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Farhad Showghi: Wolkenflug spielt Zerreißprobe

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Gerrit Wustmann


Die letzte Fassung des Blicks

Farhad Showghi und die Entschleunigung



Vielleicht ist es eine der besten Eigenschaften von Lyrik, die dafür sorgt, dass sie so wenig gelesen wird: Sie zwingt uns, innezuhalten, uns Zeit zu nehmen. Sie zwingt uns, das Hier und Jetzt zu verlassen. Uns ganz auf sie einzulassen. Man kann gute Lyrik nicht mal eben nebenbei lesen, sondern man muss ihr einen eigenen Raum schaffen, sich mit ihr beschäftigen, bereit sein, ein Gedicht wieder und wieder zu lesen. Schnell drüber weglesen um Inhalt zu erfassen – das funktioniert nicht. Das Gedicht verweigert sich dem Oberflächlichen.

Aber Einlassen – nicht nur auf das Gedicht, sondern auch auf sich selbst und das, was es mit einem macht – erfordert Mühe, erfordert Hingabe. Wer will das heute schon noch? Und in der Schule bringt einem das auch niemand bei.


Wer es aber will, der wird bei Farhad Showghi aufgefordert, ganz genau hinzusehen. Showghi schreibt Gedichte, die die Wahrnehmung verändern können. Es kann vorkommen, dass man nach dem Lesen im Garten steht, zwischen Bäumen und Vögeln, und viel mehr sieht, reflektiert, als zuvor. „Der Rücken klebt ja nicht ständig am selben Himmel mit dem Hellblau des Hemds, das Auge schreibt weiter an der letzten Fassung des Blicks.“ Das ist so ein typischer Showghi-Vers. Das wirkt, das bleibt hängen. Es gibt ein ganzes Universum solcher Verse in seinem neuen Band „Wolkenflug spielt Zerreißprobe“, der pünktlich zur Frankfurter Buchmesse bei Kookbooks erschienen ist. Nach „In verbrachter Zeit“ sein zweites Kook-Buch.

Showghis verschlungene Prosagedichte kommen oft in den ersten ein, zwei Versen fast harmlos daher, führen einen in die Natur, in Vertrautes – und lassen die Hand des Lesers dann ohne Vorwarnung los. Es sind oft intuitiv wirkende Spiele mit der Wahrnehmung, die für das, was wir sehen, erleben, empfinden, neue Sprachlandschaften skizzieren, die alles Gewohnte weit hinter sich lassen.


Von Skizzieren reden.
Von Gekräusel und Strichen, die ausgespart werden.

Ließ die Finger vom Neumond. Doch hielt sie gestreckt.
Mit Verbindungslust. Auf nahen Wind.
Auf fernere, leicht biegsame Spitzen.

Warte: Was sich auch tut, muss eine Weile nichts berühren.
Wird gerade verpasst. Oder später erinnert.
Wird Abstand nehmen, mitleuchten müssen.

Gleich beginnt mein Name in die Irre zu führen.
Hört nicht auf den Mund.

Geräusch von Zügen. Ein Fürsprecher.
Kurz angebunden. Nachdem schon vorhin alles klar war.


Und irgendwo draußen, sehr weit draußen,
im Beisein eines Hügels und vieler Gräser,
unbestimmt, frei heraus, beispiellos:

Ein letzter Spielpunkt.
Hängelibellen, die flink gewesen.

Ungereimtheiten.
Allenfalls noch Apfellaub.
Reste von Wehrlosigkeit.


„Reste von Wehrlosigkeit“: Diese komplex-pointierten Bilder und Sprachspiele sind es, die Showghi immer wieder ins vermeintliche Idyll oder in das Diktat der Beobachtungsgenauigkeit einbrechen lassen, um die Perspektive neu zu ordnen. Wo steht das Lyrische Ich? Wo steht der Autor, was nimmt er wahr? Und was gibt er davon an den Leser weiter, oder besser: Wie? Man will sein „Zögern nicht gegenstandslos lassen“, wenn man diese Gedichte betritt. Sie begleiten einen. Wie kann man heute Nacht den Mond betrachten, ohne die Finger zu heben, ans Skizzieren zu denken – das Skizzieren einer Welt, die im Wahrnehmen immer nur Skizze bleiben muss. Flüchtig. Denn das Ganze zu erfassen – das ist schlicht unmöglich.

„Ich sage: Der März kommt bald noch heller davon, / weil das Gegenteil des Schweigens eine Anzahl von Dingen vertritt“, heißt es in einem Gedicht über „Jede Menge Seitenstraßen“. Darin geht es um einen Weg. Um einen vertrauten, vielleicht um den Arbeitsweg oder den Heimweg, der – wie alle Wege – letztlich trotz aller Vertrautheit in die Irre führt. Weil er ablenkt. Weil er Optionen eröffnet, so viele, dass wir sie zwangsläufig ausblenden müssen, wenn wir nicht durchdrehen wollen.

Die Gedichte von Farhad Showghi zelebrieren eine maximale Schärfung des Blicks und finden Erkenntnis oft in der Unschärfe, die entstehen muss, wenn man alles zu erfassen versucht. In der Detailtiefe ist man bisweilen an den Nouveau roman erinnert und fragt sich zwangsläufig: Wie würde ein Roman von Showghi aussehen? Ist dieses poetische Erzählen nicht schon in jedem Augenblick ein Mikrokosmos, der ganze Romane in sich trägt? Etwa wenn ein Gedicht, in dem Hunde abwesend sind, den „Hunden von Teheran“ gewidmet ist, und wenn im Fenster, das einen Riss hat, weiße Berge aufscheinen und sich vor dem Auge des Lesers das Alborz-Gebirge im Norden der Stadt erhebt?

Showghis Texte sind, das führt uns an den Anfang zurück, Gedichte, die viel vom Leser fordern. Zeit. Ruhe. Sich-einlassen. Man muss sie, um sie zu erleben, mit sich tragen, muss eben selbst zum Mond blicken, zum Neumond, und sich bewusst machen, dass man ihn so oft gesehen, so selten aber wirklich wahrgenommen hat. Und dass er nie derselbe ist, weil der Kontext sich ändert. Nicht nur in jeder Nacht. Sondern in jeder Minute. Die Zerreißprobe im Titel ist am Ende eine Zerreißprobe der Wahrnehmung.


Farhad Showghi: Wolkenflug spielt Zerreißprobe. Gedichte. Berlin (kookbooks) 2017. 88 Seiten. 19,90 Euro.

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