Direkt zum Seiteninhalt

Edmund White: Meine Leben. Erinnerungen

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen


Stefan Hölscher

Edmund White: Meine Leben. Erinnerungen. Übersetzt von Joachim Bartholomae (Albino Verlag – Salzgeber Buchverlage) 2021. 528 Seiten. 28,00 Euro.

Schwule Liebe als hedonistisches Lebenselixier


Das erste, was ich dachte, als ich die über 500 Seiten lange Autobiographie von Edmund White sah, war: Lohnt es sich wohl, diesen dicken Schinken an Selbstberichterstattung eines Autors zu lesen, der ja bereits vier stark autobiographisch geprägte Romane geschrieben hat, als da wären „Selbstbildnis eines Jünglings“, „Und das schöne Zimmer ist leer“, „Abschiedssymphonie“ und „The Married Man“ sowie den autobiographischen Band „City Boy“, im amerikanischen Original 2009 publiziert. Auch wenn „Meine Leben“ in der Übersetzung von Joachim Bartholomae nur erst vor wenigen Wochen auf Deutsch im Albino Verlag erschienen ist, stammt das White-Original dazu schon aus dem Jahre 2005. Unweigerlich erinnert hat mich der Titel des Buches an Marcel Reich-Ranickis 1999 erschiene Autobiographie „Mein Leben“, die im Unterschied zu White im bescheidenen Singular auftritt, obwohl Reich- Ranicki in seinem Werk nicht nur ein Jahrhundert deutscher Literaturgeschichte, sondern auch komplexe deutsche und polnische Geschicke sowie jüdische Schicksale und eben insbesondere auch sein Schicksal als Jude vor, im und nach dem zweiten Weltkrieg facettenstark beleuchtet. Wie viel Substanz bieten mir, so habe ich mich gefragt, demgegenüber nun White’s diverse Leben?

Eingeteilt ist White’s Buch in gerade mal 10 Kapitel, die von „Meine Seelenklempner“, über „Mein Vater“, „Meine Mutter“, „Meine Stricher“ bis hin zu „Mein Genet“ (White hat eine Biographie über Jean Genet geschrieben) und „Meine Freunde“ reichen. Ich fand die einzelnen Kapitel durchaus unterschiedlich in ihrer Intensität und ihrem Schillern. Wie nicht wenige Schwule, so hatte auch Edmund White offenbar ein ziemlich negatives Verhältnis zu seinem Vater:

In gewisser Weise lebte er stolz nach der alten texanischen Regel: «Ich habe ein Dach über dem Kopf und ein Steak auf dem Tisch. Ich bin keinem Mann etwas schuldig und habe noch keine Nacht im Gefängnis verbracht.» Andererseits hatte er so selten mit anderen über seine Gedanken gesprochen, dass sie kaum entwickelt waren; er war schlichtweg nicht in der Lage, ein Gefühl wie Einsamkeit wahrzunehmen oder zu deuten. Auf dem Rücksitz während der Heimfahrt fühlte ich mich wie ein Gefangener, schlimmer hätte es auch in der Grünen Minna nicht sein können.

Stellt White seinen Vater als ziemlich oberflächlich dar, so fand ich, ehrlich gesagt, auch das Kapitel über den Vater deutlich oberflächlicher und weit weniger packend als etwa das über die Beziehung zur Mutter, bei der der kleine und auch schon größere Edmund offenbar als lebenslange Lektion gelernt hat, dass man Frauen liebvoll-sanft zu umsorgen habe, dass das aber äußerst anstrengend und sehr wenig sexy sei. White entwickelt, wie er selbst schonungslos berichtet, tiefsitzende Identifikationen mit der von ihm zugleich geliebten, umhegten und ihn abstoßenden Mutter:

Auch wenn sie uns weinend im Arm gehalten und gewiegt hatte, als wir noch klein waren, wollten meine Schwester und ich später nicht mehr, dass sie uns anfasste. Ihr Körper stieß uns ab, so fett, so eingeschnürt. Ich bin sicher, dass diese Abneigung auf ihren eigenen Selbsthass zurückzuführen war, und darauf, dass wir sie massieren mussten, wenn sie betrunken war. Ich habe zu viele ihrer Eigenschaften übernommen und deshalb kein Recht, über sie zu urteilen. Auch ich erlebe abwechselnd dünne und fette Jahrzehnte; die dünnen Phasen wurden durch medizinisch überwachte Diäten hart erkämpft, durch intensiven Sport und sogar Operationen. Genau wie sie bin ich immer auf der Pirsch nach einem Mann, auch wenn ich anders als sie zumeist für durchschnitt-lich fünf Jahre mit meinem Liebhaber zusammengelebt habe. Wie sie bin ich besessen von meiner Arbeit, aber ich habe ganz bestimmt nie diese langen, harten Arbeitstage erlebt, die sie so geliebt und gehasst hat. Wie sie hatte ich Probleme mit dem Alkohol und musste schließlich ganz damit aufhören. Wie sie schwanke ich hin und her zwischen geringer Selbstachtung und eifersüchtig verteidigtem Bewusstsein meiner Bedeutung. Wie ihr ist es mir wichtiger, vollkommen fremde Menschen zu beeindrucken, als nett zu alten Freunden zu sein.

Als 1941 in Cincinati, Ohio geborener schwuler Junge wächst White in eine Welt hinein, in der Homosexualität als Krankheit gilt, über die man, wenn irgend möglich, gar nicht spricht. Die Ambivalenz zwischen Selbstablehnung und heftiger Gier prägt White’s Jugend und ragt weit in sein erwachsenes Leben mit hinein:

Ich wollte als jemand gelten, der bei Mädchen Erfolg hat, und nicht als Homo. Davor hatte ich Angst: ein Homo zu sein. Meine Begierde nach Kontakt zu Männern entsprach exakt dem Ausmaß meiner Angst vor dem Etikett.
    Ich mochte mich nicht besonders leiden, wenn ich Sex mit Männern hatte. Ich schaffte es nicht, mir eine Persona für mich selbst auszudenken, hatte keine Vorstellung davon, wer ich war – ein pockennarbiger Vergewaltiger? Ein gezupftes und gecremtes effeminiertes Ungeheuer? Meine Mutter? Ein schmutziger alter Sack, der neben dem Glory Hole hockt und die schmuddeligen Finger hindurchsteckt, um alle freilaufenden Ständer herbei-zuwinken? Keins dieser Bilder war erfreulich.

Aus der gehobenen bürgerlichen Mittelschicht stammend, mit einer Psychologin als Mutter und einem wohlhabenden Industriellen als Vater führt es den jugendlichen Edmund ähnlich wie zahllose seiner homosexuellen Leidensgenossen zu der Zeit in die Therapie mehr oder weniger orthodoxer Psychoanalytiker, die den Patienten mit Traumdeutung und mühevoller Aufarbeitung vermeintlich „analer“,  „phallischer“ und ödipaler“ Komplexe und Traumata  von seiner Homosexualität heilen wollen – am besten, ohne sie jemals beim Namen zu nennen. So absolviert auch der junge Edmund vermutlich tausende Stunden Therapie bis er schließlich zu dem ebenfalls schwulen Therapeuten Charles Silverstein kommt, mit dem die Sache anders ausgeht:   

Charles und ich beendeten die Therapie, als ich den Auftrag bekam, das Buch „Die Freuden der Schwulen“ zu schreiben, mit – Achtung, Überraschung – Dr. Silverstein als Co-Autor.

Zur Zeit der Begegnung mit Silverstein ist White allerdings schon deutlich über 30 und hat Jahrzehnte des nagenden Zwiespalts hinter sich, die ihn zu Versuchen, seine Homosexualität loszuwerden oder zumindest zu kaschieren einerseits, und ausgiebigem Männersex andererseits gebracht haben. So nimmt der junge Edmund schon sein erstes, beim Vater verdientes Geld, um sich einen Stricher zu gönnen, und setzt die Tradition, Sex für hart erarbeitetes Geld zu kaufen, in Variationen offenbar lebenslang fort:

Alle zwei Wochen konnte ich mir einen Jungen leisten. Ich wusste genau, welchen Typ ich bevorzugte – die kompakten blonden Schönheiten mit unbehaarten Unterarmen und einer funkensprühenden Art, beim Gehen mit den Hacken aufzutreten. Sie waren ständig damit beschäftigt, ihre Jeans hochzuziehen, wozu sie die Daumen in die vorderen Gürtelschlaufen hakten; ansonsten konzentrierten sie sich auf die Beule zwischen ihren Beinen. Sie hatten eine Art, mir direkt in die Augen zu schauen, wenn sie durch zusammengekniffene Lippen zur Seite hin ausspuckten, was wie ein grimmiger Fluch wirkte. Meistens war ich so aufgeregt, dass ich mit dem ersten Mann wegging, der mich ansprach, egal wie er aussah.

So wie Whites Autobiographie von Berichten zahlloser Begegnungen mit anderen, oft berühmten Schriftstellern, Schauspielern, Philosophen, Malern … strotzt, so strotzt sie auch von Berichten über die sexuellen Beziehungen und Erlebnisse mit anderen Männern. In den Kapiteln „Meine Stricher“, „Mein Meister“ und „Meine Blonden“ steht letzteres klar im Vordergrund. Ebenso wenig wie White aber Namedropping betreibt, wenn es um seine Kontakte mit anderen Berühmtheiten geht, ebenso wenig wird er exhibitionistisch oder gar vulgär, wenn es um die Schilderung seiner Sexbeziehungen geht.

Schonungslos offen wird es allerdings schon, und dies ist sicher ganz generell eines der Markenzeichen von Edmund White. Seine Art zu schreiben, sein Stil, ist sicher nicht sprachlich innovativ, geprägt von kühnen, poetischen Metaphern oder auf größtmögliche Tiefe hin angelegt. Sein Stil ist direkt, witzig, frech, lebendig und treffsicher; vor allem aber so unblockiert frei, wie es vielleicht nur möglich ist, wenn jemand, sich gegen alle Hürden der Gesellschaft, sich mit seinem Anderssein nicht zu zeigen, entschieden hat, es nun gerade doch zu tun und die Lust an diesem Anderssein in vollen Zügen zu zelebrieren und gleichzeitig zu reflektieren: schwule Liebe als hedonistisches Lebenselixier und Stoff, den es gewandt zu erzählen gilt.

Am heftigsten tritt die, wie White selbst es nennt, „schmerzliche Ehrlichkeit“ sich selbst und der Welt gegenüber in dem Kapitel „Mein Meister“ zu Tage, in dem White den Lesenden nicht nur verrät, was er eigentlich von Männern möchte:

Immer wieder verliebte ich mich in schöne Jungs, Kerle, die jünger und zarter waren als ich. Falls es mir gelang, einen von ihnen zu verführen, wusste ich kaum, was ich mit ihm anfangen sollte. Ich war von Natur aus genauso passiv, wie es bei diesen Jungs zu erwarten war. Wenn ich Glück hatte, hatte der rosenwangige, flachshaarige Junge mit den vollen Lippen eine sadistische Ader und die törichte Jungfrau wurde zum Höllengemahl. Ich verliebte mich in hübsche Jungs, aber was mich erregte, waren männliche, fordernde Männer.

Vor allem schildert White in dem Kapitel in aller Krassheit, auch was die Beschreibung der sexuellen Begegnungen angeht, seine Beziehung (White ist zu dieser Zeit schon über 60) zu dem um Jahrzehnte jüngeren T., dem er sich sexuell unterwirft und von dem er selbst dann kaum lassen kann, als dieser die Beziehung schließlich entschieden beendet:       

Ich schaute vierzigmal am Tag in meine E-Mails, aber kein Wort. Auf der Rückfahrt von Princeton weinte ich öffentlich im Zug, die Tränen liefen mir unkontrolliert die Wangen hinunter. Ich hatte kein Taschentuch, um mir die Nase zu putzen. Niemand nahm Notiz. Wenn sie mich beachtet hätten, hätten sie vielleicht gedacht, ich sei ein Großvater, der den Tod seiner alten Ehefrau betrauert, und nicht etwa ein greiser Libertin, der den Verlust eines geilen steifen Schwanzes bejammert. Über das heterosexuelle Äquivalent – Showgirl versetzt Lüstling – würde jeder lachen, auch ich.

Auch wenn es über 500 Seiten hat: „Meine Leben“ ist ein Buch, das man, wenn man sich denn überhaupt für die darin beschriebenen Themen interessiert, in einem Rutsch lesen wird – so flüssig wie es geschrieben ist. Ich vermute, die Lektüre wird längerfristig nicht gleichermaßen Spuren in mir hinterlassen wie die des Lebens im Singular von Reich-Ranicki. Nichtsdestotrotz: „Meine Leben“ ist eine frische, geistreiche, ziemlich schwule und dramaturgisch geschickt geschriebene Autobiographie, die nicht nur das Leben eines exzentrischen sexgierigen Künstlers beleuchtet, sondern quasi nebenbei auch eine ganze Epoche schwuler Emanzipations- und Kulturentwicklung. All das macht „Meine Leben“ noch nicht zu einem großen Werk, aber zu einer rundherum genussreichen Lektüre.


Zurück zum Seiteninhalt