Ethisches
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Christian Morgenstern
Ethisches
1891
Die
Menschenverachtung ist für den nachdenkenden Geist nur die erste Stufe zur
Menschenliebe.
1892
Was uns
allen zumeist fehlt, ist das tiefe, dauernde Bewußtsein des wirklichen Elends
auf Erden, sonst würden wir über den Gefühlen einerseits des Mitleids,
andrerseits des Dankes ganz der kleinlichen Misere des eigenen Lebens
vergessen.
1896
Es ist etwas
Fürchterliches um einen Menschen, der leidet, ohne Tragik empfinden zu lassen.
*
Es gibt
stillschweigende Voraussetzungen unter Menschen von Geist: die soll man nicht
aussprechen. ›Oberflächlich sein‹ (oder scheinen wollen) ›aus Tiefe‹, das
gehört hierher. Eine schwere Forderung an den Radikalismus der Jugend.
*
Und immer
wieder komme ich darauf zurück, daß die Bewertung der geschlechtlichen Liebe
unter uns Heutigen eine krankhafte Höhe erreicht hat, von der wir durchaus
wieder heruntersteigen müssen.
*
Es gibt noch
eine größere Liebe als die nach dem Besitz des geliebten Gegenstandes sich
sehnende: Die die geliebte Seele erlösen wollende. Und diese Liebe ist so
göttlich schön, daß es nichts Schöneres auf Erden gibt.
1904
Hinter die
Oberfläche der Menschen sehen, hinter das ›Persönliche‹, das Leben selbst in
ihnen lieben.
*
Nein, unser
Bestes sind nicht unsere Werke. Das liegt oft in einem Blick von uns, in einem
Gedanken, um dessentwillen wir uns selber lieben möchten und um den doch
niemand je weiß und erfährt, als wir selbst.
*
Glück?
Sollst du Glück haben? Wünsche ich dir auch nur eine Spur von Glück – wenn sie
nicht deinen Wert erhöhte? Wert wünsche ich dir.
*
Zum Thema
Egoismus:
Wir lieben
nur die Bilder von allem, als etwas in uns selbst, nie das andere selbst.
*
Kein Mensch
kann etwas anderes bieten als sein eigenes Programm, aber er soll es wenigstens
so taktvoll wie möglich vorbringen, nicht wie ein Plebejer, der sich erst
zufrieden gibt, wenn er ein paar andre niedergebrüllt hat.
1905
So spricht
die edle Rasse: Ich tue dies und das, weil ich es mir schuldig bin.
*
Das Bild vom
Sündenfall bedeutet eigentlich nichts anderes als die – moralisch gesehene –
Sichselbstbewußtwerdung des Tieres. Den Eintritt des ›Geistes‹ in die
Naturgeschichte.
Was wir aus
der Geschichte des Geistes lernen können, das ist, meine ich, vor allem eine
immer tiefere Bescheidenheit, uns zu äußern.
*
Es gibt
keine Einzelschuld, es gibt nur Gesamtschuld. Wir müssen uns durchaus
gegenwärtig halten, daß die Bestrafung eines Verbrechers durch unsere Behörden
nur den Schein der Gerechtigkeit für sich hat, nicht die Gerechtigkeit selbst;
denn wie könnte die wahre Gerechtigkeit sich gegen einen einzelnen wenden, sie,
die das ganze Gewebe des Lebens vor sich ausgebreitet sähe.
*
Alles muß
allem dienen. Es gibt im letzten Sinne keine Ungerechtigkeit.
*
Wer tief
ist, muß sich schämen, sich so zu zeigen.
*
Es gibt kein
widerwärtigeres Schauspiel, als wenn aus einem Menschen ein Berufspfaffe wird.
*
Wer die
Grausamkeit der Natur und der Menschen einmal erkannt hat, der bemüht sich
selbst in kleinen Dingen, wie dem Niedertreten des Grases, schonungsvoll zu
sein.
*
Es ist
leicht möglich, daß die moralischen Vorstellungen allmählich eine nicht nur
moralische, sondern direkt dynamische (magnetische) Atmosphäre über der
Erdoberfläche geworden sind, eine Welt, die sich in gewissem Sinne selbst
regelt, selbst ihre Ausgleiche schafft, ihre eigene Gerechtigkeit hat und übt.
Daher dann jene oft beobachtete Justiz der Geschichte, jene vielen ›gerechten
Vergeltungen‹, jene moralischen Ausbrüche und Gegenströme.
*
Es gibt
keine unleidlichere Gewohnheit, als das sogenannte Nötigen bei Tische. Dieses
ewige Zureden in einer höchst untergeordneten Sache, die jeder mit sich selbst
abzumachen hat, sollte unter Menschen, die auf sich halten, verpönt sein.
*
Auf Föhr:
Ich höre
Anreden von Fremden an Eingeborene wie die folgenden: ›Sie tragen noch die alte
Tracht; bleiben Sie ja dabei; ich sehe das zu gern; lassen Sie auch Ihre Kinder
in dieser Tracht gehn!‹ Oder: ›Nein, was ist Ihre Tochter für ein
schöngewachsenes Mädchen! Sehn Sie nur, meine Herren, dieses schmale Gesicht
und dabei dieses kleidsame Mieder ...‹ Als ob diese Halligbewohner, diese
Nachkömmlinge der alten Friesen, Schaustücke eines Panoptikums wären; als ob sie
nicht mit Fug herabsehen könnten auf diese zusammengewürfelte Gesellschaft
halbkranker Groß- und Kleinstädter, die mit all ihrer ›Bildung‹ nicht einmal
wissen, wie ein Mensch einem Menschen gegenüberzutreten hat.
*
Meine Liebe
sind allein die großen Unbedingten, die Glück oder Tod bringen, die sich
vor allem bringen mit ihrem Geschmack, ihrer Wertsetzung und ihrem ethischen
Pathos, die den unbeirrbaren Sinn für Größe besitzen, eine tiefe
unauslöschliche Liebe zu dem, für welches sie geboren sind.
Und mein Haß:
Die Geschmackler, die Renaissanceier, die ›Töpfegucker jeder Stimmung‹ – die
qualligen Ästheten, die stupenden Magister .. all dieses unproduktive und
anmaßende Volk, das die Mode von heute ist, wo unser innerstes Leben
nach Stil dürstet, nach Kultur, nach Ernst, nach Kraft, nach Männern,
nach Willen und noch einmal nach dem ethischen Pathos eines Nietzsche, eines
Dostojewski, eines Lagarde, eines Tolstoi.
*
Niemand ist
zu gut für diese Welt. Menschen, von denen dies gesagt wird, sind vielmehr in
irgend einem Betrachte nicht gut genug.
*
Wehe und
wohl dem Menschen, der an keine Ungerechtigkeit mehr glaubt.
*
Die Mutter
der Tiefe heißt: Schuld.
1906
Tugend – im
gemeinen Sinne, nicht als virtù – ist sehr oft nur ein Hindernis, tief zu
werden, indem sie vor allzu gewaltsamen Leiden bewahrt, weshalb sie für
Menschen, für die kein Grund vorliegt ein außergewöhnliches Los auf sich zu
nehmen, die edelste Art bildet, mit einiger Schönheit durchs Leben zu kommen.
*
Ich meine,
es müßte einmal ein sehr großer Schmerz über die Menschen kommen, wenn sie
erkennen, daß sie sich nicht geliebt haben, wie sie sich hätten lieben können.
*
Als Dank –
pour un sourire de printemps.
Als Dank –
pour un sourire de vie.
*
Wer sich die
Unsumme von Geduld vergegenwärtigt, mit der die Masse der Menschen ihr
tägliches Arbeitslos trägt, der wird sie namenlos achten müssen, diese ›Menge‹,
trotz alledem und alledem. Und wenn wir Geistigen uns nur zu oft über sie
erheben: sie kann doch nie brüderlich genug geliebt werden. Und jedenfalls soll
sie beständig in unseren Gedanken wohnen, auch in denen, die ihr etwa zürnen.
*
Der Mensch
mag tun und leiden, was es auch sei, er besitzt immer und unveräußerlich die
göttliche Würde.
*
Man muß
Erdbeben sein und die festen Städte der Menschen immer wieder zu Falle bringen.
Man muß ihre Mauern wandeln machen, sonst stockt das Leben in ihnen. Aber es
kann auch Zeiten geben, da man Urgestein sein muß, dahinauf sich ein namenlos
geängstigtes Geschlecht retten kann. Wo man um der Liebe willen, um des nackten
Lebens willen die verwerfen und verleumden muß, die den Erdboden zur
schwankenden Welle machten, die den Abgrund predigten und die Schauder der Ewigkeit.
Man wird aus Himmel und Sternen wieder ein Bild machen, man wird die Spinnweben
alter Märchen auf offene Wunden legen müssen und all das bunte Spielzeug wieder
hervorholen, das die Kulturen bisher hervorbrachten.
Der Bürger
und nichts als Bürger ist ein trister Anblick, aber der aus jeder und gar jeder
Bürgerlichkeit hinausgeschreckte Mensch, der verfluchte Bürger, der irre,
friedlose, von jeder Gewißheit enterbte, das personifizierte Grauen vor dem
Unfaßbaren, der aus Tiefe wahnsinnig werdende Mensch – das wäre der Untergang
selbst. ›Oberflächlich aus Tiefe‹ – Lebenswort! Auf die Stirne von Tempeln!
*
Der Mensch
hat die Liebe als Lösung der Menschheitsfrage einstweilen zurückgestellt und
versucht es augenblicklich zunächst mit der Sachlichkeit.
(Vergleiche
z.B. die großen Ärzte unserer Zeit.)
1907
Enthusiasmus
ist das schönste Wort der Erde.
*
Je freier
ein Geist wird, desto gebundener wird er sich fühlen und nennen. Und am Ende
wird er sagen: Wer weiß sich mit hunderttausend Stricken gefesselter als ich?
*
Dieses
Verwerfen in Bausch und Bogen, dessen wir uns so oft schuldig machen, ist
schrecklich. So wenn einer von Rousseaus Bekenntnissen sagt: das verlogene
Zeug. Ja ja, verlogen vielleicht hier und dort und am dritten Ort – aber auch
am vierten und fünften? – Und wir selbst, die wir so sprechen, sind es also an
keinem? Nirgends verlogen, nirgends angreifbar, nirgends verwerflich?
*
Es können
nur einigermaßen gleiche Naturen in ihrem ganzen Umfang einander erklären und
abschätzen. Heut aber will jedermann interpretieren, wenn er nur schreiben
gelernt hat.
*
Man soll
über einen wahrhaft großen Menschen nicht reden. Denn worüber man bei ihm reden
kann, darauf kommt es nicht an. Es kommt allein darauf an, wie er dir innerhalb
und in deinen tiefsten Stunden erscheint. Von diesen unionibus mysticis aber
kann man nur – schweigen oder doch nur in Momenten großer innerer Kraft zeugen.
*
Glaube mir,
es gibt nichts Großes ohne Einfalt. Der Mensch, das Individuum ist Gottes
Einfalt, ist einfältig gewordene Gottheit. In der Beschränkung zeigt sich erst
der Meister.
*
Lieber einem
zu viel als zu wenig Ehre geben. Ehre sage ich, nicht ›Lob‹. Tadeln, ja ganz
ablehnen können und doch immer noch ehren, das heißt fühlen lassen: Mein
Bruder, was ich auch sagen muß, so wenig ich eine Blume in ihren inneren
Organen verletzen möchte, so wenig möchte ich Dich – verletzen! das ist es.
*
Man soll nie
auf irgendwen hinabsehen, der auf irgendeinem Wege – und sei es zehnmal ein
wider Sitte und Gesetz verstoßender – zur Freiheit strebt.
*
Wenn ich
dies und das nicht tue, so tut es ein anderer – welch grober Gedankengang! Als
ob –
*
O, wie
erniedrigt doch die ›Konversation‹, wie verführt sie uns fortwährend zu
Urteilen, die wir gar nicht haben, deren wir uns gleich darauf schämen, die
nichts als höheres Geschwätz sind, das mit unserm wahren Wesen nur eben soviel
zu tun hat, als es dessen Teil an Torheit und Schwäche aufdeckt.
*
Mancher
sucht sein Leben lang Kameradschaft, – aber man muß mit diesem Bedürfnis im
Herzen nicht zu Frauen gehen. Sie wollen, eine jede, ausschließlich geliebt
sein, sie wollen aus aller Kraft die Episode der Liebe, aber ohne sie dabei als
Episode aufzufassen. Sie wollen ein ganzes Leben in Beschlag nehmen, aber dafür
kein Leben der Kameradschaft, sondern ein Leben der Liebe geben. Ein Leben der
Liebe aber ist ein Unding, wie ewige Musik oder ewiger Frühling. Die Liebe
verdirbt die Seele zur Kameradschaft, sie ist kalt und heiß, eifersüchtig und unberechenbar,
die Kameradschaft, die Freundschaft ist allein wahre Seelenliebe, sie ist bis
zu jedem möglichen Grade unegoistisch, sie ist der höchste Zustand zwischen
Mensch und Mensch. Die Liebe ist das Mittel zum Werden des Kindes, aber die
Freundschaft ist das Mittel zum reif und süß Werden deiner selbst.
*
Wann wird
dies sein? Wann wird das sein? – Wann wir es uns verdient haben werden.
*
Beim
Menschen ist kein Ding unmöglich im Schlimmen wie im Guten.
*
Wer nicht
auch böse sein kann – kann der wirklich tief sein?
*
Bedenke, daß
der sogenannte gemeingefährliche Mensch nur um deines Behagens willen im
Gefängnis sitzt, und daß auf deiner Seite viel dazu gehört, das Freiheitsopfer
so vieler Mitmenschen sittlich aufzuwiegen.
*
Das ist es,
was ich immer wieder gelehrt finde: die Zaghaftigkeit – wo Gutes gewollt wird –
ist zu nichts nütze. Umgekehrt, sie ist nur eine Quelle immer weiterer Schwäche
und damit immer weiterer Mißerfolge.
*
Wir haben
heute Ehrfurcht vor den Bewohnern eines Wassertropfens, aber vor dem Menschen
haben wir immer noch keine Ehrfurcht.
*
Finsternis
würde mich in kürzester Frist um alles Glück und um allen Verstand bringen.
Gebt allen Menschen vor allem Licht und vorzüglich den Unglücklichsten unter
uns, unsern Gefangenen.
1908
Wer sich
groß verfehlt, der hat auch große Quellen der Reinigung in sich.
*
Mut, Mut,
das fehlt dem sogenannten denkenden Wesen, dem Menschen – als denkendem Wesen –
am meisten. Und dann Phantasie. (Aber was wäre Phantasie ohne Mut?) Vielleicht
ist Mangel an beiden eine der grundlegenden Lebensbedingungen, vielleicht kann
der Mensch nur mit einem gewissen Quantum von Feigheit und Trägheit –
existieren.
*
Tugend –
Mangel an Gelegenheit, ein Gemeinplatz, der nur die Unseligkeit des üblichen
Tugendbegriffs verrät, als etwas durchaus Negatives.
*
Wem das
allgemeine Wohl das höchste Ziel auf Erden dünkt, der tut den Menschen gar
nichts so Gutes, wie er meint. Man soll nie das Wohl, man soll nur das Heil
jedes Menschen im Auge haben, – zwei Dinge, die sich oft wie Wasser und Feuer
unterscheiden.
*
Die
Geschichte ist eine Schlummerrolle, auf welcher gestickt steht: Ein
Viertelstündchen. Aber ganze Generationen schlafen ihr ganzes Leben auf ihr. –
Was ist dem Erwachten – Geschichte? Das, was – andre getan haben. Worauf er
denn gar nicht genug an sein eigenes Tun denken kann.
1909
Nur wer sich
selbst verbrennt, wird den Menschen ewig wandernde Flamme.
*
O helfen,
helfen können – es gibt nichts Größeres für menschliche Art!
Und nicht
helfen können, nicht helfen dürfen, es hat gewiß nicht minder bittere Tränen
erpreßt als: wo man's vermocht und sollte, nicht geholfen haben.
*
Man findet
deshalb so wenig Menschenliebe, weil dem Äußeren meist zu viel Wichtigkeit
beigelegt wird. Aber es ist damit wie mit der Kleidung. So mannigfaltig sich
der Mensch auch tragen mag, in der Hülle steckt allemal Adam und Eva, der homo
sapiens-insipiens, dasselbe allerletzten Endes unablehnbare Geschwister.
*
Was ist der
Mensch, daß er nicht alles hingeben sollte – um des Menschen willen! In dem
Maße, wie der Wille und die Fähigkeit zur Selbstkritik steigen, hebt sich auch
das Niveau der Kritik am andern.
*
Wer den
Einzelnen als einen Wanderer betrachtet, der immer wiederkehrt, wird aufhören,
ihm entgegenzuarbeiten. Er sieht sich Schulter an Schulter mit ihm gehn und
erkennt die Sinnlosigkeit jeglicher Feindschaft zwischen ihm und sich. Mag der
Andre noch sein Feind sein wollen, er selber empfindet ihn nicht mehr als
Feind; für ihn fällt er, wenn er sich und ihn sub specie aeterni anschaut, mit
ihm selber beinahe zusammen. Mag der Andre ihn noch hassen, ja verachten, er
selber wird nichts begehren, als ihm zu helfen, zu nützen, zu dienen. Er weiß,
wie alles zusammenhängt. Nicht fabelt er unbestimmt von Zusammenhang, sondern
der Zusammenhang liegt klar vor ihm.
*
Frage und
Prüfung:
Was kannst
du?
Kannst du
dich verkennen, beschimpfen, beschuldigen lassen, ohne auch nur einen Schatten
von Zorn wider den Bruder zu fühlen?
Noch mehr:
Kannst du Unrecht leiden ohne Groll? Man kerkert dich ein, man foltert dich,
man hängt dich auf – gesetzt, du fielest unter Wilde oder gerietest vor ein
russisches Gericht oder unter eine aufgeregte amerikanische Volksmenge.
Könntest du dann leiden und sterben – ohne Verwünschung?
*
Wir sollten
immer nur charakterisieren wollen, nie kritisieren.
*
Lieblose
Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den Andern, in Wirklichkeit aber den
eigenen Herrn verstümmelt.
*
Wer nicht
zuvor sich selbst vorschreibt, wird auch den Menschen nie vorschreiben dürfen.
Man kann dem Wesen der Macht nichts abmarkten.
*
Bemerke, wie
die Tiere das Gras abrupfen. So groß ihre Mäuler auch sein mögen, sie tun der
Pflanze selbst nie etwas zuleide, entwurzeln sie niemals. So handle auch der
starke Mensch gegen alles, was Natur heißt, sein eigenes Geschlecht voran. Er
verstehe die Kunst vom Leben zu nehmen, ohne ihm zu schaden.
*
Wenn der
moderne Gebildete die Tiere, deren er sich als Nahrung bedient, selbst töten
müßte, würde die Anzahl der Pflanzenesser ins Ungemessene steigen.
1910
Man hüte
sich vor Lieblingsvorstellungen, Lieblingsideen. Dergleichen lenkt einen bloß
von der großen Liebe ab, die sich allein auf die Menschheit in ihrem
Vorwärtskommen richten soll; dergleichen sind bloß Fallgruben der Eigenbrödelei,
Sackgassen der Egoität. Mag sich ins Kornfeld werfen, den Himmel angucken und
Träume spinnen, wer die Wirklichkeit noch nie geschaut hat; wem die Augen offen
wurden, der weiß, daß es für ihn nur noch einen modus vivendi gibt, den des
entschlossenen Realisten der Liebe.
*
Jede
Krankheit hat ihren besonderen Sinn, denn jede Krankheit ist eine Reinigung;
man muß nur herausbekommen, wovon. – Es gibt darüber sichere Aufschlüsse; aber
die Menschen ziehen es vor, über hunderte und tausende fremder Angelegenheiten
zu lesen und zu denken, statt über ihre eigenen. Sie wollen die tiefen
Hieroglyphen ihrer Krankheit nicht lesen lernen und interessieren sich, gleich
dem Neger, noch weit mehr für das Spielzeug des Lebens, als für seinen Ernst,
als für ihren Ernst. – Hierin liegt die wahre Unheilbarkeit ihrer Krankheiten,
im Mangel an und im Widerwillen gegen Erkenntnis, hierin, nicht in Bakterien.
*
Vor einem
halbbeschneiten Berge: So ist mancher von uns halb noch im Schnee der Kühle,
Kälte. Dann taut die Sonne den Schnee weg; aber in diese und jene Grube vermag
sie nicht vorzudringen; weiße, unvertilgbare Flecken bleiben zurück: nie werden
wir ganz frei von jedem Rest von Lieblosigkeit, nie ganz Liebe – solang
wir noch dieser Berg sind.
*
Es gibt nur
einen Fortschritt, nämlich den in der Liebe; aber er führt in die Seligkeit
Gottes selber hinein.
*
Der Welt
Schlüssel heißt Demut. Ohne ihn ist alles Klopfen, Horchen, Spähen umsonst.
*
Der Geist
baut das Luftschiff, die Liebe aber macht gen Himmel fahren.
*
Der Nenner,
auf den heut fast alles gebracht wird, ist Egoismus, noch nicht – Liebe.
*
So wie der
Strom in das Meer muß, so muß der amor in die caritas.
1911
Ganze
Weltalter voll Liebe werden notwendig sein, um den Tieren ihre Dienste und
Verdienste an uns zu vergelten.
*
A sagte zu
B, der sich mit seinem persönlichen Schicksal herumschlug und des Jammers kein
Ende fand: Wie erbarmungslos bist du!
Wie
erbarmungslos? gab B befremdet zurück und fügte, da er A nicht durchdrang, nach
einer Weile hinzu: Wenn nur du nicht erbarmungslos bist! (indem er meinte,
dieser habe für sein Unglück kein Verständnis). Und wenn ich es gegen
dich wäre, erwiderte A, so wäre ich es gegen einen Einzigen. Du aber bist es
gegen Millionen. Denn du siehst nur dein eignes Leid, nicht auch das ihre. Du
wärst aus ganzer Seele zufrieden, wenn nur du allein getröstet würdest, wenn
nur dir allein unter allen Millionen geholfen würde. Prüfe dich selbst, ob ein
solcher Sinn nicht noch strengster Zucht bedarf und ob es weit gefehlt ist, ihn
selbstsüchtig, hart und erbarmungslos zu nennen.
*
Man muß von
aller Verliebtheit in Maja frei werden, dann erst kann die große Liebe
entstehen.
*
Der Haß hat
uns in eine solche Grobheit des Urteils und der Beurteilung hineingesteigert,
daß wir nichts mehr rein zu sehen vermögen. Wir vergessen, daß es keine
Ablehnung gibt, die nicht, sei es ein Korn, sei es einen Klumpen Unrecht
enthielte. Versuchen wir uns doch einmal entschieden auf die Seite des
Positiven zu stellen, in jeder Sache.
*
Viele
Menschen fühlen sich in ihrer Ruhe und Sicherheit gestört und fordern laut nach
strengen strafrechtlichen Maßnahmen gegen den Verbrecher.
Das ist
verständlich, aber es zeigt auch, woran es noch viel mehr als an
gesetzgeberischen Bestimmungen fehlt: An dem Bewußtsein, an der Ahnung
wenigstens, was man selbst und was der sogenannte Verbrecher ist. Der
Verbrecher und ich sind nichts wesentlich Getrenntes, wir stehen im engsten
menschlichen Zusammenhang; er kann uns nichts tun, was er nicht auch sich
selber täte, und wir können ihm nichts tun, was wir nicht auch uns selber
täten. Er ist nicht anders von uns verschieden, als unser Arm, unser Bein,
unser Auge. Nun heißt es zwar: So dich deine Hand ärgert, so haue sie ab. Aber
wenn ich die Hand abhaue, so füge ich mir damit einen Schmerz zu, den ich mein
Leben lang nicht vergessen werde, und sollte ich ihn doch vergessen, so bleibt
immer noch ihr Fehlen etwas, was sich nicht vergessen läßt.
Anders, wenn
sich eine Gesellschaft einen Verbrecher vom Leibe schafft. Dann schafft sie
sich ihn eben vom Leibe und damit punktum. Es fehlt der entsprechende Schmerz
auf ihrer Seite, der Stachel, den sie nicht wieder los wird.
*
Die
Bestimmung des Menschen ist nicht nur, daß er als ruhiger Bürger seinem
Tagewerk nachgehe, sie ist noch etwas darüber: daß er sich mehr und mehr
verinnerliche, sich, und soviel an ihm liegt, seine Umwelt mehr und mehr
verchristliche.
Alle, die
beispielsweise für die Todesstrafe stimmen, wollen nicht die Gewissensnot, in
die sie die Schreckenstat eines Bruders bringen und die dann Frucht über Frucht
aus ihm zeitigen müßte, sondern sie wollen ihre Ruhe, ihre Behaglichkeit, ihr
ungestörtes Weiterwirtschaftenkönnen im einmal Überkommenen. Wie gesagt, es
kann ihnen nicht verdacht werden, wenn sie einer gewissen Sicherheit genießen
wollen, aber sie müßten dafür, daß sie mit der einen Hand nehmen, nämlich
Freiheit oder gar Leben vom Mitmenschen, mit der andern Hand geben: nämlich
doppelte, dreifache Liebe.
Sie müßten
nicht nur den andern sich, sondern sich zugleich dem andern opfern, sich, das
heißt ihren Eigennutz, ihren Hochmut, ihre Gleichgültigkeit, ihre Trägheit.
Aber dem wird ausgewichen und darum ist in unseren Strafen so viel – Rache; was
man auch von Erziehungs- und Abschreckungstheorien redet. Erziehen soll man
zuerst sich selbst und dann erst den, der mitten im Schoße von uns Tugendhaften
als Lasterhafter emporblühen konnte. Wahrlich, es kann mit der allgemeinen
Tugend nicht soweit her sein, wenn der Räuber und Mörder so üppig gedeiht,
wahrlich, es ist nicht gut, wenn solch ein Unkrautboden wie unsere Gesellschaft
auch noch nach Schutz und besonderer Fürsorge verlangt. Sie möge erst die
sieben Todsünden in sich bekämpfen und im Verbrechertum zunächst vor allem das
vergrößerte Spiegelbild ihrer selbst sehen, den immerwährenden Vorwurf ihrer
selbst. Sie möge im Verbrechertum zunächst erst einmal ihr – Schuld-Konto
erblicken. Wenn sie aber meint, daß, sagen wir, der Bauer Adam in Vaduz
unmöglich Schuld haben könne, wenn in den Südstaaten ein Neger sich an einer
Weißen vergreift, so ist zu erwidern, daß weder der Bauer noch der Neger für
sich nur als Bauer und Neger verbindlich sind, daß sie vielmehr vom Anfang bis
zur Vollendung unserer Welt als schöpferische Faktoren rechnen, die nach der
einen Seite unendliches Schulden-Karma abzutragen, nach der andern Seite die
Geisterreiche der Zukunft mit aufzurichten haben, wozu sie nicht nur als Bauer
und Neger, sondern in hinreichenden menschlichen Manifestationen ab aeterno in
aeternum wiederkehren.
1912
Daß Güte
(z.B.) nicht Schwäche sein könne, behauptet niemand, daß sie es sei,
nur ein Tor.
*
Wer ›für
Güte Dank‹ erwartet, macht sich schon allein dadurch, daß er sich selbst als
›gütig‹ empfindet, der feinsten Berechtigung Dank zu ernten verlustig, indem er
sich im Gefühl und Bewußtsein seiner Güte als ein besonderer Wohltäter andrer
vorkommt, sich also über sie erhebt und überhebt. Eine solche Erwartung, so natürlich
und allgemein sie sein mag, verdient nicht nur keinen Dank, sondern gerade das,
womit ihr gewöhnlich vergolten wird: eine gewisse Gleichgültigkeit, ja beinahe
einen gewissen (zurückschlagenden) Hochmut. Wer Gutes tun und dabei nicht in
die Brüche geraten will, muß es soweit bringen, daß er sich nie anders denn als
einen Diener des andern empfindet, dem eine glücklichere Fügung gestattet –
Schuld abzutragen. Er muß, fern davon, von dem andern Dank zu erwarten,
vielmehr das Gefühl der Dankbarkeit gegen diesen andern entwickeln, weil er ihm
Gelegenheit gibt, ihm zu helfen, gleichviel, wie solche Hilfe nachträglich
›gelohnt‹ wird. Dies mag für uns freilich mehr oder minder immer ein Ideal
bleiben; die erste Stufe ist jedenfalls, dem Satze von der Dank verdienenden
Güte in uns und außer uns zu Leibe zu gehen.
*
Wer wollte
den Gutartigen, den Begabten, den Wunderlichen nicht lieben. Aber den
Böswilligen, den Ungeistigen, den Langweiligen zu lieben gilt es. Nicht so sehr
ein jovialer Wirt sein allen, die ihre Zeche mehr oder minder bezahlen, als der
barmherzige Samariter derer, die nichts haben als ihr schmerzliches Schicksal.
*
Kann man
einen Menschen deshalb aus der Atmosphäre des tiefen, ungeheuren Geheimnisses,
das uns alle umfängt, das wir alle sind, und vor dem es keine andere
Grundstimmung als die unbegrenzter Ehrfurcht gibt, herauslösen, herausgelöst
empfinden, weil er ein ›Mörder‹ geworden ist?
*
Der
Selbstlose, der aus ganzer Seele den Menschen dienen will, übersieht zu leicht,
daß sein Selbst in ein niedrigeres und in ein höheres Selbst zerfällt, und daß
er daher nicht nur selbstlos im einen Sinne, sondern in eben dem Maße
selbstvoll im andern Sinne werden sollte. Sein Selbst verlieren, heißt sich
läutern, seine Seele bereiten, wie einen Acker, welcher der Saat wartet. Sein
Selbst gewinnen aber heißt, Frucht tragen wollen, Saat herbeisehnen, aufnehmen,
hegen, reifen.
*
Geistige
Leidenschaft, Leidenschaft fürs Geistige, – prüfen wir uns einmal, wieweit sie
gemeinhin reicht. Nach allem Möglichen wird unter Umständen mit vier Pferden
gejagt, aber wenn einer Morgen um Morgen dein Leben lang an deiner Türe
vorbeigeht mit Lebensbrot, so kann er ein Leben lang ungerufen davor
vorbeigehen; denn seine Bettwärme wie sein appetitliches Frühstück oder seine
Zeitung oder gar seine ›Pflicht‹ läßt keiner so leicht im Stich um Lebensbrotes
willen.
*
Wir leben
heute noch recht wie Kinder, noch nicht wie erwachsene bewußte Menschen. Wir
essen und trinken ruhig, während Mitmenschen neben uns verhungern und
verdursten, wir gehen fröhlich in Freiheit herum, während Mitmenschen neben uns
in Kerkern verderben. Wir können uns in jeder Weise freuen, während um uns in
jeder Weise gelitten wird, und wenn wir selbst leiden, so haben wir die
Unbefangenheit, mit dem Schicksal darum zu hadern. O, daß unser Herz und Geist
mit den Zeiten verwandelt würde und diese bittere Häßlichkeit von uns abfiele
und wir aus Kindern Erwachsene würden.
1913
Was ist denn
alle Mutter- und Vaterschaft anders als ein – Helfen! Als wunderreichste,
geheimnisvollste Hilfe!
*
Alles
ernsthaft Angefangene muß die Menschheit auch entschlossen weiter treiben und
weiter entwickeln. Täte sie's nicht, so wäre sie ebenso unreif und leichtfertig
wie die Individualität, die anfängt und liegen läßt, statt, wenn auch
vielleicht erst in vielen Lebensläufen, allem in sich eine Folge und Ausbildung
zu geben. Einziglich schon von diesem Gesichtspunkt aus sollte man die Mystik z.B.
nicht so verdrossen ablehnen, als ob es ein Verdienst wäre, ein so wundertief
begonnenes Geisteswerk in die Rumpelkammer zu verweisen und nicht vielmehr sich
dessen Weiterausbau anzunehmen, zum mindesten dankbar gewärtig zu sein.
In Christian Morgenstern: Stufen. Eine Entwicklung in Aphorismen und Tagebuch-Notizen. Sortiert von Margareta Morgenstern, 1917.