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Dorothea Grünzweig: Plötzlich alles da

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Timo Brandt

Dorothea Grünzweig: Plötzlich alles da. Gedichte. Göttingen (Wallstein Verlag) 2020. 140 Seiten. 24,00 Euro.

In fröstelnder Ehrfurcht vor dem Leben, der Fülle


„durch dicht- und lockergewebten wald    dann reißt er auf und
das weißmoor erscheint mit seinen riedgrasigen rispigen wogen
[…] im gepäck haben wir
die nachricht vom staatlichen wildtieramt dass ab diesem herbst
der schutz der waldrene aufgehoben sei   man sie zur jagdzeit
schießen könne   ob auch deshalb die möwen kreischen   sie sind
völlig außer sich   das verweht unser haar lässt die wellen springen

dass sie für die fische schreien ist bekannt   die fische welche
beinah unhörbar durchs leben gleiten übertragen ihnen viel    sie
sollen für sie zur sprache bringen ihre todesangst und ihre euphorie“

Neben dem bereits von mir besprochenen „Wildniß“ von Daniela Danz, ist diesen Herbst mit „Plötzlich alles da“ von Dorothea Grünzweig ein zweiter Gedichtband im Wallstein Verlag erschienen – und er ist nicht minder beeindruckend. Aber ich greife vor.

„Plötzlich alles da“ ist in neun Kapitel unterteilt, die alle mehr oder weniger eigene Schwerpunkte haben, wobei manche von ihnen Motive in den Mittelpunkt rücken, die schon vorher im Band thematisiert wurden oder zumindest eine Rolle spielten.

Drei große, übergreifende Narrative lassen sich ausmachen: das Altern/Sterben der Mutter des lyrischen Ichs, das Leben in Harmonie und Einklang mit der Natur und eine dieser Natur und ihrem Konflikt mit dem ihr entfremdeten Menschen innewohnende Gewalt (+ die Gewalt, die der Mensch dem Menschen anzutun vermag).

All diese Thematiken behandelt Grünzweig mit einer Sorgfalt, die in manchen Passagen als Zärtlichkeit hoch über den Dingen kreist, aber sich auch im Tiefflug, als Anklage, Schärfe, auf einen Gegenstand zu stürzen vermag.

Dieses Bild wähle ich ganz bewusst, da auch Vögel eine wichtige Rolle in dem Band spielen. Oft sind es verunglückte, die gegen eine Scheibe geflogen sind oder Vogelpaare, die ihren Nachwuchs verlieren oder denen der Nist-Baum unter den Fittichen weggesägt wird. In all diesen Szenarien symbolisiert das Leid der eigentlich so leichten, flugfähigen Wesen die Schicksalshaftigkeit, aber auch die Zähigkeit des Lebens, vor allem jedoch die Willkür, die alle lebenden Kreaturen plötzlich betreffen kann (und zu deren Potenzierung wir Menschen mit der Zerstörung der Natur nicht noch beitragen sollten).

„den nistkasten der vom baum fiel hängen wir wieder auf
dass die trauerschnäpper ihre verhungerten jungen finden
und wenn sie verstanden haben bald von vorne beginnen“

Grünzweig betrauert die Verunglückten, teilweise in schmerzlich ausformulierten, nichtsdestotrotz sehr einnehmenden Elegien, widmet sich im Verlauf des Bandes aber auch Tieren, die durch gezielte menschliche Jagd zu Tode kommen. Ein großartiges Gedicht handelt von einer Bärin und einem Jäger:

„die bärin und der jäger
           sie kommen sich nah
die bärin wurde von kugeln durchlöchert   sie wehrte sich
der jäger ist zerfleischt    hier liegen sie   schaut
                           man von ferne  in mythischer zweisamkei[…]
sie hängt in ihrem brennenden leib    er geht in einem see
ohne trittgrund langsam unter
[…]
duftbilder sieht sie von ameisen  honigwaben kornähren
heidelbeeren  einem offenen elch  spürt mutterhöhlen
                                            in ihr fell gewühlte kinder
im wundbett liegen sie   wo die hoffnung des jägers bald
belohnt wird      er hört menschliche stimmen sieht
                männer eine bahre  er wird heimgetragen werden“

Aber auch da, wo (Mit)leid keine Verbindung zur Natur schafft, ist Grünzweig immer auf der Suche nach der Herrlichkeit, der Unabwendbarkeit ihrer Größe, Tiefe, Fülle. In einem Gedicht über den Sommer heißt es, dass das lyrische Ich und deren Geliebter nun bald wieder mit offenen Türen oder vielleicht sogar im Freien schlafen können, sie können:

„in das gartenoffene weiterziehen […]
verbirkt verespt verahornt werden“

Neben den Tieren sind es eben auch die Bäume, für die Grünzweigs lyrisches Ich eine Zärtlichkeit und Vertrautheit hegt; einige Gedichte beschreiben Rodungen und das einzelne Fällen von Bäumen, das stärkste unter ihnen ist wohl „rasch weg rief der rodungsmeister“.

Hier wie auch in den Gedichten über das Leid von Tieren, hält die Autorin trotz (oder gerade wegen) der Schmerzlichkeit, die mitschwingt, ihre Sprache eher im Zaum, lässt mehr die Details, die Abläufe für sich sprechen.

Dabei ist ihre Sprache fähig zu sehr intensiven Bildern, in einem Gedicht über ein Fieber schreibt sie:

„mein fleisch ist wie mit schwachem kleber an die knochen
gepappt“

Und über einen Verlust, die Trauer:

„es sitzt
uns unter den rippenbögen eine obdachlose  gespenstige stille“

Womit wir bei dem letzten großen Narrativ angekommen sind: dem Altsein und Sterben der Mutter. Es ist ein langes Abschiednehmen, das in den Gedichten zu diesem Thema geschildert wird. Schmerz und Melancholie herrschen vor, aber auch Prisen von Heiterkeit und Dankbarkeit finden sich hier und da.  

Ein wirklich wunderschönes Gedicht ist „schweigsame schwiegersöhne aus fernen ländern“, welches so beginnt:

„schweigsame schwiegersöhne aus fernen ländern sprechen
die sprache des singens   so einfach ist das […] vjell hatte ein kleines
güte- und minnegärtchen im herzen für mutter angelegt   wie sie

unter obstbäumen saßen war der rollstuhl vergessen   war
erdentand   vjell sang für mutter sie schmetterte lieder zurück“

Vjell ist ein Phantasie- und Kosename für den Geliebten und ein häufiger Name in den Gedichten, die durchzogen sind von einigen (im Anhang erläuterten) finnischen, sowie süddeutschen Begriffen und Gestalten, die auch die beiden Lebenswelten der Autorin abbilden (sie ist geboren in Baden-Württemberg, lebt aber in Südfinnland).

„mutters haar glänzt sommersprossenrot   auf ihm eine schleife
wie ein losflatternder weißling   im arm hält sie einen teddybären
mit schwermütigen augen der ihrem verschlossenen vater gleicht
aus ihm wird später ein wesen der sehnsucht
wundersamer verwandlungskünstler nach welchem sie sich verzehrt“

Dorothea Grünzweigs Sprache gelingt es, sehr lebendig Erlebnisse und Geschichten abzubilden. Es gibt noch einiges zu entdecken, das ich nicht angesprochen habe, von Polarlichtern und der Liebe zum späten Schnee bis zu Farben, die nottun und dem Überlebenskampf von Renn und Wolf.

Grünzweig lädt uns ein, die Natur und ihre Lebendigkeit mitzuempfinden, gerade dort wo es ums Sterben, um Zerstörung, Abschiede geht, alles Momente, die im Ende noch einmal die Fülle des Ganzen beschwören. Plötzlich ist alles weg, das eben noch da war, aber eigentlich bleibt alles immer plötzlich da.

„später kommt regen auf   fällt durch das offene fenster des
erinnerungszimmers wo wir uns trafen   unser gesichtsfeld
ist nass geworden  und fängt ganz haltlos  haltlos an zu blühen“


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