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Ernest Wichner: Heute Mai und morgen du

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Monika Vasik

Ernest Wichner: Heute Mai und morgen du. Ausgewählte Gedichte Mit einem Nachwort von Maren Jäger. Frankfurt a.M. (Schöffling & Co.) 2022. 288 Seiten. 26,00 Euro.

„Sieh wie sich’s fugt und wankelt“


Manchmal erfährt man spät von interessanten Lyrikveröffentlichungen, die man schon längst hätte bemerken können, von anderen, möglicherweise den meisten, erfährt man vielleicht nie, weil die Lyrikangebote in vielen Buchhandlungen ausgedünnt, die Feuilletons in den Printmedien und im öffentlichen Rundfunk, die Lyrik vermittelten, abgespeckt wurden und dem Vernehmen nach weiter zusammengestrichen werden sollen. Man orientiert sich lieber am Markt, was auch immer das sein mag, und es gibt weniger Präsenz für nicht Marktkompatibles wie Gedichtbände, eine Entwicklung, die durch das Trommeln in sogenannten „sozialen Medien“ nur bedingt ausgeglichen werden kann – soweit so bekannt. Deshalb bin ich froh über die Existenz des Signaturen-Magazins, mag sie auch noch so prekär sein, und über die Umtriebigkeit sowie die (gelegentlich arg strapazierte) Langmut von Kristian Kühn, der dem Wichtigen, dem Notwendigen, aber kaum Beachteten, dem in Nischen Blühenden durch Erwähnung, Abbildung oder Rezension und Diskussion eine Öffentlichkeit schenkt und damit die Welt der Literatur und damit auch meine bereichert.

Der Lyrikband Heute Mai und morgen du erschien bereits 2022 im Jahr von Ernest Wichners 70. Geburtstag und stand seit geraumer Zeit auf Kühns Rezensionsliste, die voll interessanter Veröffentlichungen ist, aber aus Gründen mit jeder Saison länger statt kürzer wird. Wichner war mir als emsiger Literaturvermittler bekannt, der zahlreiche Werke etwa von Nora Iuga, Norman Manea, Mircea Cărtărescu und Dana Ranga aus dem Rumänischen übersetzte, dem „fremden Eigensinn“ nachspürt und uns in deutscher Sprache les- und begreifbar macht. Für diese „einzigartigen Verdienste um die rumänische Literatur“ wurde der „virtuose Übersetzer und Sprachkünstler“ 2020 von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mit dem Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung geehrt, einem Preis, der seit 1958 „für hervorragende Leistungen auf dem Gebiet der Übersetzung“ verliehen wird. Ernest Wichners Interesse für Rumänien und die rumänische Literatur gründet in seiner Herkunft. 1952 wurde er in Guttenbrunn (Banat/Rumänien) geboren, wuchs zweisprachig auf und war 1972 Gründungsmitglied der sogenannten Aktionsgruppe Banat, einer literarischen Gruppe, die 1975 vom Staat aufgelöst wurde. Im selben Jahr übersiedelte er nach Deutschland, wo er seither lebt. Dieser Weggang aus dem Geburtsland wird im aktuellen Band schon im ersten Gedicht Levkojen angesprochen, wenn es heißt: „wir zogen westwärts“.
Neben seiner Tätigkeit als Übersetzer arbeitete Ernest Wichert als Herausgeber, u.a. von Anthologien, der Werk-ausgabe von Oskar Pastior oder von Gedichtbänden Rolf Bosserts und Richard Wagners, war Kritiker, Juror und ab 1988 am Literaturhaus Berlin tätig, das er von 2003 bis 2017 leitete. Wenig allerdings wusste ich vom Schriftsteller Ernest Wichner, sieht man von einzelnen Gedichten ab, die da und dort zu entdecken waren. Dass er neben seinen vielen Tätigkeiten überhaupt noch Zeit für eigene Texte fand, ist erstaunlich. Wie er damit umging, dass auch sein Tag nur 24 Stunden hat, beantwortete er 2018 in einem Gespräch¹ so:

„Dann muss ich mir einfach am Tag drei Stunden fixieren, ... an denen nichts stattfindet außer unter Umständen selber schreiben. Und wenn das nicht funktioniert, dann sitzt man mit dem Bleistift in der Hand vor dem Blatt Papier und schaut zum Fenster raus.“
Dass solch ein Vorhaben inmitten zahlreicher anderer Aufgaben keineswegs einfach ist, es daher wohl öfter mal „nicht funktioniert“ hat, auf Knopfdruck zu dichten, lässt sich an den großen Abständen der Lyrikpublikationen ablesen, die Wichner in einem Zeitraum von 34 Jahren vorlegte. So debütierte er 1988 mit dem Band Steinsuppe, ließ 15 Jahre später Rückseite der Gesten folgen, während er 2010 mit bin ganz wie aufgesperrt und Neuschnee und Ovomaltine gleich zwei Gedichtbände vorlegte. Weitere 12 Jahre vergingen, ehe nun der bislang letzte Gedichtband erschienen ist. „Heute Mai und morgen du“ ist gegliedert in neun Kapitel, enthält eine Auswahl aus Wichners bisherigen vier Lyrikbänden und Gedichte, die während der Entstehungszeit dieser Bücher verfasst, aber nicht in diese aufgenommen wurden, sowie zahlreiche neue Texte, die nach 2010 entstanden. Ergänzt wird der Band durch ein kenntnisreiches Nachwort der Literaturwissenschaftlerin Maren Jäger.

Als Beleg dafür, wann und wie Wichners Dichten in Zeitlücken gelegentlich dann doch „funktioniert“ hat, können die Gedichte des letzten Kapitels mit dem Titel Further und die Ärmelschoner gelten. Diese seien „zu Literaturhauszeiten immer zwischen 18.00 und 19.00 Uhr & vor Veranstaltungen niedergeschriebene Zeilen“, wie den Anmerkungen im Buch zu entnehmen ist. Die meisten davon sind kurz und benennen im Titel eine thematische Beschäftigung, etwa FURTHER UND DIE GESCHICHTSPHILOPHIE und FURTHER UND DIE UTOPIE, oder eine Tätigkeit, zum Beispiel FURTHER LIEST GOTTFRIED BENN und FURTHER BLÄTTERT IM KATALOG. Dem folgenden, leicht hingetupft wirkenden und die Vergänglichkeit in den Blick nehmenden Gedicht ist auch der Titel dieses Bands entnommen:

„FURTHER SINGT
er kehre wieder
lässt sich nieder
wo der Flieder

seine Winzlings-
blüten über Gräber
streut heut ist Mai
und morgen du“

Bei einem Sammelband, der Gedichte aus einer Schaffensperiode von rund vier Jahrzehnten umfasst, ist es verlockend, eventuelle Gemeinsamkeiten und Motivstränge zu suchen. Auffallend ist die Bedeutung des Visuellen. Ich würde sogar von einer Schule des Sehens sprechen. Viele dieser Texte sind bildhaft, manchmal wie die Momentaufnahme eines Fotografen oder wie von einem Maler gemalt, manchmal filmähnlich Geschichten erzählend oder einen Traum. Der Dichter arbeitet „offnen Auges“, richtet seinen genauen Blick auf (Wort)Landschaften, Szenerien und „Innenbilder“, dann wieder auf ein menschliches Gegenüber, das „du“ einer Frau in den Liebesgedichten des Bands Rückseite der Gesten oder literarischer Wegbegleiter, naher Freunde und Bekannter. Manche Motive tauchen wiederholt in unterschiedlichen Kontexten auf, beispielsweise die Nomina Licht, Gras, Nebel, Dunst und Staub. Und es sind bunte Bilder, manchmal auch Schattenrisse und Nachbilder, die Wichner mit seinen Worten zeichnet. So setzt er gern die Adjektive rot, grün, gelb und braun ein, auch lila und blau, seltener schwarz, grau oder neblig. Manchmal sprechen die Farben durch ihre Nuancen und Schattierungen, wenn etwas zum Beispiel stahlblechblau oder silbermondhell, weizenweiß oder lehmgelb imponiert, eine Farbgebung synästhetisch eingesetzt wird („Einer fremden Zunge sanftes Blau“), manchmal surreale Aufladung erfährt („Der Zug war pünktlicher als rot“). Am häufigsten jedoch taucht die unbunte Farbe „weiß“ auf. Es wäre spannend, gäbe es eine literaturwissenschaftliche Arbeit, die sich mit der Farbpalette sowie Farbspektren und deren Bedeutungen in Wichners Gedichten beschäftigt.

Eine weitere Konstante in Wichners Dichten ist die Auseinandersetzung mit anderen Literaturschaffenden und ihren Texten. Einerseits sind zahlreiche Gedichte jenen rumänischen Künstlern gewidmet, die ihn und sein Dichten geprägt haben, wie Rolf Bossert, der Surrealist Gellu Naum und der Lautpoet Oskar Pastior, aber auch Schriftsteller:innen aus Deutschland, Österreich und Tschechien wie Elke Erb, Ernst Jandl, Tomas Venclova, Gerald Bisinger und Hans Thill. Andererseits setzt er sich dichtend mit Leben und Werk geschätzter Kolleg:innen auseinander. Er tut dies zuweilen als Magier, etwa wenn er im Gedicht TRAKL IM EXIL den Dichter Georg Trakl nicht 1914 im Ersten Weltkrieg sterben lässt, sondern ihm einen anderen Lebenslauf erfindet und ihn im kalifornischen Exil alt werden lässt. Häufiger jedoch setzt er sich mit den ihm gut bekannten Werken auseinander. Im Gedicht „TZARA“ heißt es „da geht einer seine Sprache / ab“ – es bleibt unklar, ob er damit den rumänischen Dadaisten Tristan Tzara oder den ebenfalls in Rumänien geborenen deutschen Schriftsteller Dieter Schlesak meint, dem das Gedicht gewidmet ist. In Umwandlung des genannten Verses könnte man sagen: Da geht einer die Sprachen seiner Kolleg:innen ab, ahmt lustvoll spielend die Dichtkunst von Konrad Bayer, Norbert Hummel oder Lioba Happel nach, unternimmt Ausflüge ins Surreale oder anverwandelt sich Verse und Sätze, die er in die eigenen Texte einwebt, variiert und dabei Spuren manchmal fast bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Das Lesen gleicht gelegentlich einer Rätselrallye, wenn etwa ein Himmel statt voller Geigen nun voller Sägen ist, wenn ein Rilkezitat anzuklingen scheint oder eine Sentenz aus der Philosophie, und man sich auf Spurensuche begibt.

Man kann sich Ernest Wichner zudem als lustvoll spielenden Sprachwerker vorstellen, der unterschiedliche Stile und Formen beherrscht, ein feines Gefühl für Rhythmus und Witz hat, sich an Paraphrasen, Palindromen und Alliterationen freut und gelegentlich mundartliche Ausdrücke einstreut wie „Na pfiat die Gott!“ Vor allem aber befeuert er seine Dichtkunst mit der Kreation zahlreicher Neologismen und „Wortaufbruchsstimmungen“, die die Phantasie anregen und beim Lesen innehalten lassen, zum Beispiel „Lieschenstrohsack“, Engels-zungenpflaster“ oder „Styropäer“. Erschauert man vor „Wolkenwut“ und „Subjektal-gewittern? Und wie wird man, wenn man „lakritzstreng“, „utopiahart“, gewissensbissig“ oder „schill vergnügt“ ist?

Und so ist Heute Mai und morgen du eine tiefgründige und vergnügliche Zusammenschau, die um die Verletzlichkeit des Lebens und von Beziehungen weiß. Mono- und dialogisch werden hier Welt und Alltag, Ratio und Emotion, Ernst und leiser Witz zusammengefügt in einem Kompendium, das viel mehr als bloß einen Einblick in das poetische Lebenswerk Ernest Wichners bietet und beeindruckt.


¹ https://www.deutschlandfunkkultur.de/uebersetzer-ernest-wichner-die-kraft-der-rumaenischen-100.html


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