Fabian Lenthe: Apnoe
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Kristian Kühn
Fabian Lenthe: Apnoe. Gedichte. Mit vier Zeichnungen von Michael Blümel. Dortmund (Rodneys Underground Press) 2020. 79 S. 8,95 Euro.
Sitzen / Bleiben
In den Flüssen nördlich der Zukunft
werf ich das Netz aus, das du
zögernd beschwerst
mit von Steinen geschriebenen
Schatten.
(Paul Celan: „Atemkristall“, später in „Atemwende“ enthalten)
In seinen späteren Gedichtbänden nähert sich Paul Celan mehr und mehr der atemlosen Stille des Verstummens im kryptisch gewordenen Wort, schreibt Hans Georg Gadamer in seinem Kommentar zum Zyklus „Atemkristall“.
Ein Atemkristall ist aber etwas anderes als eine Atemlähmung, ein Atemstillstand, eine „Apnoe“, wie Fabian Lenthe seinen neuen Gedichtband nennt. Das Kristall nimmt auf, leuchtet, strahlt, wenn es Licht empfängt, gibt es zurück. Bei Celan ist das Ich ein Fischer, der das Netz auswirft und dann wartet, erwartet. Lenthe hat ein gleiches Ziel, stellt aber seinem Band ein Motto von Heinrich von Kleist voran, der seine Vertraute fragt, ob man überhaupt den Gedanken, glücklich zu sein, wagen dürfe, „wenn alles in Elend darnieder liegt“. Doch auch Lenthe wartet, sitzt und schaut in sich hinein, um sich der Leere, die zugleich Fülle ist, zu nähern:
„Einmal sah ich nachts in den HimmelWährend ich dasaß und trankUnd ich war mir nicht mehr sicherWessen Leere ich füllte“(Leere, S. 11)
Das Sitzen ist nicht nur ein Begriff von Inaktivität,
sondern steht in spirituellen, vor allem buddhistischen Kreisen eben auch für
Meditieren und Empfangen, Durchdringen. Es sind kurze gleichnishafte Gedichte,
die Lenthe schreibt, zumeist sehr schlicht und lakonisch anmutend, als hätte er
nichts zu sagen und wolle weder am Geschehen der Welt teilnehmen, auch nichts mehr
erwarten, nur achtsam bleiben und sich nicht vom Ziel, Ablenkungen ignorieren
zu lernen, abbringen zu lassen, um ihr sich ewig drehendes dunkles Rad eines
Tages zu verlassen.
„Als ich einmal dachteIch hätte genug gelebtUnd mich hinsetzteUm eine Pause zu machenDa fiel neben mir jemand vom StuhlUnd stand nie wieder auf“(Pause, S. 14)
Noch ist er in diesem Kreislauf und wirkt auf die Umgebung ein, ohne es zu wollen wie mit Übertragungszaubern – denn jeder Gedanke ist schon ein Wunsch, jede Pause ein Vollzug, eine Schuld, ein kleiner oder großer Tod. Atemlähmung ist das Gegenteil von Teilnahme, von Austausch, eine Einübung in die Nichtausbreitung, ein vorübergehendes Anhalten der Welt als Übung und Erwarten eines kleinen Austritts aus dem Körper in die Leere.
Aber das Leben als Gewusel geht weiter, vor allem im Frühling nimmt es neue Fahrt auf und lähmt die Lähmung:
„Hier blüht BetonSprießt wilder SchattenDuftet der AsphaltUnd ein paar Schritte weiterIst schon wieder Frühling“(Frühling, S. 17)
Es ist kein Phlegma, was man zunächst beim ersten Lesen meinen könnte und sich fragt, warum Lenthe dann überhaupt einen Gedichtband schreibt, darüber, ob er sich einmal am Ende eines Tages umgedreht habe, verwundert, dass schon wieder etwas an ihm vorbeigezogen sei, ohne Licht, aber voller Leben.
„Da singt ein Vogel unter den TotenJeden Morgen wiederEr singt:Wenn ihr leben wolltDann fliegtUnd dann fliegt er davon.“(Vogel, S. 22)
Lenthe sitzt nicht auf dem Friedhof und fliegt von den Toten davon, er sitzt unter den Lebenden, die die wahren Toten sind, weil sie nicht davonfliegen können. Was hält ihn, was hält sie davon ab?
„Ein BlinzelnAus VersehenEin AtemzugDer Staub eines TagesOder doch vieler Jahre(Staub, S. 26)
Materie, Staub, zum Beispiel das Flimmern des Fernsehers (S. 24), noch ist er zu sehr abgelenkt zwischen „Fenster und Tür“ (S. 27), nimmt stattdessen einen Takt in sich auf, das Surren des Kühlschranks, das Rauschen der Heizung, das Tropfen des Wasserhahns (S. 35) – das Vergehen seiner Zeit, die er noch hat, nicht abgelenkt zu sein.
Doch kann er diesen „Schlaf des Yogi“ nicht zu Ende schlafen, zu seinem Glück, weil er den Tod spürt und die Freundin, es ist nicht ganz klar, ob es sich dabei um ein und dasselbe handelt, jedenfalls ist es etwas unendlich Kosmisches – ähnlich wie bei Hermann Hesse in Siddharta, wenn jener kurz vor seiner Vollendung mit der Prostituierten zusammenlebt, so lange, bis er seinen Antrieb verliert in den Armen der Frau. Es ist schön hier bei ihr:
„Ich könnte morgen ein Stuhl seinUnd übermorgen ein Tisch“(schön, S. 41)
Lenthe ist lakonisch, doch hat er auch Humor. Es krümmt sich ihm bei aller verführerischer Sinnlichkeit der Raum (S. 44), bis die geistige Richtung nicht mehr bestimmbar ist.
„Bis der Tag ein StrichUnd die Welt ein Punkt“(Punkt, S. 57)
Bis er vergisst, was ihn vom Körper getrennt hat, er sieht diesen nun als Schatten, mit dem er sinnlich wahrnehmen kann, bis zu diesem Punkt der Einfaltung hin – durch den es die Freundin, die Welt überhaupt gibt (S. 61).
„Ich falte meinen SchattenVon allen Seiten hin zur MitteAnstreiche ihn glatt an den KantenUnd lege ihn neben deinenEr war lange genug Zeuge(Zeuge, S. 63)
Er ist am Grund angelangt. Wenn ich diesen zweiten, eher kryptischen Teil des Zyklus richtig verstehe, durch Mitwirkung der Frau, die ihm bis zu einem gewissen Grad das Bewusstsein nimmt, vielleicht ist sie ein Symbol für die kosmische Mutter, die ihn einfriedet, aber zugleich auch die Unendlichkeit (S. 68) spüren lässt.
Aber erst kommt der Durchgang wie ein Tod: Lenthe bietet ein paar Lösungsmöglichkeiten zwischen hier und dort am Ende des Bandes an. Mit einer, die ein bisschen an das Atemkristall Celans erinnert, will ich schließen:
„Komm wir setzen uns und bleiben hierGehen einfach nie mehr irgendwo hinKönnten für immer seinHier auf den StufenIn der SonneGleich vor unserem HausWir würden nur noch LebenEinatmen und ausUnd zusehen wie sich alles andere bewegt[…]Und wenn ich noch nicht da binDann warte noch ein StückSetz dich einfach hin…(Stufen, S. 73)