Draumey Aradóttir: So bin ich
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Draumey
Aradóttir
SO
BIN ICH
(Aus dem Gedichtband Einurð / Ergebenheit, Bókaútgáfan Sæmundur, Selfoss
2023)
Aus dem Isländischen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer
SO
BIN ICH
es
gibt einen Kern und es gibt eine Oberfläche
es
gibt eine Wurzel und es gibt ein Erscheinungsbild
ich
höre
wie
du deinen Freundinnen
davon
erzählst
wie
ich beim Schneesturm von der Schule nach Hause
kam
mit nur einem Stiefel am Fuß
ohne
es selbst
bemerkt
zu haben
und
wie ich bis zur Schlafenszeit
spielte
mit der Mütze auf dem Kopf
ohne
dass
ich
sie spürte
wie
ich alle Tage an etwas bastele
und
eine Lego-Welt aus tausend Steinen baue
und
eine vierzehnseitige Comic-Reihe zeichne
mitsamt
allen technischen Details
ganz
allein
und
ein Puppentheater baue
und
das Kleine Küken und den Teddybär Krúsi und
den
Fuchsjungen Rotnase und Tígri, den Tiger, spiele
und
all die Kätzchen und überglücklich bin
allein
in
meinem Zimmer
Tag
für Tag
Jahr
für Jahr
wie
dermaßen selbständig ich bin
was
keineswegs jedem gegeben ist
aber
eine so gute Eigenschaft ist
wenn
man darüber im Erwachsenenalter verfügt
das
alles höre ich
und
das alles, liebe Mama
ist
die Oberfläche
ist
dein Bild
von
mir
aber
der Kern der Sache ist
dass
ich genau so bin
und
mich für immer hingezogen fühlen werde
zur
Einsamkeit
und
nicht zum Miteinander
zu den Figuren in meinem Theater
und
nicht zum Publikum
zu
meinen Comic-Heften
und
nicht zu ihren eventuellen Lesern
denn
in meiner Welt
existieren
sie nicht oder sind im besten Falle
überflüssig
und
deshalb habe ich nur ein Lächeln
für
dich, wenn du kommst
ein
Lächeln, wenn du anrufst und fragst
ob
ich nicht bald kommen wolle
dich
zu besuchen
ein
Lächeln, weil mir die Worte fehlen
um
dir zu sagen, wie ich mich in meinem Innern fühle
dies
aber weder ändern kann
noch
will:
dass
ich dich nicht brauche
auch
wenn du mich brauchst
nur
ein aufrichtiges Lächeln
liebe
Mama
weil
ich es nicht anders kann
aufrichtig
denn
so bin ich
Draumey Aradóttir, geb. 1960 in Hafnarfjörður, ist
Lehrerin, Dichterin und Schriftstellerin. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte
sie in ihrer Geburtsstadt, lebte danach in Reykjavík, studierte u.a.
Philosophie an der Universität Islands, bis sie 1998 nach Lund /Schweden zog,
wo sie zunächst ihr Studium, erweitert um schwedische Sprache und Literatur,
abschloss und sodann arbeitete. 2015 kehrte sie nach Hafnarfjörður zurück und
war u.a. als Lehrerin und Sonderpädagogin an einer Grundschule tätig. Schreiben
sei für sie, so sie selbst, eine Art zu leben – und zu überleben. Sie schreibt,
seit sie zum ersten Mal ein Blatt Papier und einen Bleistift in der Hand hatte.
Dazu gehören Erzählungen und Gedichte, Briefe, Reiseberichte, Kinder- und
Jugendbücher. Ihre Gedichte wurden vielfach veröffentlicht, u.a. in Lesbók /
Lesebuch, der Wochenendbeilage der Tageszeitung Morgunblaðið / Das Morgenblatt,
in der Literaturzeitschrift Tímarit Máls og Menning / Zeitschrift Sprache und
Kultur
sowie zusam-men mit anderen Dichtern und Schriftstellern in isländischen und
schwedischen Antho-logien. Nach ihrem 2022 erschienenen Gedichtband Varurð /
Gewahrsein veröffentlichte sie zuletzt Einurð / Ergebenheit, dem dieser Text entnommen ist. Für diesen Band wurde
sie auf dem Literatur-Festival Júlíana,
das alljährlich in Stykkishólmur, einer Stadt auf der Halbinsel Snæfellsnes, stattfindet, mit dem gleichnamigen Preis
ausgezeichnet.
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