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Felix Philipp Ingold: Die Zeitinsel

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Birger Niehaus

Felix Philipp Ingold: Die Zeitinsel. Klagenfurt (Ritter Verlag) 2022. 288 Seiten. 27,00 Euro.

Erkundungen ins Unverlässliche  


„Die verschiedenen Namen und Rollen des Insulaners übernehme ich selbst, spreche aber nie nicht mit eigener Stimme, und was ich sage, mag Behauptung, Vermutung, Erinnerung, Bekenntnis, Flunkerei oder gar, alles in allem, so etwas wie die Wahrheit sein.“ (S. 191)

Felix Philipp Ingolds neustes literarisches Werk Die Zeitinsel, 2022 bei Ritter erschienen, ist der luftigen Postmoderne verpflichtet mit allen Finessen und Schwierigkeiten, die ein versierter Autor dieser Denkrichtung abgewinnen kann.

„Literarisches Werk“ ist hier nicht ohne Grund ein offener, vielleicht verlegener Terminus, denn bereits formal entpuppt sich Die Zeitinsel als typisch postmodernes Genreamalgam. Acht der neun Kapitel dieses „Stationenberichts“ sind narrative „Episoden“ (so der Untertitel: „Ein Stationenbericht in neun Episoden“), das achte Kapitel besteht dagegen aus acht lyrischen Oktaven, und im angehängten „Album“ finden sich Schwarzweißfotografien, denen Textstellen zugeordnet sind.

Das verbindende Element der neun Episoden ist nun „die Zeitinsel“, konkret: die griechische Insel Skorpios im Ionischen Meer. In jeder Episode erzählt jemand anderes in Ich-Perspektive von seinen Erlebnissen auf der Insel: Ein rollstuhlgebundener Milliardär, ein devoter Filmassistent, ein selbstgefälliger Autor, eine deutsche Stenotypistin, die während des Zweiten Weltkriegs auf Skorpios mit einer Gruppe Soldaten stationiert ist, et cetera. Immer weiter geht es zurück in der Zeit, von der Gegenwart über die Siebziger, Vierziger, Nuller Jahre des 20. Jahrhunderts bis schließlich in die Antike und noch weiter in ein fiktives mythisches Zeitalter, das wiederum den Bogen ins frühe 20. Jahrhundert zurückschlägt. Konstanz in diesem zeitlichen Strom bietet nur Skorpios, wobei auch die Insel fiktionalisierenden Schwankungen unterworfen ist. Das kommt schon im Namen zum Ausdruck: Mal heißt sie Scorpionetta, mal Skorpiopolis, Skorpioskiti oder Skorpionydri.


Neben der formalen wird damit auch die inhaltliche Komponente der Postmoderne deutlich: Durch alle Episoden ziehen sich postmoderne Themen und Schlagwörter wie „Spur“ oder Zeichen, Identität, Kommunikation, das Verhältnis von Kunst, Fiktion und Kontingenz auf der einen und Wirklichkeit auf der anderen Seite. Im siebten Kapitel, so etwas wie dem theoretischen Herzstück des Bandes, ruminiert der Erzähler: „Die Frage, was oder wer bin ich, kann ich weder stellen noch beantworten – sie müsste, richtiger, lauten: Wer oder was wäre ich; allenfalls: Wer oder was bin ich gewesen?“ (S. 195). Dem Strom der tatsächlich vorwärtsfließenden Zeit wird der fiktive Strom der rückwärtsfließenden Narration entgegengehalten. Diese beiden gegenläufigen Strömungen vereinen sich schließlich in der mythischen – dabei aber fiktiven! – Göttin Gradiva, der „Einherschreitenden“ (S. 234), einer novellistischen Erfindung des Lyrikers Wilhelm Jensen aus dem Jahr 1903.

Diese Referenz ist nur eine von vielen Anspielungen und Zitaten, die Die Zeitinsel – wiederum typisch postmodern – durchziehen. Bereits der Untertitel verweist auf die traditionsreiche Form des Stationendramas; in den Episoden selbst tauchen neben Jensen auch Gogol, Hölderlin, Thomas Mann, Sappho und viele weitere Kulturheroen und -heroinnen auf, von denen ich wahrscheinlich nur einen Bruchteil erkannt habe. Hier kommt der „schwierige“ Aspekt der Postmoderne zum Tragen, von dem ich eingangs geraunt hatte: Die Zeitinsel schimmert unter einem dicken Firnis Ironie, weswegen man sehr genau lesen muss, um sich nicht irreführen zu lassen von Ingolds komplexem Spiel aus Erzählebenen und Allusionen. Was eigentlich gesagt werden soll (und von wem), entzieht sich häufig, bleibt Aufgabe eines zweiten, dritten, vierten Lesedurchgangs, für den nicht alle Leserinnen und Leser – man verzeihe den Kalauer – die Zeit oder Geduld aufbringen werden.

Diese Komplexität macht aber auch den Reiz des Bandes aus. Die Zeitinsel ist definitiv kein Buch zum Überfliegen. Seine Episodenstruktur erleichtert gleichzeitig ein erratisches Lesen und gerade aufgrund seiner Dichte wird man meist eine Stelle aufschlagen, bei der es sich zu verweilen, nachzudenken, zu konzentrieren lohnt. Oder einfach laut zu lesen:

Und wenn
die Antwort vor der Frage käme. Als
heitere Ahnung. Als Mahnung, die zum Lachen wäre.


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