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Eri Krippner: Tage in Nizza (Auszug)

Gedichte > Zeitzünder

Eri Krippner
Tage in Nizza
Textauszug und Illustration

Heute sind die Tauben sehr früh gekommen. Mutters Leintuch war herabgerutscht. Schlafend lag sie in ihrem dünnen Nachthemd da.
    Ich hatte die Idee, Krümel, die ich den Tauben füttern wollte, über meine Mutter zu streuen. Einige Tauben saßen auf dem Fensterbrett und sahen neugierig auf meine Hand. Ich lockte sie mit dem Brot. Und als hätten sie sich untereinander Zeichen gegeben, waren plötzlich viele Tauben da, flogen ins Zimmer und trippelten pickend über den kaum bedeckten Körper meiner Mutter. Es war ein Spaß!  -
    Aber Mutter erwachte mit entsetzten kleinen Schreien. Sie sagte während des ganzen Tages kein Wort.
    Sie liegt im Bett neben mir und ich höre ihr unterdrücktes Schluchzen. Langsam steht sie auf. Sie schiebt den Vorhang zur Seite und schaut in den tiefgelegenen Hof. Die nächtlichen Fassaden mit den bizarren Aufbauten der Kamine und Antennen erscheinen gespenstisch. Mutter lehnt sich mit dem Rücken gegen das Geländer, sie legt den Kopf in den Nacken und blickt zu den Sternen. Ich habe Angst. Immer weiter biegt sie den Oberkörper zurück. Langsam. Sie löst ihre Hände vom Geländer. Ich sehe das helle Hemd, sehe den gebauschten Vorhang.
    Ich höre meine eigene Stimme entsetzt rufen: Neiin!

(aus Eri Krippner: Vergangene Sommer. Gelsenkirchen (ARACHNE Verlag) 2017. 90 S. 12.80 Euro.)


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