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Ellen Hinsey: Share in the Spirit of Poetry

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Share in the Spirit of Poetry


Ein Abend mit der amerikanischen Dichterin Ellen Hinsey

von Katharina Kohm



Die Frage nach dem eigenen Handeln, nach Haltung wird von der amerikanischen Dichterin Ellen Hinsey vor dem Horizont praktischer Philosophie immer wieder neu gestellt, sogar provoziert, sodass am 20. März die Veranstaltung im Lyrik Kabinett sich konsequent auf die aktuelle politische Lage bezog. Hinsey stellte sich als eine poetische Stimme dar, die Verantwortung übernimmt und sich nicht allein ins Poetische zurückzieht.

Die Gedichte legen in ihrem aktuellem Band Des Menschen Element, in der Reihe des DAAD Spurensicherung (#29) bei Matthes und Seitz erschienen, Zeugenschaft ab, schließen aktuelle politische Prozesse ebenso ein wie eine inhärente Erinnerungskultur. Der Band, übersetzt von Uta Gosmann, umfasst drei Teilzyklen, die sich jeweils inhaltlich wie auch poetologisch existenziellen Fragen widmen:

- Der Frage nach dem Wesen des Menschen (The Human Element / Des Menschen Element),
- dem Problem latenter wie offener Diskriminierung, also der Frage nach Unterscheidung und Abgrenzung zwischen Ich und Welt (Testimony / Zeugnis)
- und dem Bewahren und Zeugnisablegen selbst (Midnight Dialogue / Mitternachtsdialog).



An allem klebt Blut.
    Dieser Satz birgt bereits in seiner Knappheit die ganze Notwendigkeit, Dringlichkeit und existentielle Bedeutung von Sprache und Dichtung.

Dabei verharrt die Lyrik Hinseys aber gerade nicht, wie man denken mag, im Metaphysischen, sondern wendet sich der politischen Realität zu, diese zum Teil vorwegspürend, wie etwa den politischen Rechtsruck in einigen Staaten Osteuropas und die Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten.

So finden Ellen Hinseys Poeme und Aphorismen auch im politischen Diskurs Eingang, zum Beispiel druckte Der Tagesspiegel am 31.1.2017 ihr Gedicht The Illegal Age, gleich nach der Vereidigung Donald Trumps.

Dieses Gedicht nennt weder Namen noch Daten, dennoch lässt es den aktuellen Bezug einer Zeitenwende deutlich erkennen, das Kippen des Weltgeschehens in eine Schieflage, die dem konfrontierten Individuum eine Haltung abverlangt. Gleichzeitig legt es auch ein persönliches Zeugnis ab, sodass man jenseits der Nachrichtentexte und des Sprachduktus der Medien „hellhörig“ werden kann und zumindest in der Ästhetik poetischer Sprache die eigene gewohnte Distanz zu den Ereignissen zu verlieren im Stande ist.

So wurde während der zweisprachigen Lesung das Publikum Zeuge, und in dieser Zeugenschaft auch angerufen und eingeladen, es beklommen zu begreifen, als es hieß:


»You too have felt it: the imperceptible shift in latitude.
[...]
Later, you will recall how each letter tightened in the throat; the tongue stammering into  silence.
Don’t think your compliance is not being observed.
[...]
Still, let us not pass each other this final time, without recognition, without looking each  other in the eye.
Remember: in the ink-light of testimony, a record may still be kept.«

The Illegal Age


In der deutschen Übersetzung wurde der prägnante Titel ein wenig umständlich mit Das Zeitalter der Rechtswidrigkeit übersetzt:

»Auch du hast sie gespürt: die unmerkliche Verschiebung des Breitengrads.
 [...]
 Später entsinnst du dich, wie jeder Buchstabe sich in deinem Hals zusammenzog, die Zunge sich ins Schweigen stammelte.
 Glaub nicht, deine Fügsamkeit werde nicht beobachtet.
 [...]
Lass uns dennoch dieses letzte Mal nicht aneinander vorbeigehen, ohne uns zu erkennen, ohne uns in die Augen zu schauen.
Erinnere dich: Im Tintenlicht der Zeugenschaft könnte es eine Niederschrift geben.«

   Das Zeitalter der Rechtswidrigkeit


Ellen Hinsey leitete dieses erste Gedicht des Abends mit den Worten ein, es beschreibe den Prozess, in den wir gerade hineingeraten. So positioniert ihre Lyrik klar und bestimmt inmitten des aktuellen Weltgeschehens sich selbst und diejenigen, die damit konfrontiert werden. Zeugenschaft bedeutet auch Mitwisserschaft und so provozieren diese Texte im Leser bzw. Hörer eine eigene Haltung dazu.

Diese herausgeforderte Haltung, deren Technik auch stark von Hannah Arendt beeinflusst ist, lässt Hinsey im Sinne einer vita activa immer wieder an Schauplätze reisen und Fragen stellen, Gespräche führen: zum Beispiel verfolgte sie, ähnlich Hannah Arendts Anwesenheit beim Eichmann-Prozess, selber das Verfahren gegen Slobodan Milošević vor dem UN-Kriegs-verbrechertribunal in Den Haag (2002-2006), um eine Antwort auf die grundlegende Frage zu finden, warum Nachbarn sich plötzlich gegenseitig töten. Die Auseinandersetzung mit dieser existenziellen Frage trug zur Entstehung des Bandes entschieden bei.

In Testimony (Zeugnis) entlarvt Hinsey prägnant die Widersprüchlichkeit - und die mörderische Logik dieses Konflikts zum Beispiel in dem dialogischen Text Correspondences. Transcript. Die bedrückende, auch ins Philosophische gerückte Frage, weshalb der Mensch dem Menschen Grausamkeiten zufügt, wird hier offenbar, wenn es beispielsweise in der zweiten Frage heißt:

»How did you know the enemy?
     By the similarity of birth, marriage, all the rites of passage.«

»Woran haben Sie die Feinde erkannt?
    An der Verwandtschaft der Geburt, der Heirat, all den Riten des Erwachsenwerdens.«


Des Menschen Element, S.60f.


Widersprüchlichkeit und Wahnsinn werden in diesen Dialogen erfahrbar, rücken nah an den Leser heran. Und so wurde im Laufe des Abends immer wieder die Teilnahme, der eigene Anteil am Weltgeschehen betont. Der Mensch als handelndes und eine Haltung einnehmendes Individuum, das am Weltgeschehen teilhat und nicht nur unbeteiligter Zuschauer ist, ein Appell an die Mündigkeit des Bürgers und der Bürgerin, kann als ermutigender, aber auch fordernder Appell zur Demokratie beschrieben werden.

Dem aktuellen Konflikt zwischen Worten und Wahrheit und der Debatte über fake news setzt Hinsey „alte“ bekannte Wörter entgegen, die man möglicherweise als banal bezeichnen würde. Wie mit Demokratie, die bis vor kurzem als simples Wort für selbstverständlich genommen wurde, lenkt sie die Aufmerksamkeit des Lesers bzw. Hörers auf die eigentliche Bedeutung der Wörter, die sie wiederbeleben will, für die man keine neuen zu finden brauche.

Da sich dieselben grausamen Taten immer von neuem wiederholen - was man heute Shitstorm nennt und in virtuellen Foren geschieht, war früher der Marktplatz mit seinen analogen Schandpfählen -, sei im Gegenteil das Erhalten und Wiederbeleben der dafür überkommenen Wörter sogar notwendig. Denn Wiederholungen der Geschichte blieben gerade dann verwischt, wenn man den Geschehnissen immer wieder neue Namen gäbe. Dass gewisse Phänomene Tradition haben, werde vielleicht gerade durch das Weiternutzen der Wörter entlarvt und als kollektives Narrativ deutlich gemacht.

In ihren Gesprächen mit dem litauischen Dichter Tomas Venclova, die bei Suhrkamp unter dem Titel Der magnetische Norden jüngst erschienen sind, setzt sich Hinsey mit der Frage der Diktatur und des Widerstands auseinander. Im letzten Teil ihrer Lesung im Lyrik Kabinett führte sie dadurch die Dichtung selbst als Erinnerungsvehikel und somit als Hoffnung und Widerstand gegen Barbarei und Formen des Exils ins Feld, die den Dichter bzw. die Dichterin begleiten.
    Hinsey trug schließlich noch bisher unveröffentlichte Gedichte aus ihrem noch im Entstehen befindlichen Zyklus The Illegal Age vor:

"Entsinne dich: jede aus der Flut der Tyrannei gerettete Erinnerung ist ein labiles Floß, doch ankert es im Wunder".  


Dabei richtete sie das Wort wiederholt an das Publikum ganz bewusst und klar mit der Botschaft: Share in the Spirit of Poetry.  

Da dieser Tage die Formulierung und die Sprachverwendung auch außerhalb der Poesie in den Fokus rückt, erscheint die Möglichkeit, neue Zugänge, emphatische Schneisen in die scheinbar unbeteiligte Mehrheit der Bevölkerung zu schlagen, wie, um mit Kafka zu sprechen, eine Axt, die das gefrorene Meer in uns zerschlägt, immer notwendiger. Öffentliche Debatten ließen sich durch politische Lyrik vertiefen, um die Chance einer lebendigen Demokratie zu erhöhen. Dass es dazu eine dichterische Sprache braucht, die die humane Sprache ist, scheint, polemisch gesagt, beinahe bestechend logisch.


Ellen Hinsey: Des Menschen Element. Aus dem Englischen von Uta Gosmann. Reihe DAAD Spurensicherung. Matthes & Seitz, Berlin 2017. 200 S. 22,00 Euro.


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