Felix Philipp Ingold: Fortschrift. Ein Gedicht in fünfzehn Würfen
Jan Kuhlbrodt
Eine Anmerkung zu Felix Philipp Ingolds Fortschrift
Der Ritter Verlag legte im vergangenen Jahr ein Buch Felix Philipp Ingolds vor, das den Titel Fortschrift trägt, im Untertitel Ein Gedicht in fünfzehn Würfen.
Der Bezug wird hier unmittelbar klar. Es geht um eine Verarbeitung des Materials, das Mallarmé bereitgestellt hat. Die Fortschrift Ingolds problematisiert nun zum einen den Begriff des Originals zum anderen aber auch den der Übersetzung und zum dritten jenen der Aneignung. Alle diese Begriffe aber formulieren keine getrennten Sachverhalte, sondern vielmehr einzelne Aspekte eines komplexen Verhältnisses, eines Verhältnisses, das die Kunst selbst ist, und hier insbesondere die Dichtung.
Schon beim ersten Blick auf Mallarmés Text, der im Buch zwar nicht abgedruckt ist, wird klar, und dazu braucht man des Französischen nicht einmal mächtig zu sein, dass hier ernst gemacht wird mit der grafischen Komponente, welche literarischen Texten, zumal Gedichten innewohnt. Diese Komponente ist keine Erfindung Mallarmés, wird aber im Würfelwurf eindringlich sichtbar gemacht. Und sie geht über die Bildlichkeit, die wir z.B. aus barocken Spielformen der Lyrik kennen, hinaus zu einer Verallgemeinerung des Prinzips hin.
Auch in Absenz der sprachlichen Inhalte, einer balkenhaften Stilisierung, kann man zum Beispiel ein Sonett erkennen, und da muss es noch nicht einmal lesbar sein. Nur die Versstruktur sollte andeutungsweise vorhanden sein. Man könnte hier von einer kollateralen Erkenntnis hinsichtlich der Rezeption Mallarmés sprechen, denn wir haben hier am Inhalt noch nicht einmal gekratzt.
In einem begleitenden Essay zu Ingolds Fortschrift, der zugleich als Klappentext dient und mit Beischrift übertitelt ist, schreibt Magnus Wieland:
Tatsächlich kleidet Mallarmé die hervorstechende typografische Gestaltung des Würfelwurfs selbst in eine kosmologische Metaphorik, wenn er von „Konstellationen“ spricht, und damit die unkonventionelle Gruppierung der Gedichtzeilen meint. Die Verse folgen keinem linearen Verlauf, sondern sind in unterschiedlichen Schriftarten und -größen räumlich über die als Einheit verstandenen Doppelseiten verteilt, auf denen vor allem in unterschiedlicher Intensität die leere, unbedruckte Fläche dominiert.
Sinn ereignet sich also auch jenseits der Semantik. Verstehen ist unter anderem auch Sehen.
Ingold selbst folgt in seiner Fortschrift der grafischen Struktur. Pasticheartig bedeckt er die Worte der Vorlage mit neuen Worten, unter denen die originalen gewissermaßen hervorscheinen. Sie bleiben als Spur in den anderen vorhanden. Dass die grafische Struktur den Leserhythmus bestimmt, erfährt man beim Gegenlesen, denn im dritten Teil des Buches findet sich der Text in herkömmlicher Setzung.
Zwischen dem ersten und dritten Teil ein Essay Ingolds, in dem er Anspruch und Vorgehen formuliert:
Im Unterschied zu so vielen andern Texten, die abgeschlossen, bewältigt, erledigt sind, sobald man sie verstanden hat, wird Stéphane Mallarmés totales Buchwerk, sollte es denn jemals – wie und von wem auch immer – vollendet werden, dauernden Bestand haben, und, dem ehernen Gesetz der Entropie zum Trotz, stetig an Sinn gewinnen.
Folgt man Novalis zumindest in diesem einen Punkt, dass alle Kunst ein Übersetzen sei, stellt sich die Frage nach dem Original. Vielmehr sie löst sich dahingehend auf, dass es ein Original in diesem Sinne gar nicht gibt, denn wenn alle Kunst Übersetzung ist, dann gibt es immer etwas, was ihr voraus geht. Und nicht nur das. Denn das, was wir als Werk bezeichnen und entsprechend unserer raumzeitlichen Position als solches wahrnehmen, ist in diesem Sinne ein frozen moment in einem unendlichen Diskurs, der sich um die Kunst hin entwickelt und in konzentrischen Momenten ausbreitet. Mit der Position des Rezipienten verändert sich auch das wahrgenommene Zentrum, und, wenn es denn so etwas gibt, der Sinn.
Felix Philipp Ingold: Fortschrift. Ein Gedicht in fünfzehn Würfen. Klagenfurt (Ritter Verlag) 2016. 80 Seiten. 13,90 Euro.