Elke Barker mit Martina Weber über "Und man hört sie doch"
Dialoge
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Elke Barker
Foto: Tobias Schwerdt
Martina Weber
Foto: Ansgar Heide
„Literatur
entdecken, die berührt“
Im
Januar 2025 erschien die von Martina Weber herausgegebene Anthologie „Und man
hört sie doch. 20 Jahre Literaturwerkstatt in Darmstadt“ bei hochroth
Heidelberg. Elke Barker sprach mit der Frankfurter Lyrikerin über die
Anthologie und die Arbeit in ihrem Seminar.
Deine
Literaturwerkstatt existiert seit 2005. Warum wurde die Anthologie gerade jetzt
veröffentlicht?
Ich hatte mir seit langem gewünscht, eine Anthologie
herauszugeben. In diesem Jahr war der Publikationszeitpunkt perfekt:
20-jähriges Bestehen, mehr als 250 Seminare, mehr als 100 Autorinnen und
Autoren. Das sind schon ein paar runde Zahlen. Entscheidend ist jedoch etwas
anders: Die Qualität der Texte hat ein Niveau, das ich der Öffentlichkeit
präsentieren wollte. Außerdem treffen wir uns seit 2023 in einem anderen Raum
und haben einen neuen Namen; damit war auch ein Neustart verbunden. Die
Anthologie an sich ist also ein Statement. Spürbar wurde das auch auf unserer
Premierenlesung Ende April in Darmstadt, zu der fast alle Autorinnen und
Autoren (teilweise von sehr weit her) angereist sind und ihre Texte vor großem
Publikum vorgetragen haben.
Unter
Schreibenden ist es ein offenes Geheimnis: Entweder der Titel eines Werks
stellt sich sofort ein, oder die Suche nach ihm ist ein langer Prozess. Wie war
das beim Titel der Anthologie „Und man hört sie doch“, und worauf spielt er an?
Den Titel hatte ich ziemlich schnell. Er ist ein Zitat aus der
Kurzgeschichte „Wälder in Brooklyn“ von Armin Steigenberger. Der Protagonist
verbringt den ganzen Tag zu Hause und sein Leben gleitet in einen Abgrund. An
einer Stelle betrachtet er die winzigen Fliegen auf dem Bildschirm und stellt
fest, dass man ihre kleinen Füße nicht hört. Und dann kommt dieser Satz: „Und
man hört sie doch“. Armin hat den Text im April 2011 im Seminar vorgestellt.
Ich kann mich noch genau an mein Gefühl erinnern, als er den Absatz über die
winzigen Fliegen las. Ich war überwältigt. Genau das ist es, was Literatur
ausmacht: Das Unmögliche wird möglich. Im Vorwort der Anthologie habe ich noch
einiges zum Titel geschrieben und auch auf einen meiner Lieblingsfilme
verwiesen, in dem ein Musiker nicht weiß, dass seine Songs in einem anderen
Land zu einer Revolution beigetragen haben, während er in seinem eigenen Land
kaum beachtet wurde.
Über 100
Autorinnen und Autoren haben bei dir über die Jahre an Gedichten und Prosa
gearbeitet. 27 davon sind in der Anthologie vertreten. War es nicht schwierig,
eine Auswahl zu treffen, und wie bist du dabei letztlich vorgegangen?
Der Prozess der Textauswahl hat sich länger als ein Jahr hingezogen.
Auf jeden Fall sollten alle aktuellen Teilnehmerinnen und Teilnehmer des
Seminars in der Anthologie vertreten sein; damit standen schon mehr als die
Hälfte der Namen fest. Ich habe eine Teilnahmeliste der vergangenen 20 Jahre
erstellt (einige sind länger als zehn Jahre dabei), und ich bin die
besprochenen Texte durchgegangen, teilweise ausgedruckt, teilweise digital,
teilweise genügte die Erinnerung. Das
wurde auch zu einer Zeitreise. Aus dem Material hätte man mehrere ganz
unterschiedliche Anthologien zusammenstellen können. Wegen des begrenzten
Umfangs der hochroth-Bücher habe ich darauf geachtet, dass Auszüge aus
Prosatexten in einem Umfang von etwa 2.500 Zeichen eine Kraft entfalten und
außerhalb ihres Kontextes funktionieren. Mir kam es darauf an, eine Auswahl
meiner Lieblingstexte zusammenzustellen, was Themen und Sprache betrifft. Es
brauchte diese lange Zeit, bis sich die passenden Texte herauskristallisiert
haben. Es sollte spürbar sein, dass ich die Auswahl getroffen habe – ein
Feedback, das ich auch mehrfach erhalten habe.
Die
Anthologie enthält Lyrik, Kurzprosa, Romanauszüge und eine Filmszene. Sie hat
insgesamt 50 Seiten, bietet jedem Autor und jeder Autorin also nur begrenzt
Platz. Kann man in dieser Kürze einem jeden Autor, einer jeden Autorin
überhaupt gerecht werden?
Das kann so eine kleine Anthologie nicht leisten. Es sind eher
Blitzlichter, die auf die Arbeiten geworfen werden. Die literarische Stimme
wird jedoch bei jedem Text vernehmbar.
Bei den
Seminartreffen wird über Lyrik und Prosa gleichermaßen diskutiert. Oftmals ist
es aber gar nicht so leicht für Lyriker über Prosa zu diskutieren und
umgekehrt. Hast du schon einmal darüber nachgedacht, die Gruppe zu trennen?
In den ersten 15 Jahren haben wir ungefähr zu 90 Prozent Prosa
besprochen. Da wäre es nicht möglich gewesen, das Seminar zu teilen, weil die
Lyrikgruppe zu klein gewesen wäre, auch wenn ich sehr gern den Fokus auf die
Lyrik erweitert hätte, auch mit einer Diskussion über Theorietexte und andere
Hintergründe. Den Prosaleuten ist es tatsächlich teilweise schwergefallen, sich
über Gedichte zu äußern. Seit 2020 ist die Lyrik stark vertreten, und seit
diesem Jahr nochmal stärker. Einige schreiben sowohl Lyrik als auch Prosa. Eine
Trennung der Gruppe ist jetzt kein Thema mehr.
Zur
Arbeitsweise des Seminars schreibst du in deinem Vorwort: Es geht um die
„Diskussion eines Textes nach den Regeln, die er für sich selbst aufstellt“.
Kannst du dies näher erläutern?
Es geht bei der Besprechung eines Textes im Seminar nicht darum, ob
mir ein Text persönlich gefällt, sondern darum, wie er funktioniert und wie man
seine Wirkung noch stärken kann. Die Texte verschicke ich eine Woche vor dem
Seminar per E-Mail. Nachdem der Text vom Autor / der Autorin vorgetragen wurde,
frage ich erst nach allgemeinen Eindrücken, dann vertiefen wir die genannten
Aspekte im Gruppengespräch und ich bringe ein, was ich mir überlegt habe. Diese
Diskussionen sind die Highlights des Seminars, weil wir eine Tiefe erreichen,
die die Gedanken der einzelnen weit überschreitet. Es geht darum, das Anliegen
des Textes im Kern zu begreifen. Ein Autor, eine Autorin möchte zunächst, dass
der eigene Text erkannt wird, in dem Sinn, dass er – bei aller Problematik des
Wortes – verstanden wird. Der Autor bzw. die Autorin hört bei dieser Diskussion
der Gruppe zunächst nur zu, kann dann später etwas erklären, fragen oder
ergänzen. In einem zweiten Schritt üben wir Detailkritik, indem wir die Texte
Seite für Seite durchgehen.
Die
Diskussion über die Texte steht zwar im Mittelpunkt der Seminararbeit, darüber
hinaus geht es, wie du im Vorwort der Anthologie schreibst, auch darum,
Schreibende dabei zu unterstützen, im Literaturbetrieb Fuß zu fassen. Könntest
du das näher erläutern?
Wer literarische Texte schreibt, möchte sie auch veröffentlichen. Ich
bringe immer wieder Literaturzeitschriften und Anthologien mit, oft
Belegexemplare, und gebe Tipps, welcher Text sich für welche Ausschreibung oder
für welche Zeitschrift eignen könnte. Ich mache auch auf Literaturwettbewerbe
aufmerksam und bringe Ideen bei der Verlagssuche ein. Viele Hinweise kommen
auch aus dem Seminar. Ein Highlight: Im Herbst 2024 war eine sehr begabte
Lyrikerin der Literaturwerkstatt beim Open Mike in Berlin im Finale und erhielt
eine lobende Erwähnung.
Um an
deinem Seminar teilzunehmen, muss man sich mit einer Textprobe bewerben. Warum
machst du das so, und welches sind die Auswahlkriterien?
Mich interessiert Literatur als Ausdruck von Persönlichkeit und
Individualität. Damit meine ich keinesfalls autobiographisches Schreiben. Auch
scheinbar unpersönliche Texte zeigen viel von der Haltung ihres Urhebers. Es
geht mir darum, ein möglichst hohes Niveau im Seminar zu gewährleisten, nicht
um Anpassung an Marktmechanismen. Maßgeblich ist die literarische Qualität der
eingereichten Texte. Für eine Zusage muss ich den Eindruck gewinnen, dass der
Bewerber / die Bewerberin ins Seminar passt, dass ich über die Texte sprechen
möchte und dass die Texte auch von den anderen gern im Seminar besprochen
werden.
Wenn du
an die vergangenen 20 Jahre Literaturwerkstatt zurückdenkst, welche schönen
Momente fallen dir ein? Welche Schwierigkeiten galt es zu meistern?
Ich fange mit den Schwierigkeiten an: Es gab auch schwächere Texte und
Autorinnen und Autoren, die wütend wurden, weil sie nicht das erhoffte Feedback
erhielten. Einige haben von ihrer Persönlichkeit her nicht ins Seminar gepasst.
Es tauchte vor zehn oder fünfzehn Jahren zuweilen das Problem auf, dass nicht
alle Leseplätze besetzt werden konnten (ich vergebe zwei, manchmal auch drei
Leseplätze in einem vierstündigen Seminar), weil zu wenig geschrieben wurde.
Wir entschieden dann, ab und zu Referate über Lieblingsthemen einzubringen.
Einmal habe ich einen Abend über die Geschichte des Hörspiels mit Hörproben
gestaltet und einen großen Kassettenrecorder mitgebracht. Inzwischen habe ich
die Zahl der jährlichen Seminartermine von zehn auf acht reduziert und die
Leseplätze sind immer besetzt. Auf kurzfristige Absagen von Leseplätzen, sei es
wegen Krankheit oder Zugverspätung, muss ich jedoch immer gefasst sein.
Zum Glück gibt es viel mehr Schönes zu erzählen. Da sind zunächst
Erfolge mit der literarischen Arbeit: erste Publikationen in
Literaturzeitschriften und Anthologien, die stolz herumgereicht werden;
besondere Highlights sind die Debüts und jedes weitere Buch. Hinzu kommen
Nominierungen, Preise und Aktivitäten im Literaturbetrieb wie Jurytätigkeiten,
Radiosendungen, Literaturzeitschriften und die Organisation von Lesungen. Die
Qualität der literarischen Texte hat sich insgesamt enorm gesteigert, was an der
langen Teilnahmedauer liegt, eine Autorin war sogar 17 Jahre dabei. Die
Begegnung in dem, was einen zentralen Bestandteil der eigenen Persönlichkeit
ausmacht, verbindet uns tief: Die Kontakte gehen über das Seminar hinaus, es
sind Vernetzungen und Freundschaften entstanden. Was mich am meisten
begeistert, ist der Flow bei den Textbesprechungen, wenn wir am Ende mit einer
anderen Erkenntnis oder anderen Eindrücken dasitzen als zu Beginn. In der
zweiten Seminargruppe, der Dienstagsgruppe, die ich von 2013 bis 2018 geleitet
habe, haben wir manchmal noch länger als bis zum offiziellen Ende des Seminars
um 22 Uhr diskutiert. Dann
gingen wir, erschöpft und ausgehungert, ein paar hundert Meter die Kasinostraße
runter in ein türkisches Restaurant, das 23 Stunden am Tag geöffnet hat.
Wahrscheinlich lag es an diesen verrückten Öffnungszeiten, dass sich unser
Zeitgefühl veränderte. Wir saßen auf Hochsitzen, die Rucksäcke und Taschen zu
unseren Füßen, bestellten warme Gerichte und ließen uns kurz vor unserem
Aufbruch noch kleine Gläser schwarzen türkischen Tees als Geschenk des Hauses
servieren, was sich nach Mitternacht wie eine Droge anfühlte, fast ein bisschen
illegal, ein Aufputschmittel, das wir für den Rückweg in die verschiedenen
Städte, aus denen wir anreisten, manche mehrere hundert Kilometer weit,
brauchten, und das uns länger als erwünscht wachhalten würde.
Inwieweit
bereichert dich die Arbeit mit der Gruppe persönlich?
Wahrscheinlich ist es schon deutlich geworden: Das Seminar ist ein
Herzensprojekt. Ich kann verschiedene Fähigkeiten von mir einbringen, lerne
ständig Neues und jede Textbesprechung ist eine Herausforderung. Das gibt mir
ein tiefes Gefühl von Erfüllung und Sinn, auch von Dankbarkeit, so pathetisch
es klingen mag. Meine eigenen Erfahrungen im Literaturbetrieb rangieren auf
einer Skala von überwältigend-erfreulich bis traumatisierend-erschütternd. Wenn
ich merke, dass ich an eine gläserne Decke stoße, weil mir klar geworden ist,
dass man für bestimmte literarische Lorbeeren die richtigen Leute kennen muss,
die sich für einen einsetzen, erdet mich das Seminar, und ich weiß wieder,
worauf es ankommt: Immer wieder Literatur zu entdecken, die mich berührt, und mich
auf den nächsten eigenen Text zu fokussieren und auf die Überraschungen, die er
für mich bereithält.
Gibt es
Dinge, die du im Rückblick anders machen würdest?
Bis Ende 2022 lagen die Seminare immer abends von 18 bis 22 Uhr. Seit
2023 treffen wir uns auf vielfachen Wunsch Samstag nachmittags. Das hat sich
als die viel günstigere Zeit erwiesen; alle sind ausgeruht und manchmal gehen
wir nach dem Seminar noch gemeinsam essen. Und es ist praktischer für
diejenigen, die von weit her anreisen. Das hätte ich schon früher ändern
sollen.
Wenn du
für die Zukunft der Werkstatt drei Wünsche frei hättest, welche wären dies?
Dass die Literaturwerkstatt mit ihrem wunderbaren Spirit noch lange
bestehen bleibt.
Dass die Autorinnen und Autoren, deren Manuskripte Gestalt annehmen, passende
Verlage finden und die Texte ein Publikum und Anerkennung.
Und dass wir bei unseren Lesungen, die wir künftig in jedem Frühjahr
veranstalten wollen, viele Menschen für unsere Literatur begeistern.
(Martina Weber:) Und man hört sie doch. Anthologie. 20 Jahre Literatur-werkstatt in Darmstadt. Heidelberg (hochroth) 2025. 50 Seiten. 10,00 Euro.