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Felix Philipp Ingold: Aufzählung als dichterisches Verfahren

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Felix Philipp Ingold

Aufzählung als dichterisches Verfahren


Im Deutschen werden «erzählen» und «aufzählen» aufgrund der gemeinsamen Wortwurzel und des ähnlichen Wortklangs schon immer gern zusammengedacht: Die Erzählung wäre demnach als Ausarbeitung und Entfaltung einer diskret zugrundeliegenden Aufzählung zu verstehen. Von Rabelais bis hin zu Jorge Luis Borges und Georges Perec gibt es zahlreiche Texte, bei denen das Aufzählen für das Erzählen konstitutiv ist.
           Lässt sich ein Gleiches von der Lyrik sagen? Wohl eher nicht, wenn man sich deren elementare Qualitäten und Funktionen vergegenwärtigt: Metaphernbildung, Rhythmus, Sprach-klang – lauter Eigenschaften, die der Aufzählung durchwegs fremd sind, ausgenommen bei Litaneien, Kinderreimen oder gewissen Rap-Texten.
           Andrerseits ist das Gedicht die einzige Literaturform, die optisch mit einer Liste, einem Register (den geläufigsten Schriftarten des Aufzählens) vergleichbar ist: Flattersatz; relativ kurze Zeilen; relativ knapper Umfang. Dass Aufzählungen eigens in Verse gefasst werden, kommt nicht eben häufig vor und hat bisher auch kein nachhaltiges Interesse gefunden. Und doch gibt es dafür manche Beispiele, die vor Augen und vor Ohren führen, wie sprachliches Rohmaterial ohne jeden syntaktischen Zusammenhang lyrisch nutzbar gemacht, ja, instrumentiert werden kann.


Die Aufzählung – ob als Liste oder als Register geführt, ob alphabetisch oder nach andern Kriterien angelegt – besteht in aller Regel aus Einzelbegriffen, aus Orts-, aus Personennamen, die unverbunden aufgereiht sind und insgesamt keine Aussage, keine Bedeutung bieten: Es handelt sich dabei nicht eigentlich um Texte, vielmehr um Paratexte mit einfachster Suchfunktion, die den punktuellen Zugriff auf vorliegende Primärtexte ermöglicht, aber nichts zu deren Verständnis beiträgt.
           Anders im Gedicht; hier kann die Aufzählung in mehrfacher Hinsicht künstlerischen Rang gewinnen, sei es als rhythmisch oder sprachmelodisch inszeniertes Klangereignis ohne klaren Aussagewert, sei es als Gruppierung bedeutungsähnlicher oder auch gegensätzlicher Begriffe, die als solche nichts besagen, jedoch assoziativ gewisse Stimmungen hervorrufen können. Ossip Mandelstam hat dies 1916 bewerkstelligt in Form einer Verszeile, die ausschliesslich aus Namen besteht und sich wie ein fremdsprachiges Murmeln ausnimmt:

Lenor, Solominka, Ligeja, Serafita …


Mit einer simplen Aufzählung beginnt eins der bekanntesten Gedichte des russischen Symbolisten Aleksandr Blok aus dem Jahr 1912:

Nacht, Strasse, Funzel, Apotheke …

Die Eingangszeile – ein staccatoartiger vierhebiger Jambus – fungiert zugleich als Titel des kurzen Gedichts. Die Aufzählung reiht alltagssprachliche Begriffe aneinander, die sich beim Lesen wie von selbst zu einer kohärenten Beschreibung fügen: Da ist eine Strassenlaterne, deren flackerndes Licht im nächtlichen Dunkel auf das Aushängeschild oder das Schaufenster einer Apotheke fällt – womöglich sucht da jemand in der Not nach Hilfe, nach einem Medikament. Obwohl (und weil) das nicht ausdrücklich artikuliert wird, entsteht sofort ein Gefühl der Bedrängnis, das durch die nachfolgenden Verse denn auch bestätigt wird: «Es gibt keinen Ausweg. | Du wirst sterben und fängst noch einmal an | Und alles wird sich wiederholen wie zuvor: | Die Nacht, das Eis auf dem Kanal, | Die Strasse, Funzel, Apotheke
           Dass der Autor die Aufzählung am Schluss des Gedichts noch einmal fast wörtlich auf-nimmt, ist ein ingeniöser Kunstgriff, der mit einfachsten Mitteln und vor alltäglicher Kulisse den Horror der ewigen Wiederkehr des Gleichen evoziert. Die wiederholte Nennung der immer gleichen Begriffe gehört bekanntlich zur Praxis magischer Rede. Aleksandr Blok und manch andere Dichter des europäischen Symbolismus haben diese Art von Magie eigens gepflegt und perfektioniert.


Wenn in der europäischen Moderne – zwischen Futurismus, Expressionismus und Dada – die Aufzählung als dichterisches Verfahren besonders privilegiert wurde, so deshalb, weil das damals vorherrschende Prinzip der «Formzertrümmerung» ausser der literarischen Tradition auch die Sprache selbst in Frage stellte: Grammatik und Syntax wurden aufgebrochen, das Interesse am Satz (an der Aussage) schwand zu Gunsten des «selbstwertigen» Worts, das als «befreites» Wortding in den Vordergrund trat – als visuelle oder akustische Gegebenheit eher denn als Bedeutungsträger. Marinetti, Hausmann, Ball, Schwitters, Terentjew, Krutschonych stehen für diese wortzentrierte Dichtkunst. August Stramm bietet, beispielhaft dafür, ein Gedicht («Angststurm», 1914), das sich als blosse Aufzählung von Einzelbegriffen zu erkennen gibt; das Ich tritt dabei undifferenziert in eine Reihe mit grösstenteils assonantischen Wörtern aus der Erlebniswelt des Kriegs:

Grausen
Ich und Ich und Ich und Ich
Grausen Brausen Rauschen Grausen
Träumen Splittern Branden Blenden
Sterneblenden Brausen Grausen
Rauschen
Grausen
Ich.


Mit Gottfried Benn lässt sich zeigen, wie die Poetik der Aufzählung vom Expressionismus bis in die 1950er Jahre sich erhalten hat, ehe sie von der Konkreten Dichtung übernommen und noch einmal radikalisiert wurde. – In seinem «Prolog 1920» (Erstdruck 1922) führt Benn in locker versifizierten Aufzählungen die «Schädelstätte Abendland» als Schauplatz einer gespenstischen Revue vor, die den Blick vom Totentanz der Weimarer Republik auf das unabwendbare Weltende lenkt:

Totale Auflösung, monströseste Konglomerate,
neurotische Apokalypsen, transhumane Foken,
Jaktation, hybridestes Finale […]
Knappen, Amoretten, Hyazinthenhäupter …
Pilatusschnauzen, Tempeljalousien …
he, he, die Schädelstätte Abendland,
beschädigte Crescenzen Wermutsterne …

Dass die Zeit – der Geist der Zeit wie auch ihr materieller Bestand – aus den Fugen ist, wird hier nicht allein durch monströse Wortbildungen dargetan, sondern eben auch durch den Verzicht auf jede syntaktische Bindung, auf Deklinations- und Konjugationsformen. Die unverbundenen, befremdlich wirkenden Begriffe muten an wie Trümmerteile der einstürzenden «abendlän-dischen» Zivilisation, Trümmer, die sich zu einem apokalyptischen Mahnmal türmen.


In vielen weitern Gedichten praktiziert Benn die Aufzählung bis in die 1950er Jahre als Kompositionsverfahren, wobei für ihn das Arrangement von nicht zusammenpassenden, auch gegensätzlichen Begriffen Vorrang hat: Die Unvorhersehbarkeit der Wortfolgen ist Teil ihrer poetischen Anmutung auch dort, wo Hässlichkeit und Provokation prädominant sind:  

Fortschritt, Zylinderglanz und Westenweiße
Des Bürgermastdarms und der Bauchgeschmeiße.
                              …
Verlauste Schieber, Rixdorf, Lichtenrade
                               …
Ein Wort – ein Glanz, ein Flug, ein Feuer,
ein Flammenwurf, ein Sternenstrich –
                               …
Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere …
                               …
Masse, Gebautes, Festgefügtes –
… mit Wolken, Schauern, Laubverdunkeltheiten


Die Aufreihung disparater Begriffe zu Versen hat Jorge Luis Borges in vielen seiner Gedichte zum Prinzip gemacht – es ist für seinen Personalstil prägend geworden, und er hat es auch in seinem Essay über eine «gewisse chinesische Enzyklopädie» scharfsinnig expliziert: Die Welt («das Universum») sei verlässlicher durch ungeordnete, unverbundene, widersprüchliche und widersinnige Wörter zu erfassen als durch einen vorab klassifizierten beziehungsweise klassifizierenden Wortschatz. Selbst das lyrische Ich kann Teil einer solcherart willkürlichen oder auch zufälligen Aufzählung sein:

Ich bin das jähe Erinnern an die Kugel
von Magdeburg, an ein paar Runenzeichen,
oder ein Distichon des Angelus Silesius.
                                              (The Thing I am)

Kugel, Runenzeichen, Distichon als unzusammenhängende Erinnerungsdaten, die gleichwohl einem (und nur einem) Subjekt zugeschrieben werden, einem Ich, das «weiss, dass es nichts als ein Echo ist», ein Echo, das in wechselnder Lautgestalt von irgendwoher kommen kann. Ein Gleiches mutet Borges der Rose zu:

… Du bist Musik,
Firmamente, Paläste, Flüsse, Engel,
du tiefe, grenzenlose, innigste Rose …
                                             (The Unending Rose)


In seinem grossen Mondpoem («La Luna») bestätigt Jorge Luis Borges explizit sein Verfahren, durch Aufzählung Poesie zu schaffen, genauer – entstehen zu lassen:

Aus mattem Elfenbein, aus Rauch, aus frischem
Schnee erschuf ich Monde, deren Schein aufging
in Versen …

Elfenbein, Rauch, Schnee – auch hier fügt sich Unzusammengehöriges (Hartes, Flüchtiges, Weiches) entgegen jeglicher Logik und Ordnung zu einem Ganzen, das einzig als dichterisches Faktum Bestand hat. – In seinem Schachgedicht («Ajedres») spricht Borges von «magischen Zwängen», die unterschiedlichste Figuren auf dem Brett in Aktion versetzen:

Formen: homerischer Turm, flinker
Springer, geharnischte Königin, der König
Versetzt, Läufer schräg, die Bauern im Angriff …

Und so fort; Borges bietet beliebig viele Beispiele dafür, wie Aufzählungen zu Versen, Strophen, Gedichten werden können – sein bevorzugtes dichterisches Prozedere könnte neue Aktualität gewinnen, heute, da vielerlei Zusammenhänge, Ordnungen, Gewohnheiten auf- und auseinanderbrechen, abgesehen davon, dass der derzeitige Sprachgebrauch, bedingt durch den medialen Zwang zur Kürze, ohnehin schon zur Aufzählung tendiert und syntaktische Satzgefüge so weit wie möglich meidet.


Ich kann und darf vielleicht mit ein paar eigenen Versen zur Poesie der Aufzählung beitragen. Ich stelle fest, dass solche Verse in meinen jüngsten Gedichtbüchern zwar nicht allzu oft, aber doch mit einer gewissen Regelmässigkeit vorkommen. Die entsprechenden Zeilen haben jeweils eine doppelte Funktion – sie sind einerseits als sprachliche Klangereignisse angelegt, andrerseits führen die Aufzählungen mehrheitlich kontrastive, einander ausschliessende Begriffe vor und eröffnen damit einen umso weiteren Assoziationsraum. Ich beschränke mich hier auf wenige ausgesuchte Beispiele, ohne sie im Einzelnen zu erklären, bloss als Ergänzung zu dem, was ich oben bereits ausgeführt und durch Fremdzitate belegt habe. Zum Vergleich denn nun:

Summe. Love. Quadrat. Und …

… ist Wunsch. Ist | Luftblau. Klang und Klage.
                                           (aus: Steinlese, 2011)


Evid.
       Orig.
              Delir. Ident. Schindlu.

Liest sich wie «Samt» | oder «Mast». | «Welch» oder «und». | «Ja» eher nie.
                                                     (aus: Fortschrift, 2016)


Die Stirn dem Hirn. Der Schläfe | der Schlaf. Ein Diadem gegen Wende und Wandel.

… der Avatar den man als Ichsager | kennt. Als Dichter und Frontschwein und | Schieber.

Die kalte | Glut der | Sternenhaufen. Wolkenberge. | Lockeres Gekröse …
                                           (aus: Niemals keine Nachtmusik, 2017)


Verblüffen. Hinreissen. Erschrecken. Überwältigen. Betäuben. Nächtliches Werk.

Folgt Geheul. Folgt Gesang. Dann nur noch Stille und Gestank.

– seht die Stellwerke, die Hungerkrisen und die Mädchenblüten, seht Schwellenländer, Verbotstafeln, Ahnungen aller Art –
                                          (aus: Märzember, 2023)


Sie fahren auf wie totgesagt.

Eine starke Zeile von Rainer Maria Rilke («Ich bin derselbe …», 1901) – sie vergegenwärtigt mir das Faszinosum und den Horror, die bei mir jedesmal aufkommen, wenn ich mir im Kino, während der Saal langsam sich erhellt und das Publikum bereits aufgestanden ist, den Abspann ansehe, die schier endlose Liste sämtlicher Mitarbeiter, Experten, Assistenten, Lieferanten, Rechtsinhaber, Sponsoren und sonstiger Helfer, die zur Herstellung des Films beigetragen haben.
           Mein Faszinosum besteht darin, vor Augen geführt zu bekommen, wen und was alles es braucht, um einen knapp zweistündigen Streifen zu realisieren, vom Script bis zum Schnitt, vom Casting bis zur Maske und zum Stunt, vom Requisit bis zum Special Effect usf. – staunenswert doch, worauf und auf wen der Director bei den Dreharbeiten angewiesen ist (und achten muss). Der Horror wiederum rührt daher, dass mich die Namenslisten immer auch an Totenlisten erinnern, und bei älteren Filmen ist es ja mitunter so, dass manche der Beteiligten – ob Schauspieler oder technisches Personal – tatsächlich nicht mehr am Leben sind. Um Rilke zu variieren: Die Toten werden «aufgesagt» und gewinnen dadurch noch einmal vage Präsenz. Der laute Vortrag von Opfernamen gehört zum Gedenken an Katastrophen und Massenverbrechen. Jede Totenliste ist ein definitiver Abspann. Das gilt ebenso für die genealogischen Aufzählungen im Alten Testament oder für den versifizierten Katalog der Schiffseigner in Homers «Ilias».
           Könnte … sollte man demnach nicht annehmen, die Liste sei die Urform des Gedichts?


Felix Philipp Ingold arbeitet als freier Autor, Übersetzer und Publizist in Zürich; jüngste Buchpublikationen: »Haikulike« (Gedichte, 2023), »Die Zeitinsel« (Roman, 2022), »Überzusetzen« (Essays und Arbeitsproben, 2021); als Herausgeber/Übersetzer: »EinZwei-DreiZeiler« (Minimal Poetry from Russia, Anthologie, 2023).
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