Dominik Dombrowski: Schwanen (2)
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Dietmar Ebert
Dominik Dombrowski: Schwanen. Gedichte. Berlin und Dresden (edition Azur im Verlag Voland & Quist) 2022. 80 Seiten. 18,00 Euro.
Lyrik, die stärker ist als ihr Dichter? –
Dominik Dombrowskis neuer Lyrik-Band Schwanen
eigentlich müsste man mal einen Roman schreiben
über Tommy Leonetti…
Schwanen – so heißt Dominik Dombrowskis neuer Gedichtband. Dombrowski liebt das nicht Eindeutige im Titel seiner Lyrik-Bände. Schwanen – da fallen mir sofort Komposita ein wie Schwanensee, Schwanengesang oder der Schwanenkönig der Gruppe Karat. Nicht ganz so nah liegen Assoziationen zum Volks- und Friedenslied Zogen einst fünf wilde Schwäne, zum Schloss Neuschwanstein, zum Schwanenritter Lohengrin und dessen Arie Mein lieber Schwan. Das sagt man auch anerkennend im Alltag für etwas ganz Besonderes: Mein lieber Schwan! Auch an den Schwan in Wiepersdorf sei erinnert. Wen er nicht mochte, den verjagte er mit ausgebreiteten Flügeln, die aber, die er in sein altes Schwanenherz geschlossen hatte, durften ihn eimerweise mit Äpfeln füttern. Dann erzählte er ihnen von seiner Gefährtin, die längst tot war, von den Unterschieden zwischen Dorf- und Schlossteich und all dem, was sonst nur Kafkas Landvermesser wusste.
Schwanen kann man aber auch als Verb benutzen. Wenn jemandem etwas schwant, dann ist es nicht eindeutig, es ist etwas nebulös, schwer fassbar und manchmal noch nicht einmal artikulierbar; und doch ist vielleicht gerade hier ein Kernbezirk lyrischen Sprechens zu suchen. So nimmt es nicht wunder, dass Dominik Dombrowski seinem neuen Gedichtband Schwanen ein Zitat von Albert Camus vorangestellt hat: Ich habe zuweilen das Bedürfnis,/ Dinge zu schreiben,/ die ich zum Teil nicht fassen kann,/ die aber gerade den/ Beweis für das erbringen,/ was in mir stärker ist als ich.
Schwanen - so heißt das titelgebende Gedicht aus der fünften Abteilung des Lyrik-Bandes, der aus einem Prolog (Die Milchstraße und ich, wir zwei), der vier Gedichte umfassenden Abteilung I, der fünf Gedichte enthaltenden Abteilung II, den Einschlafessays der Abteilung III, sieben mit Dämmerungsjob überschriebenen Gedichten der Abteilung IV, vier Gedichten der Abteilung V Behelligte Habitate und einem Epilog (Die Seele der Eselin Els) besteht. Das Gedicht Schwanen wirkt wie ein Schwanengesang und ist doch keiner. Es scheint, als hätte sich Dominik Dombrowski die Form des Schwanengesangs geliehen, um sein lyrisches Ich über die letzten Dinge meditieren zu lassen: Ein Mann darf das Krankenhaus noch einmal verlassen und spielt die Möglichkeiten durch, die ihm noch verbleiben. Eine davon ist, ein Pfahlsitzer zu werden und eine finale Metapher für den Schwebezustand zu finden zwischen der Unentrinnbarkeit vor dem Tode bei gleichzeitiger vollkommener Gewissheit, dass zu sterben niemals möglich ist, inmitten der Lastkräne und Containerschiffe…. Und nun ist es völlig egal, ob das lyrische Ich sieht, wie ein Schwan eine verwaiste Schwan-Attrappe entert und sich aufs Meer treiben lässt, oder ob es sich als Pfahlsitzer imaginiert, der den Schwan imaginiert, dem am Ende schwanen wird, wie das Meer denkt/ was die Seele nicht will/ verschwinden zu lassen verschwindet nicht. Vielleicht offenbart das Gedicht Schwanen etwas, was typisch ist für die Gedichte Dominik Dombrowskis: Es gibt einen konkreten Anlass und einen lyrischen Sprecher, der immer neue Metaphern von absurd erscheinenden Situationen ersinnt, miteinander vernetzt und ineinander verschachtelt, bis er am Ende eine Lebensweisheit von frappierender Einfachheit gewinnt. Dominik Dombrowskis „erzählende Gedichte“ werden von Erinnerung und Imagination gespeist, in der Schwebe gehalten und immer weiter zu absurden Szenarien vorangetrieben, sodass Erinnertes wie Imaginiertes, und Erfundenes wie Erinnertes wirkt. Dann blitzt für einen kurzen Moment etwas auf, was das Leben vielleicht ausmacht: eine poetische Wahrheit.
Bereits
im Prolog werden Töne und Motive angeschlagen, die in den folgenden Gedichten
in unterschiedlichen Variationen wiederkehren. Die Milchstraße und ich, wir zwei. Da ist aber weder ein lyrisches
Ich, noch ein Dichter, um einen Hymnus auf den „Sternenhimmel“ anzustimmen. Vielmehr
imaginiert das lyrische Ich Bewegungen wie Schwimmen,
Kriechen oder Sich in ein Foto fallen lassen und artikuliert für einen Sterblichen
seltsame Wünsche, wie am Meer und an den
Bergen Beteiligt-Sein. Es möchte nicht Resonanz erfahren, sondern Resonanz
auslösen oder vielleicht beides zugleich erleben. Unmöglich ist das nicht, denn
die Logik ist außer Kraft gesetzt, das lyrische Ich hat kein Gehirn, sondern Gestirne im Kopf, es kennt jetzt Mondbäume und nimmt ein Blatt vor den Mund. All das seltsam
Anmutende, Abseitige, an den Welträndern sich Zutragende vermag das lyrische
Ich nur wahrzunehmen, weil es im Bunde mit
der Milchstraße ist und sich von den Gestirnen in seinem Kopf leiten lässt.
Alle
Gedichte dieses Bandes sind von einer seltsamen abgründigen Schönheit und
Tiefe; an dieser Stelle können nur ein paar wenige, mir besonders nahe und mich
sehr ansprechende Langgedichte gewürdigt werden. Das Übergeordnete – so heißt das Gedicht, das die erste Abteilung
beschließt. Das lyrisch erzählende Ich löscht alle Lichter in seinem Hause und
starrt eine Ewigkeit in die Dunkelheit, bis es erschrickt und eine 2,30m große
hagere Greisin erblickt, die ihn anstarrt. Stundenlang starrt sie ihn an, erst
in der Dämmerung verwandelt sie sich in einen Apfelbaum, hinter dem sich eine
kaputte Stehlampe mit Schirm befindet. Es ist ein schöner Sommertag, und am
Rheinufer wälzt eine singende Frau einen
Stein in den Fluss, und in goldenen
Lettern steht auf einem schwarzgestrichenen Wohnwagen CAFÉ CAMUS, in goldenen
Lettern steht auf einem der Containerschiffe URLICHT und in ebenfalls goldenen
Lettern stehen auf einem Urnengrabstein die Namen der Familienangehörigen
des staunenden Beobachters. Durch eine dreifache Konnotation wird der Name des
Dichters mit dem des Schriftstellers Albert Camus und dem des Komponisten der
Lieder Rheinlegendchen und Urlicht, Gustav Mahler, verbunden. Die Frau, die den Stein in den Fluss wälzt,
ist eine mythische Gestalt, die den Sisyphos-Mythos umkehrt, der Stein wird
nicht mehr den Berg aufwärts gewälzt, sondern immer wieder in den Fluss hinein,
und ganz im Sinne des Urlichts
verwandelt sich das Familiengrab in eine blühende Wiese, deren Pflege die
Mutter des staunenden Beobachters übernommen hat. Wir befinden uns in einer
poetischen, einer mythischen Zeit und Wirklichkeit. Wohl deshalb fällt dem
staunenden erzählenden Dichter der Weg zurück in seine Straße und seine Wohnung
so schwer. In unmittelbarer Nähe sieht er einen Mann im Schatten auf einem
Baumstamm sitzen. Neben sich hat er eine halbvolle Flasche mit Bier. Komisch dachte ich, dass ich das nicht
bin./Aber vielleicht war ich es auch.
Die
zweite Abteilung der Gedichte beginnt mit Tommy
Leonetti, einem Kneipengesang, der Kultstatus verdient. In einer Bar sitzt
der lyrische Erzähler, trinkt einen Gin nach dem anderen und lässt die Gedanken
schweifen: Ich dachte am Tresen an nichts
Besonderes: an den Urknall,/ das Sonnensystem, die Milchstraße,/ die
Planetenbahnen, ich dachte, man müsste/ eigentlich einen Roman schreiben über
Tommy Leonetti. Die Wirtin hinter dem Tresen kennt diesen Namen nicht, und
sie trägt ein T-Shirt, auf dem steht: I
Am Not Your Poem. Eine Muse würde andere Aufschriften wählen. Und so
schweifen die Gedanken des Poeten, versuchen einzelne Stationen aus dem Leben
Tommy Leonettis dem Erinnerungsnebel zu entreißen, und er sagt vor jedem weiteren
Gin: Ja, eigentlich müsste man mal einen
Roman schreiben/ über Tommy Leonetti… Als er schließlich als einer der
letzten Gäste die Bar (nicht ganz freiwillig) verlässt, geht ihm folgendes
durch den Kopf: Eigentlich, dachte ich
beim Rausgehen, müsste man/ mal einen Roman schreiben über Tommy Leonetti,/
aber ein Gedicht tut‘s ja vielleicht auch. Wer für den wunderbar schrägen
Humor dieses Gedichts offen ist, wird bei der Lektüre des gesamten Lyrik-Bandes
Schwanen reich belohnt werden.
Fünf
Langgedichte hat Dominik Dombrowski in der dritten Abteilung zusammengefasst.
Sie trägt den Titel Einschlafessays.
Eines der Gedichte, das zugleich Lächeln und Gänsehaut erzeugt, heißt Kehrwieder. Das Kehrwieder ist ein Gasthaus, in dem der lyrische Erzähler, als er
noch ein Kind war, Sonntag für Sonntag seinen Vater abgeholt hat. Ich mochte es als Kind, meinen Vater an den
Sonntagnachmittagen/ vom Kehrwieder abzuholen, einem Gasthaus voller/ anonymer
Melancholiker: innen und außen umnachtete/ Seelen im Tabakrauch,/ abgebrannte
Kerzen, wie unterm eigenen/ kalten Wachs begraben. Ehe sich an den
Sonntagen der Vater mit ihm auf den Heimweg machte, nahm er für gewöhnlich noch
einen tiefen Zug aus seiner Gesundheitspfeife,
tippte mit seinem Zeigefinger an die Stirn und sang: Mister Sandman – bring me a dream. Zwanzig Jahre später, als der
erzählende Poet auf einer südlichen Insel sein wird, wie er uns wissen lässt,
wird sein Vater an Krebs erkrankt sein. Der mag nicht in die Klinik gehen,
sitzt im Sessel, nimmt tiefe Züge aus seiner Gesundheitspfeife, holt seine alte Trompete aus dem Keller, geht
auf den Balkon und versucht immer wieder eine Sequenz aus Mr. Sandman zu spielen: Immer
wiederkehrende, laute, falsche Töne./ Dann hat er angefangen zu lachen, und
dann wieder/ von vorn: Mr. Sandman, bring me/ a dream, bis sie ihn abgeholt
haben.
Das
Gedicht Parkland aus der Abteilung V,
Behelligte Habitate, steht mir besonders nahe, scheint
mir doch sein Entstehungsort, die Villa
Rosenthal, in der Dominik Dombrowski in seiner Zeit als Jenaer
Stadtschreiber wohnte, ins Gedicht eingeschrieben zu sein. Ein Fuchs sitzt im
Park und fixiert den Dichter. Währenddessen erzählt ein Entertainer im
Fernsehen einen seltsamen Witz: »Sagt ein
Nazi:/ Fuchs du hast die Gans gestohlen, gib sie wieder her! Sagt der Fuchs:
Nö/ ich habe keine Gans gestohlen! Darauf der Nazi: Häh?/ Woher kannst du denn
deutsch? Der Entertainer muss sich nun vor Lachen darüber ausschütten, dass
sich der Nazi nicht darüber wundert, dass der Fuchs sprechen kann, sondern dass
er deutsch sprechen kann. Dafür wird er von seinen Fans frenetisch gefeiert.
Ein paar Tage später toben zwei junge Füchse im Park herum, dann biegt ein
dritter Fuchs um die Ecke und hat etwas Weißes mit Federn im Maul. Plötzlich
ertönt ein Klingelton. Vor mir sitzt ein
Fuchs und starrt mir ins Gesicht… Weitere Füchse haben sich hinzugesellt
und bevölkern bald die ganze Treppe, und schließlich sagt der vorn sitzende
Fuchs: »Ich hatte nichts Weißes mit
Federn im Mund!« Der Dichter antwortet: »Please
feel free to talk in English.« Hier endet das Gedicht, doch in unserem Kopf
läuft der Film weiter. Wir hören den Fuchs etwas sagen, das klingt wie: »I have nothing white with feathers in my
mouth.« Weder der Dichter noch wir, seine Leser, wundern uns darüber. Und
noch weniger wundern wir uns, dass niemand von uns bislang eingeladen wurde,
als Entertainer im Fernsehen aufzutreten.
Den
Epilog des schmalen Lyrikbandes Schwanen bildet
ein längeres Gedicht, in dem zwei absurd erscheinende Erzählungen ineinander
verschachtelt sind. Es trägt den Titel Die
Seele der Eselin Els. Der lyrische Erzähler hat einen Filmriss und es mal
wieder nicht in sein Bett geschafft, sondern er liegt auf den Treppenstufen im
Hinterhof. Dort findet ihn eine
Freundin, die öfter einmal in den Gedichten Dominik Dombrowskis auftaucht. Sie
heißt wie eine Lebensmittelkette und die
Oberpriesterin der Druiden. Im Gegensatz zu dieser fleht Norma keine Costa Diva an, sondern erzählt von zwei
Späthippies, die Mitbewohner ihrer WG in Amsterdam waren. Sie wurden die beiden
Harrys genannt und gingen Abend für Abend zu einem Gnadenhof, auf dem die alte
Eselin Els stand, sie rauchten ihre Joints und raunten dem Tier seltsame Sachen
ins Ohr. Eines Tages finden sie das Tier reglos liegend am Zaun. Nun gehen sie,
so oft es geht, zum Gnadenhof, sie haben – davon ist Norma überzeugt – die
Stelle der Eselin eingenommen. Ihre Seelen hätten sich mit der der Eselin Els
verfangen. So muss Norma die beiden Harrys Abend für Abend vom Gnadenhof nach
Hause holen. Dabei holen sie Flachmänner aus ihrer Tasche und sprechen in
privaten Rätseln, etwa, dass sie alte
Gespenster kennen würden, so alt, dass sie noch grüne Feen getrunken hätten.
Meistens sprechen sie von Seelen, die auf geheimnisvolle Art den Körper
verlassen. Norma ist überzeugt davon, dass sich die Seelen der beiden Harrys in
der der Eselin Els verfangen hätten und dass ihrem Nachbarn, dem sie all das
erzählt, etwas Ähnliches widerfahren sein müsse. Und tatsächlich erinnert sich
der, dass er vor ungefähr zehn Wochen auf dem Heimweg aus der Kneipe einen
überfahrenen Igel gesehen habe, und dass das genau der Igel gewesen sei, der
immer morgens das restliche Katzenfutter weggefressen habe. Nun beschließen
Norma und der lyrische Erzähler, die Igelseele, die sich in seiner verfangen
hat, freizulassen. Er legt sich auf den Asphalt, verfällt in Trance und spürt,
wie ein Igel an seinem Gesicht schnüffelt, es werden immer mehr: Das Letzte, was ich sehe, sind Hunderte von
Igeln um mich herum./ Eine schwarze Hügellandschaft aus Igeln, eine Stimmung,/ ähnlich
der Schlussszene aus Hitchcocks Die Vögel, nur eben Igel überall.
Irgendwann
kehren Norma und der erzählende Dichter nach Hause zurück. Sie sitzen auf den
Treppenstufen vor ihrem Haus, und er fragt Norma, was denn aus den beiden Harrys, diesen Späthippies, geworden
sei. Normas lakonische Antwort lautet: Soviel ich weiß – haben sie sich
totgesoffen.
Dominik
Dombrowskis Gedichtband Schwanen
beeindruckt mit einer Art von Lyrik, wie sie hierzulande selten, wenn nicht einzigartig
ist. Ganz leicht gleiten äußere und innere Realität ineinander über. Erdachtes,
Erahntes, uns Schwanendes und Erträumtes verbinden sich zu einer
magisch-phantastischen Realität. Zugleich gibt Dominik Dombrowski jenen, die
die Gesellschaft für Taugenichtse und Nichtsnutze hält, eine Stimme. Ganz im
Sinne romantischen Dichtens bringt er deren Träume zur Sprache. Wie nebenbei
entstehen dabei Gedichte, in denen Geschichten erzählt, ineinander verschränkt
und miteinander verwoben werden und gleich einem surrealen Film vor unseren
Augen ablaufen. Gewiss, auch was in ihnen erzählt wird, macht sie
unverwechselbar. Das Beste an ihnen ist jedoch, wie Lyrisches und Erzähltes zu
einem hinreißenden, ganz eigenen Sound verschmelzen, dem man immerfort lauschen
möchte!
Erstveröffentlichung in Oda - Ort der Augen - Blätter für Literatur, 3/2023, vielen Dank dem
Dr. Ziethen Verlag.