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Eyþór Árnason: Drei Gedichte

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Eyþór Árnason

Drei Gedichte

(Aus: Réttindabréf í byggingu skýjaborga / Berechtigungsschreiben zum Bau von Luftschlössern, Veröld, Reykjavík 2021)

Aus dem Isländischen übertragen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer


D i e   B o x

Ich kenne einen Mann
der bewahrt sein Leben in einer Zehn-Liter-
Milchbox auf

Es ist eine schäbige Box
weiß und blau mit dem Kopf einer Kuh in der Mitte
pasteurisiert und homogenisiert
doch mit Platz für eine ganze Hölle

Wenn Unruhe ihn überkommt
und die Hunde bellen
wird die Box abgeholt
der Mann dreht den Hahn auf
und lässt einen Teil seines Lebens in ein Glas fließen

bringt es ans Licht
wendet es eine Weile hin und her
fühlt die Wärme strömen
und die Nacht kehrt zurück



V ö g e l   a u s   e i n e r   a n d e r e n   W e l t

Manchmal
fliegen Kraniche aus einem anderem Wald
über die Stadt, die Luft wechselt die Farbe,
schwer, zwischen weiß und schwarz zu unterscheiden,
denn namenlose Farben verlangen Sorgfalt und Eingebung
wie bei einer Mutter, die mit ihrer blinden Tochter
unten am Stadtteich steht
und die Farben der Stockente beschreibt  

Es ist nicht einfach,
denn die Farbe ist in keinem Malbuch zu finden,
steht nicht auf der Karte des Farbgeschäftes Slippfélagið,
und wenn der Vogel schwimmt, ändert sich die Farbe schnell,
die schwarzen Augen schauen das Mädchen an,
das dem Geplätscher am Ufer lauscht,
mit dem weißen Blindenstock gegen die Steine schlägt,
im Takt mit den Glocken der Freikirche,
wo soeben ein junger Mann hinausgetragen wird,
der den Kranichen aus einem anderen Wald
zu schnell übers Gebirge folgte



R a s t l o s i g k e i t   i m   H e r b s t

Die Gegenwart hat uns das Geschirr
der Rastlosigkeit angelegt, und so
irre ich nachts durch die Stadt,
kehre das Herbstlaub zusammen und binde
einen Lorbeerkranz aus hellen Sommergefühlen,
hänge ihn an meine Haustür,
gehe hinein und schließe ab

Drinnen laufen tickende Noten durch die Luft,
wie Goldregenpfeifer auf der Heide, und
da ist Gesang, nicht selbstgefällig,
vielmehr mit wehmütigem Unterton

Und auch wenn ich denke, dass das Werk im Laufe
der Zeit noch manche Änderungen erfahren wird, so schreibe ich
tatsächlich doch an meiner Autobiografie, die heißen wird:
Die Herbstnoten eines Haifischfängers

ein starker und männlicher Name,
der diese rastlosen Zeiten ein wenig
aus dem Konzept bringen wird


Eyþór Árnason, geboren 1954, ist ein isländischer Schauspieler und Dichter. Aufge-wachsen ist er auf einem Bauernhof im Norden Islands, gearbeitet hat er zunächst in herkömmlichen landwirtschaftlichen Berufen. 1979 zog er nach Reykjavík und begann ein Studium an der Schauspielschule Islands, das er im Mai 1983 abschloss. Von 1987 bis 2009 arbeitete er als Bühnenmeister bei Stöð 2, Islands größtem und ältestem privaten Fernseh-sender, mit der Eröffnung der Musik- und Konferenzhalle Harpa im Jahr 2011 wurde er dort als Erster Bühnenmeister angestellt und arbeitet hier bis heute. Eyþór Árnason hat bislang sechs Gedichtbände veröffentlicht und verschiedene Auszeichnungen für sein Schreiben erhalten, u.a. den bedeutenden Tómas-Guðmundsson-Literaturpreis für seinen ersten Band im Jahr 2009, Hundgá úr annarri sveit / Hundegebell aus einer anderen Gegend. Die Gedichtsammlung Réttindabréf í byggingu skýjaborga / Berechtigungsschreiben zum Bau von Luftschlössern, dem die hier veröffentlichten Gedichte entnommen sind, ist sein derzeit letztes Buch; es erschien 2021.
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