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Dominik Dombrowski: Schwanen

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Patrick Wilden

Dominik Dombrowski: „Schwanen“. Gedichte. Dresden (Edition Azur im Verlag Voland & Quist) 2022. 80 Seiten. 18,00 Euro. ISBN 978-3-942375-57-3.

Ein kleiner Roman
Dominik Dombrowskis Gedichtband „Schwanen“


„Eigentlich, dachte ich beim Rausgehen, müsste man
           mal einen Roman schreiben über Tommy Leonetti,
aber ein Gedicht tut’s ja vielleicht auch.“

Das ist genau der Punkt: Dominik Dombrowski schreibt keine Romane. Aber er erzählt gerne – so etwas wie die Story um den im Vergessen versunkenen Sänger „Tommy Leonetti“ im gleichnamigen Gedicht. Das Ich, im Rauch und Rausch einer nächtlichen Bar, begegnet sich dabei, „einer dieser fürchterlichen, unangenehmen Gäste / zu werden, die ich eigentlich hasse, weil sie kein Ende finden“. Im Idealfall hat man den Text in genauso einem Ambiente vom Autor vorgetragen bekommen.

Schwanen heißt das neue Buch des Bonner Lyrikers, sein drittes bei der Dresdner Edition Azur. Und es stimmt übrigens nicht, dass Dombrowski kein Prosa-Erzähler wäre. Allerdings fußen einige der traurig-komischen bis absurden Begebenheiten, die der Held Laszlo seiner 2019 publizierten Erzählung Künstliche Tölpel erlebt, auf Gedichtfassungen, von denen zwei sich im vorliegenden Band finden. Neben der Amsel-Episode im Gedicht „Routinen“ ist dies einer dieser typischen, von einer Fernsehsendung ausgelösten Tagträume, in dem das Ich sich am Ende vorstellt, irgendwelchen Urzeitmenschen „vorelektrische Bob-Dylan-Lieder“ vorzusingen, weil es sonst leider zu nichts befähigt sei. „Ein Steingötzenwächter auf Papua-Neuguinea zu werden. / Es wäre ein Anfang.“ Die Passage findet sich fast wörtlich in den Tölpeln wiedergegeben.

Gleichwohl gibt es Unterschiede zwischen Dombrowskis Lyrik und seiner Prosa. Durch den Umbruch, das Arrangement, das Einrücken jeder zweiten Zeile lassen sich visuell-semantische Akzente setzen. Man fühlt sich an den gefeierten, aber frühverstorbenen US-amerikanischen Kurzgeschichtenautor Raymond Carver (1938 – 1988) erinnert, auf den Dombrowski übrigens große Stücke hält. In Deutschland ist dieser als Lyriker, der er eben auch war, mit einer großen Bandbreite von der kurzen poetischen Impression bis hin zum mehrseitigen Erzählgedicht, kaum bekannt. Wenn sich die beiden in ihrem morbiden Realismus auch berühren mögen, so ist Dombrowskis Schreiben doch von einer grundwitzigen, abseitigen Selbstironie durchdrungen, die man bei Carver vergeblich sucht.

Schwanen enthält einen lyrisch-dichten „Prolog“, fünf Kapitel und ein fast episches „Epilog“-Gedicht mit dem klangschönen Titel „Die Seele der Eselin Els“ und der vielsagenden Schlusszeile: „Soviel ich weiß – haben die sich totgesoffen.“ Die Storys überwiegen: meist längere Erzählgedichte, in denen Settings wiederaufgenommen werden, Figuren in der Wahrnehmung oder Erinnerung des Ichs mehrfach auftreten und sich manche Motive durchs ganze Buch ziehen. Die Nachtbar, die der lyrische Protagonist „in einer Edward-Hopper-Oktobernacht“ auftut, findet ihre Entsprechung in der Gaststätte „Juckenack“, in der einmal die so genannte „Hammer Mumie“ ausgestellt wurde, oder im „Kehrwieder“, aus dem das Kindheits-Ich den trunkenen Vater abholen soll. Die Rückschau dieses Gedichts lässt an Carver denken, wobei die Story nicht in Gewalt umschlägt, sondern der wankende Vater seinem Sohn im entschei-denden Moment „Mister Sandman – bring me a dream“ vorsingt.

Ist es eine Geschichte, ist es ein Gedicht? Die Mumie, die in der Ruhrgebietsstadt Hamm im Zweiten Weltkrieg in Rauch aufging und vor einigen Jahren durch die nordrhein-westfälische Presse geisterte, ist ein weiteres Beispiel für Dombrowskis lyrisches Aneignungsverfahren. In seiner „Amenhotep-Vision“ gibt er dem Einbalsamierten durch einen zwinkeräugigen Griff in die historische Klamottenkiste einen Namen und macht ihn zur zentralen Figur einer als Binnenerzählung angelegten Elegie:

„… all diese Behütung,
die Sinnstiftung, die Gewissensbisse, die Hoffnung,
           die Habseligkeiten. Das ist ihm wichtig. Dass die Grabstätten
das Leben überdauern, während seine Seele fortsegelt.“
     
Da die Mumie erst geraubt wurde und später verbrannte, so unterstellt diese empathische Reflexion, wird Amenhotep wohl allenfalls noch „als Gespenst die Lebenden besuchen“ können.

„Ich hab kein Gehirn / Ich hab / Gestirne im Kopf“, heißt es im Prolog-Gedicht „Die Milchstraße und ich, wir zwei“. Der Existenzialismus einer Dachwohnung wie in „Tacet“ lässt an einen lyrischen film noir denken, mit halbvoller Kaffeetasse und angerauchter Zigarette, „und auf dem Plattenspieler / knisterte die Stille: John / Cages ‚4’33‘ mischte sich mit / dem Schneefall“. Musik und Film und die Bildwelten, die daraus entspringen, sind „Gestirne“, denen wir im Kosmos von Schwanen begegnen. In mindestens zwei Gedichten wird etwa die Schlussszene aus Hitchcocks Klassiker Die Vögel visualisiert. Einmal starren dem Ich im Treppenhaus Füchse entgegen, ein andermal „sind Hunderte von Igeln um mich herum“. Stellenweise fast übermenschlicher Ulk – kein Wunder, das im Buch soviel vom Trinken die Rede ist.

Überhaupt – die Tiere. Neben menschlichen Charakteren, dem Vater oder einer Wirtin, der Nachbarin Norma oder dem „Schwimmnudelmann“ Harvey spielt auch mal eine gestorbene Katze oder ein Wildschwein, das am FKK-Strand einen Laptop klaut, in den ‚Narrationen‘ eine Rolle. Im Kapitel „Dämmerungsjob“ – der Titel einem Carver-Gedicht entlehnt –, in dem das Ich sich in einem fernöstlichen Ferienparadies nach dem Unfalltod seiner „Sylphide“ Babette von einer „Calvadosis“ zur nächsten hangelt, wird die verlorengegangene Gefährtin in der Gestalt eines Straßenköters der untersten Kaste reinkarniert: „Es ist ein Hund, der aussieht wie ein verhungertes Schwein.“ Nur der lyrische Protagonist erkennt die Seelenwanderung, päppelt das Tier, redet es mit „Grüß dich, Babette!“ an.

„Die als Gedicht wiedergegebene Erzählung konnte sich entfalten, ohne dass eine Intensität des Ausdrucks oder der Sprache vorgetäuscht werden musste, die vielleicht die Stärke der Erzählung selbst beeinträchtigt hätte; andererseits konnte die Erzählung die Aufmerksamkeit des Lesers ganz anders fesseln, weil sie als Gedicht konzipiert worden war.“

So schreibt die Witwe von Raymond Carver über die erzählerische Lyrik seines letzten Gedichtbandes (siehe Tess Galaghers „Nachwort“ in: Raymond Carver, Ein neuer Pfad zum Wasserfall. Gedichte, Frankfurt/M. 2011, Seite 133). Auch bei Dombrowski wirkt dieser narrative Stil nicht kapriziös, sondern seiner inszenatorischen Absicht adäquat. Obwohl es in so vielen Gedichten in Schwanen um die Auseinandersetzung mit dem Tod geht, als Reminiszenz, Vision, Tagtraum getarnt, kommt bei der Lektüre kein mulmiges Gefühl auf. Im titelgebenden, zugleich vorletzten Gedicht, auf das der Band hinsteuert, beobachtet ein Totkranker am Rand eines Hafenbeckens sitzend einen Schwan, also einen der symbolträchtigsten Vögel überhaupt, wie er sich mit einer „verwaiste[n] Schwanattrappe“ langsam in Richtung offenes Meer treiben lässt, „weiter und weiter ins Offene“: „was die Seele nicht will / verschwinden lassen verschwindet nicht“ – so lässt der heimliche Buddhist Dombrowski sein neues Buch de facto enden. „Schwanen“ als Verb, als eigentümliche Pluralbildung, als im Süddeutschen gar nicht mal so unüblicher Name einer traditionellen Kneipe. Eigentlich hat Dominik Dombrowski da gerade einen kleinen Roman geschrieben.


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