						Sinn.» (Eilers) – «Die häufige Verwechslung von wahrer Meinung und der Ware
						Meinung beruht nicht auf Legasthenie.» (Endler) – «Recht ist etwas, das man,
						obwohl man es hat, von allen bekommen will, oder das man, obwohl man es bekam,
						trotzdem nicht hat.» (Fetzer) – «Zwei Menschen sind einer zuviel.» (Hansen) –
						«Haben zwei sich gefunden, fangen sie erst recht damit an, einander zu suchen.»
						(Hesse) – «Nur der Weg zu sich selbst bleibt vom Massentourismus verschont.»
						(Hodjak) – «Der Trug ist ein Gurt, der uns Gewissheit gibt – nur damit sie
						rückwärts wieder genommen werden  kann.»
						(Huber) – «Der Idealist stirbt für seine Idee. Während der Realist für sie
						lebt.» (Huber) – «Gewissheit: Das gute Gewissen 
						des schlechten Denkens.» (Steffens) – «Sprache. Verheerender als ihr
						Verlust ist ihr Gebrauch.» (Steinweg) Usf.
						
						            Damit es klar sei: «Durch Aphorismen
						ist nichts zu verbessern. Zu verbessern sind die Aphorismen.» (Behrmann) Bis
						endlich die Prognose des alten Samuel Johnson sich erfüllen kann, dass «die
						Menschen über kurz oder lang dazu kommen, alles in Aphorismen zu schreiben»,
						ausgenommen die Alltagskommunikation. Die technischen und lebensweltlichen
						Voraussetzungen dafür sind heute zweifellos gegeben – Zeitnot, Beschleunigung,
						Stress einerseits, i-Phone, SMS, digitales Chatting andrerseits. Dennoch bietet
						sich der Aphorismus nicht einfach an, er muss streng gedacht und eigens verfasst
						werden.
						
						Beispiele siehe auch bei Felix Philipp Ingold: »Märzember«. Sprüche und Gedichte.  Wien (Arco Verlag) 2024. 250 Seiten. 14,99 Euro.
 
						 
 
