Elena Kaufmann: Dear world you have made the persons slow
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Adela Sophia Sabban
Elena Kaufmann: Dear world you have made the persons slow. Berlin, São Paulo (COISAS QUE MATAM) 2021. 116 Seiten. 35,00 Euro.
Ein Beweggrund für Christoph Meckel, das 1989 verabschiedete Übereinkommen über die Rechte des Kindes zu illustrieren und in Buchform zu veröffentlichen, war dessen Sprache: „Es ist eine Sprache der Anordnung und Verfügung, empfindlich wie Eisen, unförmig, schwer zu entziffern –“, schreibt Meckel im Nachwort des 1994 im Ravensburger Buchverlag veröffentlichten Buches, und fährt fort: „und es ist die Chance der Bilder, de[n] totenstarren Text […] in eine Bildersprache zu übersetzen, die wiederum von Betrachter und Leser übersetzt werden kann in Widerspruch, Kritik und Selbstkritik“.
Vieles haben das hier vorzustellende Buch von Elena Kaufmann und Meckels Illustrationen zwar nicht gemeinsam. Doch beide sind, so unterschiedlich auch in der Form, künstlerische Stellungnahmen zu nicht-literarischen Texten, deren Sprache durch den „offiziellen Mittei-lungscharakter“ bestimmt ist. Ähnlich wie für Meckel mag der „behördliche Ton“ dieser Texte ein erster Anstoß für Kaufmanns Buchprojekt gewesen sein.
Kaufmanns Buch trägt den Titel Dear
world you have made the persons slow und ist im September 2021 bei COISAS
QUE MATAM erschienen. In ihm sind die gesammelten englischen „Statements“ der
WHO (dt. Weltgesundheitsorganisation) zu COVID-19 von 2020 abgedruckt – ja, sie
sind abgedruckt, aber große Teile davon sind mit schwarzen Flächen überdruckt.
Bei genauem Hinsehen lässt sich vom Überdruckten noch etwas entziffern, doch
das ist sehr mühsam. Kaufmann verwendet ein Verfahren, das als „Blackout Poetry“
bekannt ist: Dabei entstehen durch Ausstreichungen mit einem schwarzen Stift
aus vorhandenen Texten neue Texte, werden aus vorhandenem Schriftmaterial neue
Gedichte hergestellt, etwa aus Zeitungs-seiten. Auch literarische Texte werden
solchen Bearbeitungen unterzogen, doch nicht immer wird mit schwarzem Stift
oder schwarzer Farbe gearbeitet. Man spricht dann meist von „Erasure Poetry“ –
„Auslöschpoesie“. Dabei wird nicht nur das Schriftmaterial des Ausgangstextes angeeignet,
sondern Gegenstand der Bearbeitung ist oft auch das Medium des Ausgangstextes in
seiner Materialität.
Solche Bearbeitungen stehen in
einer literarischen (und bildkünstlerischen) Tradition. Als frühe Beispiele von
Erasure Poetry in engerem Sinne werden oft Ronald Johnsons radi os von
1977 (2. Ausgabe 2005) und Tom Phillips A
Humument von 1980 (danach weitere Ausgaben) genannt. Erasure Poetry wird
mitunter als eine besondere Form der „Found Poetry“ verstanden. In ein weiter
gefasstes Feld von Kunstformen, die der Erasure Poetry verwandt sind, gehören nicht
nur verschiedene sprachexperimentelle Verfahren, sondern auch Formen von Zerstörung
und Auslöschung in der bildenden Kunst in der zweiten Hälfte des 20. Jh. (z.B.
Robert Rauschenbergs Erased de Kooning von 1953) sowie Formen der
„Appropriation Literature“, wie etwa Pavel Büchlers Nodds von 2006; hier
wurden Samuel Becketts Stücke Theatre I und Radio I auf die Regieanweisungen
für Pause oder Schweigen reduziert. Ein jüngeres deutsch-englisches Beispiel
von „Erasure Poetry“ ist SONNE FROM ORT des US-amerikanischen Lyrikers
Christian Hawkey und der deutschen Lyrikerin Uljana Wolf, die eine zweisprachige
Insel-Ausgabe der Sonnets from the Portuguese von Elizabeth
Barrett-Browning und ihrer deutschen Übersetzungen von Rainer Maria Rilke mit
Tipp-Ex bearbeitet haben (kookbooks 2012, Buchgestaltung Andreas Töpfer).
Dear world you have made the
persons slow enthält insgesamt 25 bearbeitete WHO-Statements auf 118 Seiten;
das Buch hat einen schwarzen Umschlag und ist seitlich mit einem Faden geheftet.
Vieles im Buch ist von schwarzen Flächen bedeckt. Daraus hervor treten einzelne
Wörter und Wortteile: mal ist es auf einer Seite nur ein Wort, mal sind es zwei,
drei, vier, fünf oder sechs – einmal sind es acht. Immer wieder gibt es Seiten,
zuweilen mehrere hintereinander, auf denen alles geschwärzt ist. Nicht von den
Streichungen betroffen ist der jeweilige paratextuelle „Vorbau“ der WHO-Statements,
der aus Titel, Veröffentlichungsdatum, der angenommenen Lesezeit sowie der
Anzahl der Wörter besteht. Blättert man und liest einmal nur die Titel, ergibt
sich ein nicht uninteressanter Rückblick auf das erste Pandemiejahr, sie
erinnern, wie sehr die Welt in den Jahren 2020 und 2021 herausgefordert war.
Die verbliebenen Wörter und
Wortteile ergeben zusammen neue Stellungnahmen: es sind „potential further
worldwide statements and recommendations“, wie es in einer kurzen Anmerkung
hinten im Buch heißt. Man kann sie als Elena Kaufmanns „Durchlese“ der
WHO-Statements bezeichnen: Ergebnis eines Leseprozesses, bestehend in einem
sukzessiven Entbergen von Wortteilen und Wörtern (teilweise enthalten in
anderen Wörtern), die sich zu mehr oder weniger ganzen Sätzen zusammenfügen. Der
Titel des Buchobjekts – „Dear world You have made the persons slow“ – ist selbst eines der extrahierten neuen
Statements; sie lassen, wie man sieht, auch schmunzeln.
Was Kaufmanns Blackout Poetry von vielen anderen Beispielen dieser Art unterscheidet, ist, dass ihre Ausgangstexte aus dem Internet stammen. Es ist kein Text, der von jemand anderem auf Papier gedruckt wurde; einmal „Kopieren und Einfügen“, dann lassen sich Schriftart und Zeilenumbruch selbst bestimmen. In anderen Fällen von Erasure oder Blackout Poetry hingegen wird das Ausgangsmaterial, die gedruckte Zeitungs- oder Buchseite, mit angeeignet und wird visuell Teil der Bearbeitungen. Im veröffentlichten Werk wird die bearbeitete Seite dann als Abbildung wiedergegeben. Ein Beispiel dafür sind Anke Beckers Buch Economic Words, das Bearbeitungen der Financial Times enthält; es erschien ebenfalls 2021.
Es gibt eine Art thematischen roten Faden in den neuen ent-deckten Stellungnahmen und Empfehlungen in Dear world you have made the persons slow. Da ist zum einen immer noch COVID-19 und die Pandemie, das Thema der Ausgangstexte ist nicht vollständig getilgt.
Zum anderen werden politisch-gesellschaftliche Themen aufgegriffen (z.B. „shared resources“, „gender“). Vor allem aber fordern die neuen Statements auf zum Perspektivwechsel, zu Erkun-dungen des Anderen, des Unbekannten (zwei der wenigen entdeckten Wörter sind „unknown“ und „unknowns“). Und das führt dieses Buch in gewisser Hinsicht ja auch selbst vor Augen: Nicht ein Lesen zwischen den Zeilen, sondern ein auslesendes Durchlesen, mit einem Blick für das noch Unentdeckte.
https://www.elenakaufmann.com/dear-world