Fabian Lenthe: Acedia
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Birger Niehaus
Fabian Lenthe: Acedia. Gedichte. Dortmund (Rodneys
Underground Press) 2021. 120 S. 9,95 Euro.
In der schwarzen Wüste des Alltags
Doch mögest du als
gleich gewiss mir glauben,
Daß andres Volk noch
unterm Wasser seufzet
Und diesen Sumpf die
Blasen werfen läßt,
Die dir dein Auge
zeigt, wohin du’s wendest.
Im Schlamme steckend
sagen sie: Wir waren
Unmutig in der süßen
lichten Luft,
Weil unser Herz des
Trübsinns Qualm benommen;
Jetzt trauern wir mit
Recht im schwarzen Moore. –
(Die Göttliche Komödie.
Canto VII, V. 117 ff. Übers. Karl Witte)
Auch die Trübsinnigen steckten bei Dante tief im
Höllenpfuhl, im fünften Kreis gar; schließlich galt die Acedia, die
Mönchsmelancholie, die Trägheit des Herzens, als siebte Todsünde. Wer die
Herrlichkeit der göttlichen Schöpfung mit ihren Seuchen, Naturkatastrophen und
Wanderfilarien nicht zu goutieren wusste, hatte es nicht besser verdient:
Dissidenten sonder Willen, büßten die Missmutigen ihre Unterlassungssünden nach
dem Tod in den schlammigen Einzugsgebieten des Styx. Ob sie dieses Schicksal wirklich
verdross oder es nicht vielmehr eine Fortführung ihres irdischen Lebenswandels (und
-vorbehalts) darstellte, sei dahingestellt.
Fabian Lenthe nimmt mit seinem Anno Domini 2021 erschienenen
Band gleichen Namens also Referenz auf die alte Tradition der Acedia und
überführt sie in die Gegenwart. Es ist der dritte aus seiner Feder. Zählt man
die Cut-Ups am Ende dazu, besteht Acedia aus genau 100 Gedichten. Schon
formal eine Anspielung auf Dantes Commedia? Vielleicht. Das wäre natürlich sehr
ambitioniert für eine Sammlung, die sich dem Laster der Trägheit verschrieben
hat (andererseits aber eine feine ironische Geste). Die Tradition dahinter ist
vermutlich bescheidener: Auch Lenthes erster Band In den Pfützen der Stadt
wächst ein Stück Himmel (2018) bestand schließlich aus genau 100 Gedichten.
Zu Lenthes Gedichten und Cut-Ups gesellen sich drei Collagen
von Urs Böke, die mit ihrer Mischung aus Elend und Sexualität bei mir Assoziationen
an die Versuchungen/Peinigungen des Heiligen Antonius wecken und sich somit in
das Gesamtbild eines modernen anachoretischen Weltekels fügen würden.
Die Gedichte selbst entsprechen diesem Bild jedenfalls
vollkommen. Typisch für Lenthes Lyrik bestehen sie aus durchschnittlich gerade
einmal vier Versen ohne Interpunktion, bestechen durch Ironie, Lakonie und Schnoddrigkeit.
Schwerfällig, aber konsequent schreitet das lyrische Ich durch die stygischen
Sümpfe des 21. Jahrhunderts. Es ist ein Balanceakt zwischen Alltags-banalität
und Abgrund, den Lenthe im Großen und Ganzen gut meistert. Nur selten rutscht
er zur einen oder anderen Seite ab, in die Larmoyanz etwa:
35.Wenn andere in den Urlaub fliegenschalte ich den Flugmodus einFirst Classin die Einsamkeit
Selbstironie und ein hervorragendes Gespür für Pointen
verhindern dieses Abrutschen in den meisten Fällen:
23.Weder Hammer noch Pflaster im HausNutzlosigkeitAls Überlebensstrategie
Oder:
19.Kein einziges Mal getroffenAuch wenn ich im Bett liegeUnd der PapierkorbIn der Küche stehtNächstes Gedicht
Zweitens schafft es Lenthe, das Gefühl einer modernen Acedia
überzeugend in Worte zu fassen. Seine Verse konturieren in ihrem Defätismus das
Bild einer unfreiwilligen Klausur, eines urbanen Eremitentums ohne
Heilshoffnung: Das häufigste Motiv im Band ist das Eingeschlossensein, der
immergleiche Tag unter dem gleichen, leeren Himmel und das Hadern mit dieser
Existenz(form). Das treffendste Beispiel dafür ist wahrscheinlich folgendes
Gedicht, das nicht ohne Grund den Rücken der Sammlung ziert:
72.Den Tag vermutenWenn es sein mussVögel oder BäumeVielleicht ein paar WolkenMehrMuss ich nicht wissen
Etikettenschwindel kann man Acedia jedenfalls nicht
vorwerfen.