Draumey Aradóttir: Vier Gedichte
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Draumey
Aradóttir
Vier
Gedichte
Aus:
VARURÐ / GEWAHRSEIN
Bókaútgáfan
Sæmundur,
Selfoss 2022
Aus dem Isländischen übertragen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer
FREIHEIT
Seine
eigenen Gedanken
wahrzunehmen
ohne
zuzuhören
ist
das Gewahrsein
hinter
den Gedanken
die
Stille
die
sich selbst wahrnimmt
frei
ihr
eigenes Lied
zu
singen
WEG
Eisige
Worte halbierten die Welt
keine der beiden Hälften wird ohne die andere
überleben können
sie legt die steifgefrorenen Arme über Kreuz
auf der schmalen Brust
die
sich hebt und senkt
hebt
und senkt
machtlos
die Wellen zu bändigen
den
Sturm zu lindern
zwei
entzweigerissene Teile der Welt
ein
Weg
weg
HEIMATHAFEN
Der
Herbstabend breitet seine mächtigen
Flügel
über den stürmischen Hafen
ein leicht bekleidetes Mädchen in
viel zu großen Stiefeln
tastet sich zögernd die glitschige Pier entlang
draußen
im Fjord wogt ein unerbittlicher
Wellenkamm
ans Land
tritt unentschlossen nach rechts und
links von einem Bein aufs andere
steigt
ohne Vorwarnung hoch und
fällt
mit Wut über Stein und Fels
zwischen scharfen Worten und einer beruhigenden
Umarmung
am
unerbittlichsten dem gegenüber
was
ihm am nächsten steht
die Augen wollen wissen
doch der Dunst verbirgt vieles
die Ohren haben schon zu viel gehört
ein
heimischer Zugvogel schwebt nachdenklich
über
Fjord, Wiese und Lava
ein
zerrissener Vorhang in einem Kinderspiel
verboten
unter achtzehn Jahren
das
trotz Sturzsee
ein
gutes Ende nimmt
DER
SCHREI
Im
Innern des blumengeschmückten Gewölbes
die eiskalte Vergänglichkeit
auf
einer schwarzen Bahre
dumpfe
Orgeltöne füllen die weiße Leere
in
der Brust der Trauergäste
bis
sie sich ihren Weg bahnt
aus
dem Erdinnern hinaus zur Oberfläche
die
brodelnde Lava
nichts
entsteht aus nichts
und
nichts wird zu nichts
alles
greift ständig ineinander
geht weiter überall und für ewig
ohne
Anfang
ohne
Ende
bis
er sich seinen Weg bahnt
aus
der Tiefe der Seele hinaus zum Unnennbaren
der
brodelnde
stille
Schrei
Draumey Aradóttir, geb. 1960 in Hafnarfjörður, ist
Lehrerin, Dichterin und Schrift-stellerin. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte
sie in ihrer Geburtsstadt, lebte danach in Reykjavík, studierte u.a.
Philosophie an der Universität Islands, bis sie 1998 nach Lund /Schweden zog,
wo sie zunächst ihr Studium, erweitert um schwedische Sprache und Literatur,
abschloss und sodann arbeitete. 2015 kehrte sie nach Hafnarfjörður zurück und
war u.a. als Lehrerin und Sonderpädagogin an einer Grundschule tätig. Schreiben
sei für sie, so sie selbst, eine Art zu leben – und zu überleben. Sie schreibt,
seit sie zum ersten Mal ein Blatt Papier und einen Bleistift in der Hand hatte.
Dazu gehören Erzählungen und Gedichte, Briefe, Reiseberichte, Kinder- und
Jugendbücher. Ihre Gedichte wurden vielfach veröffent-licht, u.a. in Lesbók /
Lesebuch, der Wochenendbeilage der Tageszeitung Morgunblaðið / Das Morgenblatt,
in der Literaturzeitschrift Tímarit Máls og Menning / Zeitschrift Sprache und
Kultur
sowie zusammen mit anderen Dichtern und Schriftstellern in isländischen und
schwedischen Anthologien. Der Gedichtband Varurð / Gewahrsein ist ihr sechstes
Buch.