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Elke Erb: Lesen: angeregt

Memo/Essay > Aus dem Notizbuch > Essay

Foto: Brigitte Friedrich

Elke Erb

Im Januar 1991 besuchte ich Friederike Mayröcker, denn der Reclam-Verlag Leipzig* wünschte sich von mir für ein Reclam-Bändchen eine Auswahl aus ihren Werken. Sie gab mir alle Bücher, die sie von sich vorrätig hatte. Ich habe in zahlreichen Texten auf diese Lesebegegnung reagiert, nachzulesen vor allem in "Unschuld, du Licht meiner Augen" (Steidl, Göttingen 1994). Der unten folgende Text steht nicht darin, sondern in einer Nachlese in meinem Buch "Mensch sein, nicht" (Urs Engeler Editor, Weil am Rhein und Wien, 1998). Zurück-gehalten hatte ich ihn wohl, weil, wie die Zeilen unten erkennen lassen, es mir plötzlich indiskret vorkam, jemandem so nachzuspüren ... Der Text findet aber dann mit den letzten vier Zeilen über das Bedenkliche hinweg ins Freie.



Lesen: angeregt  

Die Bewegungen, die sie erregt, können ganz fremder Art  sein,
nicht ihrs, obwohl sie die Erregerin ist.   

Selbst das tote Instrument gibt den Wirkungen auf es  

sein Gesicht.   

Ich lese: Sie ist  
sie – vorher, sie – während, sie – nachher,  
mit mir.   

Wie sie – erfahrbar mir nur mit mir "an ihrer Stelle" –  
erregt wird, sie – reagiert, sie – sich verwandelt.   

Mein zum Lesen hingeliehenes Ich projiziert die Wahrnehmung
während des Lesens (und in seiner Nachwirkung und folgend
auch Vorwirkung) auf mich:   

Gedrehtes Plateau,  
umherirrend gedrehtes Plateau,  
verirrt / beirrt gedrehtes Plateau,  
suchend gedrehtes Plateau.    

Ein mir unbekanntes –  
oder bekanntes, aber im Unbekannten neues –  
oder gewisses – ungewisses – oder wiedererkennbares ...  
Ich taucht auf, vom Projektor geholt.   

(Es kann auch unsichtbar bleiben.  
Setze und neben alle oder und halte beide virtuell!)

Warum ist es unangenehm, wenn einem jemand nachrückt?
Oh, warum? – Und peinlich.   

Weil, wo sie – hinging, herkommt, zu finden wäre –  
nur ein Feenfuß tritt?   

Weil sie nicht wiederholbar ist?  
Weil der Projektor niemanden antrifft?   

28.8.91  


*
Friederike Mayröcker: Veritas – Lyrik und Prosa 1950 – 1992. Leipzig (Reclam) 1993  

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