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Edgar Lee Masters: Die Toten von Spoon River

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Timo Brandt

Edgar Lee Masters: Die Toten von Spoon River. Gedichte. Englisch / deutsch. Übersetzt von Claudio Maira. Salzburg (Jung und Jung) 2020. 544 Seiten. 40,00 Euro.

“All, all are sleeping on the hill …”


„The author knows that the truth is never known, or never told, unless the dead can speak – speak when ’far too naked to be ›shamed‹”

So versuchte ein Rezensent um das Jahr 1916 herum die Faszination zu begründen, die von einem der erfolgreichsten (=meistverkauften) Gedichtbände des 20. Jahrhunderts ausging: „Spoon River Anthology“, eine an der Anthologia graeca geschulte Sammlung mit über 200 Epitaphen von verstorbenen Mitgliedern der imaginären Gemeinde Spoon River, einer Kleinstadt im Mittleren Westen der USA, die darin ihre Lebensschicksale schildern, sich rechtfertigen, bekennen und verdammen, sich entblößen und erklären.

Abseits der generellen Faszination für Lebensschicksale und dem voyeuristischen Aspekt (viele der fiktiven Namen und Geschichten waren von echten Lebensläufen inspiriert, beruhten auf den Biographien von Menschen aus den realen Gemeinden Petersburg und Lewistown), ist es aber wohl vor allem das organische Geflecht aus Beziehungen, der panoramaartige Ausblick/Einblick auf/in die Begebenheit des Lebens, dem das Buch seinen Erfolg verdankt.

Denn obgleich Masters nicht zu den bekannten Namen in der amerikanischen Lyrik des 20. Jahrhunderts gehört – er besaß ein bemerkenswertes Einfühlungsvermögen und scheute außerdem nicht das Risiko, seine Figuren unverblümt und mit  Pathos sprechen zu lassen, ihnen Innigkeit und Eigensinn, Einfalt, aber auch Weisheit, Banales und Geschmackloses zuzugestehen. Sie sprechen nicht aus dem besonderen Moment heraus, sondern aus der Fülle des Gewöhnlichen, die in einem Epitaph noch unscheinbar, fast uninteressant wirken mag, in der Masse der Epitaphe, wenn man das Buch von hinten nach vorne liest, aber ungeheuer bestechend, ja, ergreifend wirkt.

„Aus dem Staub erhebe ich meine Stimme zum Einspruch:
Meine blühende Seite habt ihr nie gesehen!
Ihr Lebenden, ihr seid wirklich Narren,
die die Wege des Windes nicht kennen
und die unsichtbaren Kräfte,
die den Lauf des Lebens lenken.“

Es wird schnell deutlich, dass, obgleich es einen gewissen Grundtenor gibt, der Ton in jedem Gedicht anders ist: Akzente von Launen, Slang- oder Upper-Class-Allüren und Sprengsel, nachdenklichere, emphatischere oder poetischere Grundierungen, all diese Feinjustierungen machen aus den einzelnen Texten nicht nur Stimmen, sie geben ihnen sogar oft so etwas wie ein Gesicht.

Zusätzlich nehmen die Toten oft Bezug aufeinander und es entstehen ganze Geschichten, mehrperspektivisch geschildert: Familientragödien, Liebestragödien, Kriegstragödien, etc. Manches darin ist offensichtlich, manches muss man sich zusammenreimen oder es bleibt sogar im Dunkeln. Immer wieder werfen Tote lediglich einen Blick auf die Leben anderer, fungiert dieser nur als Ergänzung zu der Geschichte von anderen.

„Nur der Chemiker kann sagen, und nicht einmal immer der Chemiker,
was herauskommt, wenn man
Flüssiges mit Festem mischt.
Und wer kann sagen,
wie Männer und Frauen aufeinander reagieren
und was für Kinder dabei herauskommen?
Da waren Benjamin Pantier und seine Frau,
jeder für sich gut, doch zueinander schlecht;
er Sauerstoff, sie Wasserstoff,
ihr Sohn, ein verheerendes Feuer.“

Da meist alle Seiten zu Wort kommen, ergibt sich schnell auch eine Atmosphäre der Denkweisen, Vorstellungen & Vorurteile im Mittleren Westen. Masters wollte mit seinem Buch vor allem Doppelmoral und Engstirnigkeit der Kleinstädter anprangern und das gelingt ihm erstaunlich gut, ohne dass die Einzelschicksale lediglich zu diesem Zwecke instrumentalisiert werden; ihre Tragik ist nicht selten ein Ausdruck der Umstände, kann aber auch für sich stehen.

Ein bisschen erstaunlich ist (für diese Zeit und weil der Autor ein Mann ist), dass Masters bei einigen Frauenschicksalen Themen wie Misogynie, fehlende Selbstbestimmung, fehlender Schutz vor körperlicher Unversehrtheit, sexuelle Repression, u.a. aufbringt. Auch die Gewalt des männlichen Blicks beschreibt er sehr gekonnt:

„Sie war ein Klumpen Ton,
meine geheimen Gedanken waren Finger:
Sie flogen hinter ihre nachdenkliche Stirn
und furchten sie mit Schmerz.“

Überhaupt ist das Buch, für diese Zeit, erstaunlich progressiv – in dem Sinne, dass auch Themen wie Heimatstolz, Kriegspathos, Fremdenfeindlichkeit, etc. zugelassen werden.

Es gibt ein Gedicht von Robert Frost, dass In a disused graveyard heißt und dessen Anfang lautet:

“The living come with grassy tread
To read the gravestones on the hill;
The graveyard draws the living still,
But never anymore the dead.”

Es gibt sicherlich viele dieser Friedhöfe: abgeschnitten vom Sterben, mehr Aufenthaltsort der Lebenden als der Toten. Die Geschichten sind eh die gleichen, von denen in den Gräbern, von denen über den Gräbern – mit einem Unterschied: die der Toten sind zu Ende.

Oder nicht? Ich hatte beim Lesen oft das Gefühl, dass es da Geschichten gibt, an die ich anknüpfen kann. Nicht einmal, weil ich Ähnliches erlebt habe oder erleben will oder dergleichen fürchten muss. Vielmehr, weil da eine Stimme von Erlebtem spricht, das gar nichts mit mir zu tun hat, mir Rätsel aufgibt, aber auch wieder eine Klarheit hat, eine Endgültigkeit vielleicht auch, die mich anzieht; weil sie fern meines eigenen Ringens und Entscheidens liegen. Geschichten, die seltsam in mir fortleben. Bei Frosts Gedicht heißt es am Ende, kokett:

“It would be easy to be clever
And tell the stones: Men hate to die
And have stopped dying now forever.
I think they would believe the lie.”

Zum ersten Mal liegen mit dieser Übersetzung bei Jung und Jung alle 244 Epitaphe der Originalausgabe vor. Dazu ein langer Anhang mit Kommentaren, in denen den realen Vorbildern für die Geschichten nachgegangen wird.

Vielleicht sind es ja wirklich die Toten, die so etwas wie eine Wahrheit über das Leben verlautbaren können. Vielleicht gibt es Wahrheit nicht, solange man lebt, sie entsteht erst, wenn das Leben endet – und unsere tiefe Sehnsucht, unser Verlangen entspringt dem Versuch, diese Wahrheit vorher zu erreichen. In jedem Fall ist „Die Toten von Spoon River“ ein Buch für viele Gelegenheiten, Einsichten, ein kleines Epos aus vielen Nachrufen, die bis in unsere Zeit nachhallen und darüber hinaus.

„Ich war der Erstling der Schlacht am Missionary Ridge.
Als ich die Kugel in mein Herz eindringen spürte,
wünschte ich mir, ich wäre daheim geblieben und ins Gefängnis gegangen
für den Schweinediebstahl bei Curl Trenary,
anstatt wegzurennen und in die Armee einzutreten.
Tausendmal lieber Bezirksgefängnis,
als unter dieser marmornen Figur mit Flügeln
und diesem Granitsockel zu liegen,
auf dem steht: »Pro Patria«.
Was bedeutet das überhaupt?“


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