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Felix Philipp Ingold: Fehler im Gedicht

Memo/Essay > Aus dem Notizbuch > Essay
Felix Philipp Ingold

Fehler im Gedicht
Ein kleiner poetologischer Versuch


„Und Gott sah, dass es gut war.» Dieser selbstgefällige Spruch wird in der biblischen Genesis mehrfach angeführt, um die grundsätzliche Richtigkeit und Wertigkeit der Weltschöpfung zu bekräftigen. Da Gott, allwissend und allmächtig wie er imaginiert wird, keinerlei «Fehler» (Irrtümer, Nachlässigkeiten, Verbrechen) begeht, sind diese auf Erden, wo sie unterlaufen oder bewusst bewerkstelligt werden, stets dem Menschen anzulasten. Von einem Fehler (oder gar von der Fehlerhaftigkeit) Gottes ist nie und nirgendwo die Rede, umso schwerer wiegt das Schwarzbuch menschlicher Niedertracht, Grausamkeit, Gier, Falschheit und Dummheit – lauter verhängnisvolle, weit verbreitete Eigenschaften, die sekundär dann doch die Fehlerhaftigkeit jenes Wesens bestätigen, von dem es heisst, es habe den Menschen nach seinem Bild oder gar als Gottes Bild geschaffen.


Im Gegenzug zum fehlerhaften und fehlbaren Normalverbraucher hat man – vermeintlich oder angeblich nach göttlichem Vorbild – den Typus des ausserordentlichen, minderheitlichen, wenn nicht singulären Menschen mobilisiert, der als Genie in Erscheinung tritt und damit als Garant für geistiges Schöpfertum und künstlerische Vollkommenheit, oft explizit ausgestattet mit demiurgischen oder theurgischen Fähigkeiten. Über Jahrhunderte hin galt Vollkommenheit als Ziel, phasenweise gar als Gebot formaler (bildnerischer wie literarischer) Gestaltung, ehe die epochale «Formzertrümmerung» der europäischen Moderne den «Fehler» als einen wichtigen Faktor künstlerischer Kreativität entdeckte und produktiv nutzbar machte.
           Die Dekonstruktion wurde zum angesagten Werkbildungsverfahren, die Zerlegung vor-gegebener Materialien oder Texte – im Kubismus, im Futurismus, bei den Dadaisten – und deren nachfolgende Neukomposition (Prinzip Collage) sind bis in die Postmoderne und darüber hinaus (Copy, cut & paste) für die Kunst- und Literaturentwicklung bestimmend geblieben.
           Die Fehlleistung wurde damit in allen Künsten als produktives Verfahren sanktioniert und genutzt, auch Publikum und Kritik haben sich damit abgefunden, und fast scheint es, als würden «Fehler» schon gar nicht mehr als solche erkannt, gerügt oder gewürdigt – sie sind gewissermassen zur Norm geworden. Picassos Gesamtwerk ist der unabweisbare Beleg dafür, dass und wie «Fehlerhaftigkeit» in «Genialität» umschlagen kann: Kaum ein Bild, kaum eine Skulptur von ihm kann in Bezug auf die Realien, die er damit künstlerisch aufarbeitet und transformiert, als in irgendeiner Weise korrekt gesehen (oder zumindest empfunden) werden, so sehr präsentiert sich die verfremdet, häufig auch befremdlich dargestellte Gegenständlichkeit – egal ob Stilleben, Portrait, Ganzfigur oder Figurenensemble – als eine gewollte Fehlkonstruktion, deren disparate Komponenten aber gleichwohl ein festgefügtes, an keiner Stelle korrigierbares Gesamtbild ergeben.
           In solchem Verständnis hat der Dichter Francis Ponge den Fehler als Schaffensprinzip po-stuliert. In einer Notiz von 1954, die er später in seinen Traktat über «Schreibpraktiken» (1984) aufgenommen hat, belobigt Ponge die unbegrenzte «Macht des Fehlers» wie auch dessen unbegrenzte «Vielfalt», und er geht dabei so weit, die endlose Fehlerhaftigkeit, den Variantenreichtum der Irrtümer «Gottes, oder der Natur, oder der Macht» positiv herauszustellen: «Die Harmonie der Fehler der Gottheit – das ist die Welt, das Funktionieren der Welt.» Auch für die dichterische Arbeit könnte … sollte also gelten: «Man müsste lediglich festhalten, dass Die Fehler sich kompensieren oder sich harmonisieren, um als solche zu funktionieren.»


Von Puristen und Perfektionisten des dichterischen Geschäfts wird immer mal wieder moniert, kein Autor könne mehr als ein Dutzend «vollkommene», mithin fehlerfreie Gedichte vorweisen, und überhaupt sei kaum ein Einzelgedicht von jeglichem Makel frei, auch dann nicht, wenn es dem Kanon zugerechnet wird und in Anthologien als Meister- oder Musterstück figuriert.
           Doch wie lassen sich Fehler, Irrtümer, bewusste und unbewusste Verstösse gegen formale oder logische Regeln rechtfertigen? Mit Francis Ponge könnte man davon ausgehen, dass Fehler unvermeidlich sind und eben deshalb gepflegt werden sollten, um sie zum Funktionieren zu bringen – Fehler also durchsetzen statt sie verhindern! Das ist ein heute weithin anerkanntes und befolgtes Postulat. Die Fehlertoleranz in künstlerischen Dingen (ausgenommen im Bereich der musikalischen Interpretation) grenzt an Gleichgültigkeit, könnte auch durch zunehmende Inkompetenz oder durch mangelndes Stilbewusstsein bedingt sein.
           Was sich heutige Autoren, Autorinnen an Fehlern leisten können, ohne von der Kritik da-für belangt, vom Publikum fallengelassen zu werden, ist durchaus bemerkenswert: Schiefe Metaphern, falsche Vergleiche, alogische Verknüpfungen, fehlerhafte Grammatik, verfehlte Wortwahl, ungewollte Stilbrüche – generell das Ungewollte, das schlicht Unterlaufende scheint für weite Bereiche heutiger Poesie bestimmend und auch hinreichend zu sein. Beabsichtigte Regelverstösse stehen, selbstredend, auf einem andern Blatt; sie als solche zu erkennen und zu bewerten, setzt natürlich die Kenntnis der jeweils verletzten Regeln voraus. Der gewollte Regelbruch hat eine weit zurückreichende Tradition und erfüllt meistenfalls eine relativ leicht eruierbare poetische beziehungsweise poetologische Funktion.


Dass auch starke Poesie durchaus – ungewollt – fehlerhaft sein kann, behaftet mit formalen wie mit inhaltlichen Mängeln, wäre an beliebig vielen Beispieltexten aus dem Fundus einschlägiger Anthologien aufzuzeigen. Bei Rainer Maria Rilke hätte man diesbezüglich besonders viele Stellen anzustreichen, auch bei Benn oder Hofmannsthal oder Lasker-Schüler, und doch beeinträchtigen selbst eklatante Fehler die positive Gesamtwirkung der betreffenden Gedichte kaum. Wenn Boris Pasternak in seinem Poem «Hohe Krankheit» (1924) ein Schlegel-Zitat anführt, es aber Hegel zuschreibt, ist das ein beiläufiger, wenn auch peinlicher Irrtum, der aber den künstlerischen Rang des Dichtwerks in keiner Weise herabmindert.
           Oder Gottfried Benn:

Tag, der den Sommer endet,
Herz, dem das Zeichen fiel.
Die Flammen sind versendet,
die Fluten und das Spiel.

Es handelt sich um die Eingangsstrophe eines titellosen Gedichts von 1935, perfekt gereimt, metrisch irregulär, ein Herbstgedicht mit konventioneller Staffage bei unkonventionellem Wortgebrauch. So verwendet Benn das intransitive Verb «enden» (ein Ende nehmen) transitiv, also in der Bedeutung von «beenden» (ein Ende machen), obwohl auch die korrekte Ausdrucksweise – «Tag, der den Sommer beendet» oder auch «Tag, mit dem der Sommer endet» – zur Verfügung gestanden hätte: Die Abweichung von der Norm erbringt in diesem Fall keinerlei künstlerischen Gewinn.


Der nachfolgende Vers – «Herz, dem das Zeichen fiel» – ist weder als Satz noch als Aussage plausibel. Man kann vage vermuten, dass hier der ungenannte Herbst als schicksalhaftes Fanal des Untergangs empfunden wird, doch die Formulierung, wie Benn sie einsetzt, gibt es im Deutschen nicht, also kann sie auch keine irgendwie fassbare Bedeutung haben. Wohl ist jedes einzelne Wort problemlos verständlich, doch ihr Zusammenhang erschliesst sich nicht: Wenn mir (oder meinem Herzen) ein Zeichen fällt – was ist damit gesagt, gemeint? Wenn mir hingegen ein Zeichen gefällt oder zufällt, ist die Sache plötzlich klar. Doch der Autor verhindert solche Klarheit, er scheint die herbstliche Nebulosität vorzuziehen und fasst sie mit Absicht in gleichermassen nebulöse Worte. Auch wenn er damit gegen Grammatik und Semantik verstösst, es ergibt sich daraus dennoch ein Vers, der seiner Unverständlichkeit zum Trotz leicht zu lesen und durch den Endreim in die Strophe integriert ist.
           Weiter im Text:

Die Flammen sind versendet,
die Fluten und das Spiel.

Flammen? Versendet? Von wem an wen? Wozu? Ein Bild stellt sich nicht ein. Mag sein, dass Benn die leuchtenden Herbstfarben als «Flammen» imaginiert, doch ihr «Versand» ist keine einsichtige Option. Die nachfolgenden «Fluten und das Spiel» lassen sich zwar grammatikalisch, nicht aber logisch auf «versendet» (richtig: versandt) beziehen; der Vers ist im gegebenen Zusammenhang nichtssagend, «die Fluten und das Spiel» haben nichts Konkretes zu bedeuten, sie finden ihre dichterische Rechtfertigung einzig in der lautlichen Parallelisierung von Die Fla- | die Flu- (Stabreim) und fiel :: Spiel (Endreim). Auch hier wird also die Fehlerhaftigkeit der Aussage kompensiert durch formale künstlerische Qualitäten, die als solche keinerlei Mitteilung bieten.

           
Ein Seitenblick nun zu einem namhaften zeitgenössischen Autor, Nico Bleutge, der mit seinem jüngsten Lyrikband («schlafbaum-variationen», 2023) die Fehlerhaftigkeit – bald gewollt, bald ungewollt – geradezu zelebriert. Der verhältnismässig umfangreiche Band liefert dafür beliebig viele Belege, und diese können denn auch an beliebiger Stelle aus den zumeist recht langen Gedichten extrahiert werden – Bleutge hält seine Fehlerpoetik konsequent durch, jeder noch so knappe Textauszug ist dafür beispielhaft; man lese:

… spucke
spucke bewohnt hier noch immer die luft
mulchtau, flaum an den ohren
was ist diese wärme,
ärmelig hell, die an der schläfe, braue
die an den haaren spürbar wird (kochende
welle, solarfeld aus puckernden stellen
oder ausbreitung des lichts im vakuum). war
so in ihrer welt, ein zappeln, lehnen, und bald
die müdigkeit in ihren zaum gedreht.
kommt fieber in schwärmen? jeder vogel trägt
einen lichtpunkt im schnabel. zehntausend elstern
zur brücke gefaßt. mit mücken gestrasst, ein spei-
chern dieser temperatur, zahllos, blühend weiß
in wiegender luft. was wiegt luft? wenn sie leer
ist vom singen (gesang), vom summen
loser folgen, bis der schlaf einfällt. keeeeea
schreit der kea, hū hū hū der matuku (wie blüten
sind ja silberne wolken auch). und müd, von ihrem
hüpfen, die steine. rheinsteine, heller als gras
streunen …    


Was diese Zeilen zu erkennen geben, gilt für die Gesamtheit von Bleutges «schlafbaum-variationen»: Kleinschreibung, defekte Interpunktion, meist agrammatische und alogische Ausdrucksweise, eher Wortreihen denn Sätze, eher beiläufige Zeilen denn Verse, alles ohne fassbare Bedeutung – poetisch instrumentierter Nonsense. Bisweilen schwer zu sagen, ob die durchgehende Fehlerhaftigkeit der Formulierung beabsichtigt ist oder ob sie dem Autor schlicht unterläuft. Die auf der Aussageebene offenkundigen Fehler sind so zahlreich, dass man sich an manchen Stellen fragt, ob es sich dabei um blosse Druckfehler handelt. Was hat es, beispielsweise, mit dem «mulchtau» auf sich – sollte, könnte es nicht ebenso gut heissen: milchtau? milchstau? mehltau? Oder «mit mücken gestrasst» – von Mücken gestresst, gestrafft, gechasst? Egal, so oder anders bleibt es beim Unsinn.
           Man lese genauer: Spucke, die die Luft «bewohnt», obwohl sie doch schlimmstenfalls durch die Luft fliegt, sich in der Luft verbreitet; aber Wohnsitz nimmt? – Eine Braue, die «an den haaren spürbar wird» – an wessen Haaren? Spürbar für wen? Und können Menschenhaare tatsächlich «spüren»? – Seit wann und wie bauen sich Solarfelder aus «puckernden stellen» auf? – Von wem und weshalb wird «müdigkeit in ihren zaum gedreht»? Und wie überhaupt lässt sich irgendetwas in einen (den eigenen!) Zaum drehen? – «Jeder vogel trägt | einen lichtpunkt im schnabel»; aber lässt sich ein Lichtpunkt «tragen», und wieso von jedem Vogel, wieso im «Schnabel» und nicht in den Krallen? Und wozu sollten Vögel Lichtpunkte sammeln? Zum Nestbau vielleicht, zur Selbstversorgung? – Oder noch dies: «was wiegt luft? wenn sie leer | ist vom singen (gesang), vom summen | loser folgen …» Luft, wenn sie leer ist? Gibt’s denn auch volle Luft, und was hat es mit ihrem Gewicht auf sich, da ohnehin kein Gesang, kein Summen sie erfüllt? Usf.


Auch wenn aus den «schlafbaum-variationen» rational nichts zu gewinnen ist ausser Wortgeklingel, schwingen in Bleutges lyrischem Radebrechen zwei Stimmungssphären mit, nämlich einerseits Körpergefühle (Schlaf, Wärme, Müdigkeit, Fieber), andrerseits Natureindrücke (Gras, Steine, Mücken, Wolken, Blüten, Matuku), alles bloss angesprochen, nichts ausgeführt und präzisiert, so wie auch der Buchtitel bedeutungsmässig in der Schwebe bleibt; unklar nämlich, ob hier der Schlafbaum selbst variiert oder ob er (von wem wohl?) variiert wird – er könnte gemäss Formulierung sowohl Subjekt wie auch Objekt des Variierens sein.  
           Mit der inhaltlichen Beliebigkeit (und Fehlerhaftigkeit) kontrastiert bei Bleutge die ge-zielte, gleichsam kosmetische Arbeit an der Textoberfläche. Vorrang hat dabei die Häufung von Assonanzen auf engem Raum: wÄrme – Ärmelig – schlÄfe; hEll – wElle – stEllen; blÜten – mÜd – hÜpfen. Dieses formale Verfahren suggeriert Zusammenhang, wo ein solcher auf der Aussageebene weitgehend fehlt. Mithin  noch ein Beispiel dafür, dass und wie inhaltliche Mängel und Leerstellen durch dichterische Rhetorik überspielt werden können. Auch der falscheste Text kann dadurch eine gewisse Richtigkeit behaupten. Ziel und Sinn der Poesie bleibt in jedem Fall – die Poesie.


Felix Philipp Ingold arbeitet als freier Autor, Übersetzer und Publizist  in Zürich; jüngste Buchpublikationen: »Haikulike« (Gedichte, 2023),  »Die Zeitinsel« (Roman, 2022), »Überzusetzen« (Essays und Arbeitsproben,  2021); als Herausgeber/Übersetzer: »EinZwei-DreiZeiler« (Minimal Poetry  from Russia, Anthologie, 2023).
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