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Facebook-Gespräche anhand einer Rezension zu Ben Lerners: "Warum hassen wir die Lyrik?"

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Facebook-Gespräch
anhand einer Rezension zu Ben Lerners

„Warum hassen wir die Lyrik?“


Dieses Chat-Gespräch vom 12. Februar 2023 bezieht sich auf die Sicht Ben Lerners von den zwei Zuständen eines Gedichts, ähnlich der mittelalterlichen Trennung von „in potentia“ und „in actu“, sprich: auf das „virtuelle“ Gedicht, also das noch nicht geschriebene, und auf das „konkrete“ (auf Papier gebrachte, veröffentlichte), eingefügt nach dem Streit und öffentlichen Eklat um die Vergabe des Peter-Huchel-Preises 2023.


Yevgeniy Breyger
Interessant! Ich frage mich nun diesbezüglich: "Das virtuelle Gedicht ist das, das uns im Kopf kreist, ungeschrieben, (Benn spricht da von den „Flimmerhärchen“). während das konkrete jenes ist, das aus diesem Kreisen, diesem Flimmern, in Sprache gebracht, entsteht." -- Wäre dann die These, das manifestierte Gedicht sei durch die Bedingungen des Schaffens kompromittiert und dadurch Protokoll des Scheiterns nicht genauso wahr, wie ihr Gegenteil? Dass also das virtuelle Kreisen von den Bedingungen des Denkens kompromittiert ist, während die Fertigkeiten, die ins Geschriebene überführen als Konvolut bewusster und unbewusster Prozesse ERST das Scheitern/Kreisen des Denkens aushebeln? Ob nun Kreisen oder Formen, kompromittierend scheint mir an beidem wenig. Bedingtheit ist ein Fakt, seltsam, das Kreisen als originären Urzustand zu behaupten. Ich würde glatt so weit gehen, festzustellen, dass die virtuellen Gedichte in meinem Fall (für mich) wertlose Produkte von Denkbewegungen und Regungen sind, die (von mir) zum Erkenntnisinstrument gemacht werden müssen, um mir Mehrwert zu liefern. Und: Das mag bei anderen gut und gern anders sein. Gerade, wenn Kategorien wie "Talent" benannt werden, wäre es doch spannend, verschieden geartete Talente - Denken, Formen, Deren organische Vermischung etc. -- mitzuliefern. Ist das nicht eine deutliche Schwachstelle, zumindest dieser These von Lerner? Und beruht sie nicht auf der Agenda, das Gedicht als transzendentes Gebilde darzustellen und einmal mehr die Rolle des Schreibenden zu diskreditieren, zum Medium zu degradieren? Was in dem Fall kaum etwas anderes hieße als "alle anderen Schreibenden, bis auf mich, denn ich setze die Regel"?

Kristian Kühn
an Yevgeniy Breyger Also im Zusammenhang mit Blake hat Yeats etwas sehr wichtiges, finde ich, über die Intuition und Imagination gesagt. Bei allen wichtigen Vorhaben ist sie von Haus aus da - sie schwindet dann aber beim Schreiben - du planst etwas, bist begeistert, unsprachlich baut sich ein Raum auf, (auch beim Verliebtsein, ähnlich) du weißt für einen Moment genau, was du schreiben wirst, die Worte laufen an dir vorbei und ab - dann fängst du an, aufzuschreiben - und es wird anders. Vielleicht besser sogar, aber immer anders. Beim Schreiben ist der Ablauf der durchgelaufenen Worte der Imagination nicht mehr da, du kannst ja kein Steno und konntest so schnell bestenfalls lückenhaft mitschreiben - das läuft dann parallel, setzt sich sozusagen neu drauf. Weil es sich konkretisiert. Auch weil sich der Rhythmus und die Prosodie neu formen. Und das Wichtigste: die Imagination weicht dem realen Zustand des Schreibens. Und schwindet. Und da sagt Ted Hughes, dann, wenn es nicht mehr von sich aus schreibt, ist es nicht mehr lebendig und gehört in den Papierkorb. Es ist sehr schwer zu beschreiben. Mir hat mal ein Hörspielregisseur gesagt, kleine Fehler soll man lassen, sie erhalten das Lebendige. Ich selber hatte mal als Regisseur den Schauspieler, der damals auf Platten Django sprach und ich ließ ihn einen Satz mindestens 30 Mal sagen, und nie klang es so wie Django, und später hörte ich die 30 Varianten ab - und sie waren allesamt gleich. Exakte Kopien. Als hätte er nur einmal den Satz gesagt. Darin sehe ich den Unterschied zwischen Imagination (Django in meinem Kopf) und den zeitlichen Abläufen und irdischen Begebenheiten. Die Poesie ist dann weg. Sie muss neu erstellt und collagiert werden. Ich denke, das dann, dieses Arrangieren ist die Kunst des Talents. Imagination (Lerner spricht da ja vom TRAUM) ist was anderes. Hat mit Talent nichts zu tun. (Elke Erb hat mal im Zusammenhang mit ihren 10-Minuten-Notaten etwas ähnliches gesagt: https://signaturen-magazin.de/elke-erb-1.html)

Klaus Anders
an Yevgeniy Breyger Wenn man die Veränderung, die ein Gedicht im Prozess von der (meist eher undeutlichen) Intuition/Imagination hin zum hergestellten Gedicht als ein Scheitern benennt, sollte dasselbe auch für die Bildung einer Theorie der Entstehung von Poesie gelten. Auch die sieht am Ende anders aus als das perfekt erscheinende Gebilde, das dem Urheber vorschwebte. (Und sie trägt den Wurm, der sie letztlich zerfrisst, schon in sich.) Da ist nichts, was den Schreibenden zum bloßen Medium degradiert, er ist ja nicht bloß passiv, er kämpft um eine Verwirklichung. Die Mängel eines Gedichts, das Nicht-Perfekte, können (müssen nicht) eine wesentliche Bedingung seiner "Haltbarkeit" oder - wie Kristian sagt - seiner Lebendigkeit sein. So wie ein schönes Gesicht durch einen leichten Silberblick über alle Schönheit hinausgehen kann, weil es uns im Innersten erschüttert. Auch ein Tischler wird feststellen, dass er das Möbelstück, welches ihm vorschwebte, nicht zu realisieren vermochte. Dieses Scheitern, wenn man es so nennen will, gehört zu uns Menschen.

Yevgeniy Breyger
Mir scheint es wichtig, stärker hervorzuheben, dass ihr beide mit dieser Argumentation eine zutiefst religiöse Ansicht vertretet. Einer der Knackpunkte ist der Satz von dir, Klaus, das Scheitern gehöre zum Menschen. Wie Lerner, stellt ihr euch auf die gleiche Seite einer Dualität, konstatiert, dass es einen Urzustand gibt, aus dem der menschliche Geist schöpfe und ihn in Kunst überführe. Ob das Überführen dann negativ behaftet oder menschlich notwendig genannt wird, ist beinahe zweitrangig. Der Grundgedanke bleibt: Die Substanz sammelt sich außerhalb an und muss gebannt werden. Die Schöpfung/Göttliches auf der einen Seite und dem gegenüber ein menschgemachtes oder gar menschliches Abbild. Ohne dem widersprechen zu müssen, könnte ich an dieser Stelle, wie gesagt, das Gegenteil behaupten: Ich glaube an die Schöpfung, an den schöpferischen Prozess so weit, als dass ich sage, der Urzustand der Schöpfung ist genau derjenige, der schließlich auf dem Blatt/Bildschirm erscheint. Alles Vorherige, Gedachte und Empfundene qualifiziert sich durch dessen zeitliche Vorangestelltheit nicht automatisch zur Urform. Vielmehr zum Schattendasein, vorangestelltem Abbild der Schöpfung oder um es poetologisch in die Gegenwart zu tragen: zum Material, nicht aber zu Materie. In meiner Deutung gibt es kein Lied, das in den Dingen schläft und nur angetippt werden müsste. Das Lied ist das Ding, der Subtext ist Text, Dichter:in ist ungleich Gedicht. Meine Agenda also scheint eurer entgegenzulaufen. Wenn wir uns von Agenda aber trennen und näher an reale Schaffensprozesse rücken, an Neurologie, Physis, Konzentration und deren Ausdruck, bleibt auch davon wenig. Müssten wir nicht erkennen, dass unsere Gehirne solche Dualismen verbieten, indem sie Zapfen & Schaffen, Material & Materie, Bedingen UND Bedingung stellen in verschwindend kleinen Zeitintervallen abwechseln, wechseln und verwechselbar machen? Intuition/Imagination, die Differenzen werden obsolet. Um zuletzt zu versuchen, in Termini des Glaubens gegen Lerner zu argumentieren: Was geschieht, wenn Schöpfende:r sich als solche:r begreift? Wird er/sie zu Gott? Wird die Schöpfung wertlos? Oder ist es das gleiche? Poetologisch gesehen, ist es mir einfach wichtig zu definieren: 1. Es gibt keinen Urzustand des Gedichts, den ich mit meinen Mitteln versuche ins Konkrete zu überführen. 2. Der Prozess des Schreibens, meine Bedingtheiten und das Endprodukt sind von einander nicht zu trennen. 3. Warum hassen wir (ich) die (meine) Lyrik? Das Gedicht hebelt die Grenze von Innen nach Außen aus, es vermischt das Subjekt mit Außenwelt, ohne auf Zeitlichkeit Rücksicht zu nehmen. Lebendiges & Totes werden in Angesicht der Zeit im Gedicht gleichwertig. Der Unterschied zwischen einer subtilen Regung und einem gewichtigen Plan wird obsolet. Dasein verschwindet, Auflösung schöpft. Es erfordert ein grenzenloses Selbstbewusstsein, um das Selbst darin aufrechtzuerhalten. Jemand sucht das Selbst, jemand mag es nicht verlieren, das wäre etwas wie Identität. Quatsch, Quark, Quantum. Die Entscheidung bleibt: Stelle ich mich auf diese Seite, die Andere? Oder setze ich mich erst einmal hin?

Kristian Kühn
an Yevgeniy Breyger Ich antworte später, weil ich jetzt keine Zeit habe - nur ein Impuls: warum kein Wechselspiel zwischen Innen und Außen, letztlich lehnst du die Moderne ab, als Wechselspiel zweier Welten, und auch die Postmoderne (nach Hamacher) des Mit ohne Mit. Niemand, auch ich nicht, bestreite, dass du als Dichter ein kleiner Demiurg bist. Was aber kannst du schöpfen, wenn es außer dir und der Materie (du nennst es auch Material, sobald du sie dir aneignen kannst) keine innere Formgebung von etwas Größerem als deinem Selbst gibt, die über dich hinausginge, dann gäbe es keine Liebe, nur physische Schönheit, Verfall und Streit. Das Irrationale, der Stachel in dir, wäre bloß ein Versäumnis, sich etwas noch nicht angeeignet zu haben. Das ist die Idee des Beutelmuttertiers, das sich in der Natur zu behaupten hat, und die darwinistische Idee in Reinkultur. Schutz nur dem Eigenen. Jede Form der Magie wär dann auch bloß ein natürlicher Akt der Aneignung. Weil du dann aus deiner Physis schöpfst und nicht aus einem größeren Reservoir, in das du beim Schreiben eintauchst.

Yevgeniy Breyger
an Kristian Kühn Um das Denkmodell zu verlassen und zu so etwas wie einem Standpunkt zu kommen: Ohne was in meinem Fall keine Magie auskommt: Handwerk. Gnadenloses Handwerk. Das gibt es in Lerners Umriss natürlich ebenso, als Mittel zum Übertragen der Imagination ins Konkrete. Und da liegt ein Problem. Wozu Handwerk und Magie trennen? Naturwissenschaft und Zauberei? Physik und Liebe. Postmoderne ist wohlgemerkt längst ein historischer Anachronismus. Und wo du Hamacher erwähnst: Auch sein Fehler, der Gedanke, er würde an der Gegenwart forschen.

Kristian Kühn
an Yevgeniy Breyger Ja, da geb ich dir in beiden Punkten recht. Handwerk = Technik = Techniker*in, aber von was? Techniker wurden in der Antike auch die orphischen Priester genannt, und die Schüler („o tekné“), um eine Liturgie, ein Handwerk zu erlernen. Setzt aber ein System voraus, eine Religio = Anbindung, kann auch eine Ideologie sein oder die Verteidigung eines Gesellschaftssystems oder einer Utopie (magische Cyborgs mit KI-Systemunterstützung und Apparaturen unsere Zukunft), es kann als Gegensatz aber immer nur etwas sein außerhalb von Natur = "Leben". Früher nannte man das Andere, das außerhalb des (vegetabilischen oder vegetativen) Lebens (metaphorisch) Licht, Ordnung, Geist oder schlicht das Gute, daraus resultierte dann die Schönheit und die Liebe als sich öffnender Raum bzw. Zustand. Als Dichter/in hast du also als Material beides: Licht und Leben (ich gebe allerdings zu, dass das nah an der Hermetik ist). Die Moderne baute genau auf diesen Zwiespalt. Du siehst doch jetzt den Punkt, warum letztlich gerade bei Zander der Aufstand kam, und nicht vorher oder noch davor - denn sie ist - wenn auch im postmodernen Gewand - letztlich eine Hermetikerin dieses Zwiespalts, und das wird instinktiv von Teilen der Gesellschaft abgelehnt, selbst wohlwollende Dichter*innen sagen, ich hätte zwar jemand anders gewählt, aber sie anzugreifen, geht gar nicht! Sie wird nicht mehr verstanden von dieser Klientel. Die Moderne ist vorbei. Und damit auch das Mäandern einiger der bisherigen postmodernen Größen in den Hintergrund getreten.

Klaus Anders
an Yevgeniy Breyger Ich habe zwei Phasen eines Prozesses, Beginn und Schluss (Ergebnis), gegenübergestellt. Das ergibt keine dualistische Auffassung. Und das Religiöse spielt bei dieser Betrachtung keine Rolle. Ich versuche es mal anders: Ein Gedicht beginnt mitunter (bei mir meistens) mit Bruchstücken, Bildern, Wortfolgen. Es gibt keinen Plan. Wenn ich mir die Mühe mache, das zu notieren, spinnt es sich nicht selten fort und ein Text entsteht unmittelbar oder erst nach einer Inkubationsphase. Während ich diesen Text also schreibe, kann ich mir nicht selbst über die Schulter schauen, der Text bildet sich wie Kristalle in einer gesättigten Salzlösung zusammenschießen. (Das Zurücktreten und Sich-Bewusstmachen folgt entweder als nächster Schritt oder ein schneller Wechsel zwischen bewusstem und unbewusstem Handeln findet während des Aufschreibens statt. Dabei als Gefahr: denkst du an einem Punkt zu lange nach, verlierst du den Fluss und dann ist plötzlich Feierabend, der Faden ist gerissen.) Eine andere Weise ist ein mehr oder weniger deutliches Gesamtbild von einem Gedicht, dass ich es also vor mir sehe als fertiges. Bei mir eher selten. Gibt es aber auch. Beim Versuch, dieses Bild in ein Gedicht auf dem Papier umzusetzen, entsteht etwas anderes. Das ursprüngliche Bild verblasst, geistert vielleicht noch als etwas Nicht-Erreichtes, Verfehltes herum, verschwindet dann. Egal, ob so oder so, kann mir eine Diskrepanz zwischen Beginn und Ende bewusst werden. Man kann das Scheitern nennen, denn so fühlt es sich an. (Und langjährige Praxis lehrt dich, dass jede Vorstellung von der Verwirklichung immer ein gutes Stück entfernt ist, das gilt für alle Bereiche menschlichen Planens und Herstellens.) Womöglich, weil Teile unterwegs verloren gehen, weil die Sprache, die mir Widerstand entgegensetzt, zu hohe Reibungsverluste verursacht hat u.a.m. Vielleicht kann man sagen: Je deutlicher mir etwas zu Beginn erschien, desto stärker nehme ich gegen Ende des Prozesses eine Diskrepanz wahr, die mir als ein Scheitern erscheinen kann. --- Dass der kreative Prozess in eine jeweilige kulturelle Matrix (Religion, Ideologie etc.) eingebettet ist, sei hier als selbstverständlich vorausgesetzt. Ebenso, dass die rein handwerkliche Seite beherrscht werden muss. Aber auch hier Vorsicht: zu große technische Perfektion schafft Sterilität. --- So viel nur auf die Schnelle und ohne langes Nachdenken.

Rainer René Mueller
In Tom Schulz' neuen Gedichten geht es um irritierende Momente, um nicht genau bestimmbare, flirrende Augenblicke, die in ihrer flüchtigen Besonderheit nur das Gedicht festhalten kann.
Neue Zürcher Zeitung Angelika Overath
Wenn Gottfried Benn von sechs oder acht perfekten Gedichten sprach, die einem Lyriker im Leben gelingen könnten, war er dann bescheiden in seinem Anspruch, oder war er maßlos? Es ist schwer zu sagen, was so ein schmales Gebilde aus Sinn und Sound makellos erscheinen lässt. (Schönheit ist nicht begründbar; beschreibbar vielleicht.) Und doch hören wir schnell, wenn etwas nicht stimmt. Ein Zuviel an hohem Gefühl nährt den Kitschverdacht, ein Füllhorn ausgeschütteter Einfälle macht Verse zufällig und damit fragwürdig.

Rainer René Mueller
"Die Lage ist folgende: Der Autor besitzt:
(...)
3. besitzt er einen Ariadnefaden, der ihn aus dieser bipolaren Spannung herausführt, mit absoluter Sicherheit herausführt, denn - und nun kommt das Rätselhafte: das Gedicht ist schon fertig, ehe es begonnen hat, er weiß nur seinen Text noch nicht. Das Gedicht kann gar nicht anders lauten, als es eben lautet, wenn es fertig ist. Sie wissen ganz genau, wann es fertig ist, das kann natürlich lange dauern, wochenlang, jahrelang, aber bevor es nicht fertig ist, geben Sie es nicht aus der Hand."
(Gottfried Benn: Probleme der Lyrik)


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