Fabian Lenthe: Streichhölzer
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Ulrich
Schäfer-Newiger
Fabian
Lenthe, Streichhölzer. Gedichte. Berlin (XS-Verlag) 2024. 100 Seiten. 18,00
Euro.
Nach Art der Spartaner
Fabian
Lenthes neuer Gedichtband mit dem Titel „Streichhölzer“ ist vom XS-Verlag in
Berlin ganz unprätentiös aufgemacht: Schmal, klein, leicht, einfach in eine
Jackentasche zu stecken und auf Spaziergängen mitzunehmen, ohne Bilder,
Zeichnungen oder sonstige erklärende Zusätze wie Vor- oder Nachwort (außer
einem kurzen Klappentext) oder nur einem Inhaltsverzeichnis. Genauso lapidar
erscheinen auf den ersten Blick die im Band enthaltenen, wenn ich richtig
gezählt habe, zweiundachtzig Gedichte: Ohne Titel, die sie belasten und
interpretieren, ohne jegliche Satzzeichen, in denen sich der Lesefluss
verstricken oder die ihn leiten könnten. Das alles haben diese Texte nicht
nötig. Auch auf dem zweiten Blick scheinen sie eher banal, die Sprache allzu
einfach, die ‚Gegenstände‘ nichtssagend, alltäglich, die Texte kurz, 4 oder 5
Zeilen, mitunter Haiku-ähnlich, leicht wie Streichhölzer. Wenn ein Gedicht 10
oder 15 Zeilen hat, scheint es schon ein Langgedicht zu sein. Das alles aber
sind Äußerlichkeiten.
Schon
das erste Gedicht im Band (S.9) macht den irreführenden Charakter der
scheinbaren Leichtigkeit der Texte deutlich:
Der Kirschbaum vor meinem FensterExistiert nichtSelbst die Vögel auf seinen ÄstenSingen keines seiner LiederUnd auch seine saftigen FrüchteSchmecken nach nichts
Mittendrin sind wir hier
schon in dem schönen Grundproblem aller Literatur, nämlich ihrer sich mitunter selbst
wider-sprechenden Fiktionalität. Ihr ‚so tun als ob‘, legt der Autor hier gleich
in jeder zweiten Zeile offen, indem er der Existenz des von ihm selbst zuvor Geschilderten
(Kirschbaum, Vögel, Früchte) widerspricht. Der Text offenbart sich durch seine
Form (Zeilenbruch), seine Kürze und Prägnanz als Gedicht, als ein literarischer,
ein fiktionaler Text also. Ist demnach auch die jeweilige Verneinung Fiktion? Wenn
ja, was heißt das für die Existenz des Kirschbaums? Wenn nein, ist der Text gar
kein Gedicht, sondern ein Sachtext über den fiktionalen Charakter von
Literatur? Diese Fragen bleiben selbstredend hier und im Gedichtband
unbeantwortet, weil unbeantwortbar, will man nicht in einen infiniten Regress
geraten. Gedichte lösen ja auch keine Rätsel, sondern geben welche auf. Dafür
ein weiteres Beispiel (S. 14):
Ein Kadaver am StraßenrandSchnabel und FedernUnd etwas später ein Stück PapierDarauf stand nicht einmal ein NameAnsonsten das ÜblicheEtwas Anderes war da nicht

Hier sind alle Elemente
lakonisch-prägnanter Poesie beisammen: Banale Gegenstände (Kadaver,
Schnabel, Federn, ein Stück Papier) werden einfach nur konzentriert
und unausgeschmückt aufgezählt und der Rest bis zur Verflüchtigung des
Anschaulichen verallgemeinert (das Übliche). Aber das Papier, auf dem
nicht einmal ein Name stand, ist vielleicht doch mehr als nur banal – ist es
nicht eine Allegorie oder ein Bild für etwas? Bedeutet dieser einfache Hinweis „ohne
Namen“ nicht etwas? Hatte nicht Walter Benjamin in seinem Essay Über die
Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen festgestellt: Das
sprachliche Wesen des Menschen ist also, daß er die Dinge benennt, dass er
ihnen also Namen gibt? Wo demnach ein Name fehlt, da keine Sprache? Will uns
der Autor darüber unterrichten? Mit solchen Fragen aber ist der Rezensent schon
hineingefallen in die Falle, die der Autor mit seiner poetischen Methode der
betonten und damit Bedeutung evozierenden Nüchternheit des Sprachgebrauchs
stellt. Und mit der letzten Zeile des Gedichts auf die Spitze treibt, zugleich
bestätigt und widerspricht: Etwas anderes war da nicht. Das ist die
wortkarg-kurze Schlussfolgerung des zuvor Angeschauten. Wenn sie im
spartanisch-lakonischen Sinne auch treffend ist, verbietet sich jede aufdrängende,
weitere metaphysische Betrachtung der Szenerie: Es ist nichts weiter, also auch
nicht hinter dem, als das, was da ist, als das, was sich uns sinnlich offenbart,
erst recht kein kantisches „Ding an sich“. Damit ist natürlich doch eine
Bedeutung in den Text eingeschrieben. Wir entkommen den Fallstricken der
Inter-pretation, die der Autor ausgelegt hat, nicht.
Lakonisch wirkende
Schlusssätze oder auch Zwischensätze finden sich einige in den Gedichten des
Autors; sie gehören zu seinem poetischen Repertoire. Sie machen, wenn man so
will, den „Streichholzcharakter“ der Texte aus, denn sie entzünden jeweils ein
Denk- und Fragefeuer. Das ist die Qualität dieser unscheinbar daherkommenden
Gedichte. Auch über Streichhölzer gibt es ein Gedicht. Darin wird ein „Du“
angesprochen, welches dem Sprechenden Streichhölzer versprochen hatte, mit dem
Hinweis, dass man / Im Notfall / Immer etwas // Anzünden könne. Wenn der
Gedichtband, wie es im Klappentext u.a. heißt, eine Geschichte vom Ende einer
Liebe erzählt, dann tut er das ganz indirekt, ganz vorsichtig, ganz
unaufdringlich. Das Streichholzgedicht mag dazu gehören. Oder folgender, eine
scheinbar unmotivierte, lächerlich scheinende Aggression beschreibender
Vierzeiler: Als ich das Messer nahm / Und in den Dotter stach // Fiel mir
das Atmen / etwas leichter. Oder auch dieser: Ich saß auf derselben Bank
/ Unter demselben Baum // Später würde ich nach Hause kommen / und es niemandem
erzählen. An diesen Beispielen besonders offenbart sich die melancholische
Grundstimmung, welche alle Texte charakterisiert.
Ein weiteres poetisches
Merkmal des Autors ist es, Widersprüche und Gegensätze in seine kurzen Texte zu
packen, ohne sie aufzulösen. Beispiel (S.68):
Wie die SonneDas Blechdach vergoldetUnd die SilvesterraketeDie seit Jahren verdorrt.
Vergoldet ist hier demnach auch,
was verdorrt. Eine nicht alltägliche, widersprüchlich wirkende Assoziation. In
einem anderen Beispiel beschreibt der Autor das langsame Verblassen seines
Namens auf dem Briefkastenschild. Die Sonne hatte ihn nach und nach in ein
beinahe / Durchsichtiges Grau verwandelt. Dann heißt es scheinbar
zusammenhanglos weiter: Auch die Jalousien der Fenster / Im sechsten Stock /
Blieben seit Wochen // unverändert. Das Wörtchen „auch“ scheint hier auf
den ersten Blick nicht zu passen, wird doch das langsame Verblassen mit
‚unverändert‘ gleichgesetzt. Daran kann sich wieder ein Nachdenken und Fragen
entzünden: Ist das ein Widerspruch oder ein zutreffendes Bild für die
Uneindeutigkeit oder Mehrdeutigkeit der Welt? Oder werden auch da Abgründe der Wahrnehmung
der Wirklichkeit angedeutet?
Am Ende des Bandes
schließlich bricht sich die allgegenwärtige Melancholie der Gedichte Bahn: Die Möwen / In meinem Kopf / Sind alle tot
// Ich höre nicht einmal / Das Meer. Das kann und muss unkommentiert so stehen
bleiben und wirken.
Diese
aufs Allerwenigste, auf scheinbare oder tatsächliche Banalitäten reduzierten
Verse, diese entschlackte Sprache, die Konzentriertheit des sprachlichen
Ausdrucks erinnern mitunter an Texte älterer amerikanische Autoren wie W. C.
Williams oder Robert Creeley. Gegen den
Trend des ‚New Nature Writing‘ oder der sogenannten ‚anthropozänen Lyrik‘ entfalten
die Gedichte Fabian Lenthes einen inzwischen unbekannt gewordenen, inhaltlich
und sprachlich erfrischend-eigensinnigen Stil – und Lesegenuss.