Felix Philipp Ingold: Geistesblitz und Sprachwitz
Memo/Essay > Aus dem Notizbuch > Essay
0
Felix Philipp Ingold
Geistesblitz und Sprachwitz
Skizze zu einer Poetik des Aphorismus
In einer Zeit der Unübersichtlichkeit,
der Ungeduld, der vielfach geteilten und entsprechend eingeschränkten
Aufmerksamkeit könnte der Aphorismus die optimale Textsorte für eine an
Literatur interessierte Leserschaft sein – maximaler Erkenntnisgewinn aus
minimaler kunstvoller Sprachform; rascher Input mit nachhaltiger Wirkung;
leicht zu memorieren und oft von individuellem Nutzen, auch wenn der Aphorismus
auf allgemeine Geltung angelegt ist.
Aphoristisch abgefasste Texte
bilden, wie knapp auch immer sie ausfallen, eine explizite Ganzheit, sind also
nicht Fragmente (unfertig, abgebrochen) und auch nicht Zitate aus grösseren
Kontexten, sondern eigenständige Werke, die in einem Zug gelesen werden
können und so auch gelesen werden sollten.
Doch all diesen
günstigen Prämissen zum Trotz bleibt aphoristisches Schreiben ein wenig
beachtetes und schlecht honoriertes Geschäft. Zwar sind Aphorismen in
Anthologien und auf einschlägigen Websites tausendfach abzurufen, doch die
Würdigung als eigenständige literarische Kunstform wie auch als eigenständige
philosophische Ausdrucksweise bleibt ihnen (obwohl die internationale
Aphoristik wissenschaftlich gut aufgearbeitet ist) weithin vorenthalten: Dass
ein aphoristisches Werk zum Bestseller gerät oder ein Aphoristiker mit einem
renommierten Literaturpreis ausgezeichnet wird, ist noch immer gleichermassen
undenkbar. Wenn demgegenüber nach wie vor dickleibige Romane bevorzugt und
deshalb unentwegt lanciert werden, deren Lektüre Wochen beanspruchen kann,
fragt man sich, wieso die ungleich höhere Effizienz aphoristischer Texte so
konsequent verkannt wird.
•
Tatsache ist
allerdings, dass Aphorismen, anders als Erzähltexte, nicht diagonal gelesen
oder gar «überflogen» werden können; dass sie vielmehr auf intensive und
vollständige Lektüre angewiesen sind, um ihre beabsichtigte Wirkung zu
erreichen. Die aphoristische Aussage muss gleichzeitig ihrem Inhalt und ihrer
Sprachform nach begriffen werden – sie ist Denkfigur und rhetorische Figur
zugleich, Erkenntnisgewinn und Formwahrnehmung bedingen einander, fallen ineins.
Durch seine
ebenso komplexe wie vielfältige Rhetorik kann der Aphorismus dichterische
Qualität gewinnen, die auf ähnlichen, teilweise den selben Sprach- und
Redeformen beruht. Die antike Aphoristik war diesbezüglich in ihrer Mehrheit
eine poetische Textgattung, weit ausgeprägter als die später
massgeblichen aphoristischen Schriften der Aufklärung (Maximen, Reflexionen, Sentenzen)
– von Chamfort und La Rochefoucauld bis hin zu Joseph Joubert. Vorrang hatten
versifizierte oder rhythmisch gegliederte Lehr- und Leitsätze mit mehrheitlich moralischer
Aussage, vorzugsweise als Einzeiler oder als Distichen ausformuliert, angereichert
durch klangliche Effekte (Assonanzen, Wiederholungen) und deshalb leicht zu
merken. Andrerseits können keineswegs alle Kürzesttexte auch als
Aphorismen gelten.
Die Nähe der
Lyrik zur Aphoristik erweist sich (jenseits formaler Ähnlichkeiten) nicht
zuletzt darin, dass in vielen Gedichten einzelne Zeilen – oft die Schlussverse
– aphoristisch intendiert und entsprechend abgefasst sind. Religiöse,
philosophische, auch politische Poesie bietet dafür zahlreiche Beispiele, und
bekanntlich werden solche Zeilen, obwohl sie am Gesamttext umfangmässig stets
nur minimalen Anteil haben, häufig als selbständige Merksprüche oder geflügelte
Worte zitiert. Allerdings sind derartige Einsprengsel für die lyrische Rede
eher eine Belastung, oft sogar ein Störfaktor, während umgekehrt der Aphorismus
durch poetische Formgebung gemeinhin an Qualität gewinnt.
Vielzitierte
Sprüche aus Gedichten («warte nur, balde ruhest du auch»; «du musst dein Leben
ändern»; «es kommen härtere Zeiten») muten in ihrer lehrhaften Nüchternheit
geradezu antilyrisch an: Gesinnung und Stimmung geraten unweigerlich in
Konflikt. Die aphoristische Rede vermag, andersherum, ihre Prägnanz merklich zu
steigern durch poetische Instrumentierung, wobei aber forcierte Poetizität kein
Garant für intellektuelle Substanz ist.
•
Der Aphorismus kann
als seriöses Gedanken- und Wortspiel nur dann produktiv werden, wenn ihm ein
Aha!-Effekt gelingt, eine Überraschung also, die bestehendes Wissen düpiert und
bestehende Erwartungen oder Vorurteile enttäuscht, dabei jedoch jäh den
geistigen Horizont der Leserschaft erweitert – wenn nicht durch neue, so
doch durch neu konfigurierte, mithin verfremdete «Wahrheiten», die Sinn wie
auch Unsinn erbringen können. Selbst lügenhafte Wahrheiten oder wahrhaftige
Lügen sind gerechtfertigt. Hauptsache bleibt, dass der Aphorismus (nach Manfred
Hinrich) «einer Mine gleich» den Aha!-Effekt realisiert, «damit jemand hochgeht».
Geistesblitz und
Sprachwitz, Einfall und Ausfall zugleich! Das müsste für jeden Aphoristiker die
Grundregel sein; tatsächlich aber bleibt dieses elementare Gebot in allzu
vielen Fällen unerfüllt, und was «aphoristisch» zu sein vorgibt, erweist sich
dann lediglich als ein Merkspruch, eine Devise, eine Definition, ein elegantes
Bonmot oder schlimmstenfalls eine Binsenweisheit. Dazu kommt, dass es sich bei
der Mehrzahl der als «Aphorismen» rapportierten Texte um aphoristische Herleitungen
handelt, mithin um Auszüge (Zitate) aus grösseren Kontexten (Erzählungen,
Dramen, Gedichten, Essays u.a.) oder um Anleihen aus dem Fundus von
Sprichwörtern, Redensarten, Werbetexten u.a.
Unter diesem
Gesichtspunkt wäre demnach zu unterscheiden zwischen absoluten, relativen und
alternativen Aphorismen, mithin solchen, die eigens und exklusiv als
solche ausgearbeitet worden sind, und Scheinaphorismen, herausgelöst und
herausgestellt aus bereits bestehenden Zusammenhängen oder bestehend aus
willkürlich adaptierten Sprüchen aller Art.
Der starke
eigenständige Aphorismus vergegenwärtigt stets einen Gedankensprung, und
er selbst ist ein springender Punkt in der logisch und chronologisch gefügten
Geisteswelt, immer riskant und immer effizient wie ein Gewinnzug beim
Schachspiel. Solche Gewinnzüge haben bekanntlich ihre eigene, gewissermassen
artistische «Schönheit», können aber auch hektisch oder grobschlächtig, sogar
«brutal» bewerkstelligt werden.
•
Friedrich Paulsen,
ein namhafter deutscher Schulphilosoph, konstatiert in seinem «System der
Ethik» (1889), Aphorismen wollten «nicht das Wesen der Sache erschöpfend
darlegen, sondern von irgend einem Standpunkt aus plötzlich ein
überraschendes Licht auf sie werfen, wobei denn der selbstverständliche
Vorbehalt gilt, daß auf dieselbe Sache auch von anderen Punkten aus anderes
Licht möge geworfen werden». Das ist eine durchaus zutreffende
Funktionsbestimmung, die aber formale (rhetorische, stilistische, poetische)
Kriterien völlig ausseracht lässt, obwohl sie für aphoristische Texte – generell
wie in jedem Einzelfall – unabdingbar sind.
Das Wechselspiel
zwischen Form und Funktion kann im Aphorismus auf Harmonisierung oder auch auf
Kontrafaktur angelegt sein, muss jedenfalls präzis austariert und koordiniert werden,
wobei jedes Detail, bis hin zur Rechtschreibung und Interpunktion, zu bedenken
ist. Keine andere Textgattung, auch nicht das Gedicht, ist auf solch
detaillierte Ausarbeitung – letztlich also auf Perfektion – angewiesen wie die
Aphoristik. Dieser hohe Anspruch wird allerdings gern relativiert dadurch, dass
man auch weniger formstarke Kurztexte (irgendwelche Sinnsprüche, Parolen oder fragmentarische
Zitate) als Aphorismen gelten lässt.
Aphorismen zu
bewerten – ob mit Lob, ob mit Kritik – ist ein schwieriges Unter-fangen. Denn zu
beurteilen sind zwei ganz unterschiedliche Qualitäten, nämlich die Qualität des
Denkens und des Gedachten einerseits, die Qualität der Sprachform und des
Ausdrucks andrerseits, und beides muss, streng ganzheitlich, in einem gesehen
werden: Ein ingeniös gefügter Spruch erbringt als solcher nicht
notwendigerweise auch eine ingeniöse Gedankenfügung. Eine Schwierigkeit liegt
ausserdem darin, dass es zwar aphoristische «Wahrheiten», nicht aber «die» oder
«eine» aphoristische Wahrheit gibt. «Wie gleicht doch der Aphorismus dem Janus»,
gibt der Aphoristiker Peter E. Schumacher zu bedenken: «Er blickt gleichzeitig
in verschiedene Richtungen.» Und nicht ganz so anschaulich, doch
übereinstimmend Elazar Benyoëtz: «Vielsagend / heisst / klug geschwiegen.»
Was der
Aphorismus als wahr ausweist, kann auch unwahr sein, und es gibt relative
Wahrheiten, die nur momentweise Geltung haben, als Möglichkeit, als Ahnung, als
Wunschtraum. Selbst Lüge oder Verführung haben ihre eigene «Wahrheit» – sie ist
identisch mit ihrer Wirkung.
•
Mit der
Subjektivität, der Relativität, der Eventualität aphoristischer Wahrheiten
kontrastiert deren klare rigide Sprachform, doch der Kontrast bewirkt hier
keine Spaltung, bildet keinen Gegensatz, hat vielmehr inhärenten Anteil an dem,
was den Aphorismus als Ganzes ausmacht. Die Grundoperationen aphoristischen
Denkens sind mehrheitlich dialektischer Art; als ihre bevorzugten sprachlichen
Elementarteile kommen die Konjunktionen «und», «aber», «sondern», «also»,
«folglich» sowie die rhetorischen Wendungen «zwar … aber», «entweder … oder»,
«je … desto» zum Einsatz. (Demgegenüber sind Aussagen, die für einen
Sach-verhalt «sowohl … als auch» oder «weder … noch» gelten sollen, in der
Aphoristik weit weniger gefragt, weil sie die Dialektik aufheben und damit
jeden Gedankensprung verunmöglichen.)
Einige in diesem Verständnis charakteristische
(«absolute») Aphorismen seien hier beispielshalber eingerückt: «Nur wer den Tod
fürchtet, darf sich seines Mutes rühmen.» (Schnitzler) – «Eine halb neue
Erfindung mit ganz neuem Namen.» (Lichtenberg) – «Wir sind so gewohnt, uns
voranderen zu verstellen, dass wir uns am Endevoruns selbst verstellen.» (La
Rochefoucauld) – «So viel Vorgeschmack auf die Hölle. So wenig Nachgeschmack
vom Paradies.» (Strauß) – «Man verzweifelt nicht, solange man zweifeln kann.»
(Benyoëtz) – «Was wir suchen, macht unsere Grösse aus, und was wir finden,
unsere Mittelmässigkeit.» (Gómez Dávila) – «Die Tatsache, dass das Leben keinen
Sinn hat, ist ein Grund, um zu leben. Übrigens der einzige.» (Cioran) – «Wir
haben keinen anderen Beweis für die Existenz der Welt als den, dass wir ohne
sie nicht existieren würden.» (Napierski) – «Eine Wahrheit hört auf, wahr zu
sein, wenn sie von mehr als einer Person geglaubt wird.» (Shaw) – «Es gibt
mehrere Arten, sich vor Versuchungen zu schützen. Aber die sicherste ist
Feigheit.» (Twain).
Besondere
aphoristische Relevanz haben – bei entsprechend häufiger Verwendung –
gleichbedeutende (synonyme) und gleichklingende (homophone) Ausdrücke, die aber
sinngemäss einen Gegensatz markieren; dazu gehören auch zahlreiche
assonantische (klangähnliche) Fügungen, die bei formaler Ähnlichkeit
inhaltliche Unterschiede festhalten oder zumindest behaupten. Sprachspiel und
Gedankenspiel sind im Aphorismus fast durchwegs antagonistisch verschränkt; man
lese: «Je mehr sich einer gehen lässt, um so weniger lassen ihn
die andern gehen.» (Nietzsche) – «Der Trotz ist die einzige Stärke
des Schwachen – und eine Schwäche mehr.» (Schnitzler) – «Es ist
nicht wahr, dass man ohne eine Frau nicht leben kann. Man kann bloss
ohne eine Frau nicht gelebt haben.» (Kraus) – «Was uns in den Schoss fällt,
fällt sehr oft unter den Tisch.» (Beutelrock) – «Man muss sich wichtig
sein, nicht wichtig nehmen.» (Reinhardt) – «Was an der Kunst erklärbar
ist, erklärt nicht die Kunst.» (Behrmann) – «Sinn. Sonne. Besinnen.
Besonnen.» (Stölzel) – «Besser als gut kann der Beste nicht
sein.» (Kudszus). Usf.
Zwei, drei
weitere Beispieltexte, von ihren Verfassern als «Aphorismen» deklariert, mögen
die genannten Spezifika des Genres noch einmal in Nahsicht vor Augen führen,
und man wird sehen, wie und ob die aphoristische Rede in diesen Fällen an die
zu erwartende, ja zu fordernde Perfektion herankommt.
•
Er blieb gern für sich allein,
um nicht einsam sein zu müssen.
(Hans Kudszus)
Wortspiel und
Gedankenspiel werden in diesem kompakten, diskret rhythmisierten Zweizeiler
gekonnt verschränkt. Der aphoristische Kunstgriff besteht darin, die
bedeutungsähnlichen Wörter «einsam» und «allein» aus ihrer gewohnten synonymen Verwendung
herauszulösen und statt dessen, gerade umgekehrt, ihre Gegensätzlichkeit zu
behaupten. Implizit wird damit unterstellt, dass «Alleinsein» keine Position
der Schwäche oder des Elends ist, sondern souveräner Verzicht auf
gesellschaftliche und auch verwandtschaftliche Beziehungen zugunsten
dezidierter Selbstbestimmung. Unterstellt wird (in der zweiten Zeile)
ausserdem, dass Einsamkeit stets sozial bedingt sei, und eben daraus ergibt
sich der Schluss, wonach gewolltes «Alleinsein» ungewollter «Einsamkeit»
vorzuziehen ist. Dass das Subjekt des Aphorismus in der dritten Person («er»)
auftritt, entspricht der üblichen aphoristischen Rhetorik – das
Personalpronomen wird hier gern als «Platzhalter» oder «Shifter» eingesetzt; es
könnte in diesem Fall auch «ich», «du» oder «wir» die entsprechende Stelle
einnehmen. Der vorliegende Aphorismus liesse sich denn auch mit nahezu gleichen
Worten und ohne jeden Bedeutungs- und Formverlust anders ausschreiben; etwa so:
«Um nicht einsam sein zu müssen, bleibe man für sich allein.» Was bei Kudszus
lediglich eine aphoristische Feststellung ist, mutiert solcherart zu einer
aphoristischen Empfehlung oder Anweisung, doch ihrer Aussage nach bedeuten die
beiden unterschiedlichen Formulierungen ein Gleiches.
•
Das Gute
ist eine vom Bösen
geschützte Zone
Das Gute warnt vor dem Bösen,
das Böse verspricht Gutes
Das Böse
ergründet nichts,
zerstörend
kommt es auf den Grund
(Elazar Benyoëtz)
Elazar Benyoëtz,
Alt- und Grossmeister der jüngeren deutschsprachigen Aphoristik, ist weithin
bekannt für seine präzise Arbeit am Wort und sein philosophisches Interesse an
der Sprache. Manche seiner aphoristischen Texte haben den Aphorismus selbst zum
Gegenstand, sind also Aphorismen über Aphoristik («Kürze – Klarheit; Länge –
Erklärung», «Wenig sprechen … entsprechend schweigen») und nehmen sich oft wie poetisch
überhöhte Definitionen aus: «Aphorismus – / ein Wort in Sinn getaucht; / ein
Satz, mit Kunde behaftet». – «Die aphoristische Regel: / handfest und
federleicht». – «Der Aphorismus / nimmt den Widerspruch vorweg, / der Spruch
setzt ihn voraus». …– «Aphoristik – / Hochschule des Buchstabierens; /
massvolle Werklosigkeit». Usf.
Tatsächlich sind
Benyoëtz’ Aphorismen durchwegs sorgsam ausbuchstabiert, bis-weilen erinnern sie
in ihrer Gediegenheit und Feierlichkeit eher ans Hochamt als an die Hochschule.
Auch lassen sie jeden Überraschungseffekt und damit die vorrangige Funktion
aphoristischen Denkens ausseracht. Statt dessen liefern sie in kunstvoller
Sprachform verbindliche Aussagen, die man gern als «Wahrheiten» akzeptiert.
Einwendungen dagegen sind an kaum einer Stelle aufzubringen. Jede
Verunsicherung bleibt aus, man wird solide belehrt, gelegentlich auch
getröstet. Abgründiges, Zweifelhaftes, Bedrohliches wird einem ebenso wenig
zugemutet wie Scherz oder Satire. Schöngeistiges hat Vorrang. Ein «aber», ein
«sondern», ein «entweder … oder» – häufigste Versatzstücke der Aphoristik –
kommen hier nicht vor.
Die
Mehrgliedrigkeit der aphoristischen Rede ist bei Benyoëtz (wie im oben
angeführten Zitat) ein charakteristisches Merkmal: In aller Regel platziert er
auf einer Druckseite drei, manchmal vier Kurztexte, die auch separat als
Aphorismen bestehen könnten, die aber als Ensemble eine synthetische Lesart
ermöglichen – ein Gedanke, ein Thema wird durch unterschiedliche
Ausformulierung variiert und dabei auch differenziert.
Das Mittelstück
präsentiert sich in formaler Hinsicht als ein ausgefeilter Aphorismus:
Das Gute warnt vor dem Bösen,
das Böse verspricht Gutes
Das «Gute» und das
«Böse» werden überkreuz als Gegensätze festgemacht dadurch, dass ihnen
gegensätzliche Tätigkeitswörter («warnen», «versprechen») zugeordnet sind. Das
Gute setzt sich warnend (negativ) vom Bösen ab, das Böse realisiert sich, indem
es Gutes verspricht (positiv). Benoëtz bringt dies sprachlich gediegen auf den
Punkt, kommt aber gedanklich nicht über die Selbstverständlichkeit hinaus,
wonach Gut und Böse einander in ihrer Gegensätzlichkeit ausschliessen. Mit
andern Worten: Ein Aphorismen kann sich trotz formaler Perfektion als trivial
erweisen.
Die beiden übrigen Textpartien, die
erste und die dritte, sind nicht ganz so souverän ausgeführt wie das
Mittelstück, doch sie geben auch nicht mehr zu denken. «Das Gute / ist eine
vom Bösen / geschützte Zone» – das ist ein schlichtes Statement, kein
Aphorismus, und es ist auch als Statement keineswegs überzeugend; denn wieso
sollte das Böse das Gute gleichsam als Sonderzone «schützen»? Und wovor? Oder
ist vielleicht gemeint, das Gute sei eine vor dem Bösen geschützte Zone?
Die Vertauschung, die Beifügung oder die Entfernung eines einzigen Buchstabens
kann eine aphoristische Aussage in ihr Gegenteil verkehren.
Und weiter: «Das Böse / ergründet
nichts, / zerstörend / kommt es auf den Grund» – auch das ist lediglich eine
Feststellung, fussend auf dem unergiebigen, weil pleonastischen Wortspiel von
«ergründen» und «auf den Grund» gehen; beides hat mit Gründlichkeit zu tun,
«ergründen» heisst einen Grund erkunden, «auf den Grund» kommen heisst einen
Grund, eine Grenze, ein Ende, eine Lösung finden, könnte aber auch (im Sinn von
«auf Grund stossen») stranden oder scheitern bedeuten – worauf das Wort «zerstörend»
zu verweisen scheint. Solche Unentschiedenheiten sollten der Aphoristik
eigentlich fremd sein, in jedem Fall mindern sie, ungeachtet ihrer Sprachkraft,
deren intellektuelle Qualität.
•
Nochmals: Der
Aphorismus kann als seriöses Gedanken- und Wortspiel nur dann produktiv werden,
wenn ihm ein Aha!-Effekt gelingt – Geistesblitz und Sprachwitz, Einfall und
Ausfall zugleich! Aphorismen aller Art gibt es übergenug, gelungene
Aphorismen bleiben (nicht anders als gelungene Gedichte) die Ausnahme; in ihnen
finden poetische und philosophische
Komponenten
gleichwertig zusammen und bilden eine besondere Textsorte, die auch gegenüber
verwandten Kurzformen wie der Maxime, der Reflexion, dem Gleichnis, dem Rätsel,
dem Bonmot, dem Kalauer oder dem Werbespruch ihre Eigenständigkeit behauptet.
Dazu einige Musterbeispiele aus der
jüngsten deutschsprachigen Aphoristik: «Wer alles überblickt, übersieht
manches.» (Ansull) – «Eine Philosophie, die man leben könnte, verlöre ihren
Sinn.» (Eilers) – «Die häufige Verwechslung von wahrer Meinung und der Ware
Meinung beruht nicht auf Legasthenie.» (Endler) – «Recht ist etwas, das man,
obwohl man es hat, von allen bekommen will, oder das man, obwohl man es bekam,
trotzdem nicht hat.» (Fetzer) – «Zwei Menschen sind einer zuviel.» (Hansen) –
«Haben zwei sich gefunden, fangen sie erst recht damit an, einander zu suchen.»
(Hesse) – «Nur der Weg zu sich selbst bleibt vom Massentourismus verschont.»
(Hodjak) – «Der Trug ist ein Gurt, der uns Gewissheit gibt – nur damit sie
rückwärts wieder genommen werden kann.»
(Huber) – «Der Idealist stirbt für seine Idee. Während der Realist für sie
lebt.» (Huber) – «Gewissheit: Das gute Gewissen
des schlechten Denkens.» (Steffens) – «Sprache. Verheerender als ihr
Verlust ist ihr Gebrauch.» (Steinweg) Usf.
Damit es klar sei: «Durch Aphorismen
ist nichts zu verbessern. Zu verbessern sind die Aphorismen.» (Behrmann) Bis
endlich die Prognose des alten Samuel Johnson sich erfüllen kann, dass «die
Menschen über kurz oder lang dazu kommen, alles in Aphorismen zu schreiben»,
ausgenommen die Alltagskommunikation. Die technischen und lebensweltlichen
Voraussetzungen dafür sind heute zweifellos gegeben – Zeitnot, Beschleunigung,
Stress einerseits, i-Phone, SMS, digitales Chatting andrerseits. Dennoch bietet
sich der Aphorismus nicht einfach an, er muss streng gedacht und eigens verfasst
werden.
Beispiele siehe auch bei Felix Philipp Ingold: »Märzember«. Sprüche und Gedichte. Wien (Arco Verlag) 2024. 250 Seiten. 14,99 Euro.