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Dominik Dombrowski: Landstraße 123

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Dominik Dombrowski

Landstraße 123


Sie gingen seit fünfzehn Jahren miteinander ins Bett und hatten eine Menge über die Zukunft geredet. Kennengelernt hatten sie sich, als sie zeitgleich auf eine sterbende junge Amsel stießen, auf einer Treppe neben der Landstraße 123. Von dort versuchte der Vogel vergeblich, ins Gebüsch zu entkommen, kugelte aber aufgrund seiner Verletzungen immer in die falschen Richtungen. Laszlo wusste nicht, wie lange das schon so ging, die Amsel hatte einen verkümmerten Flügel, ein verdrehtes Bein, einen schiefen Schnabel und wer weiß was sonst noch. Sie ahnten, dass da nichts mehr zu machen war, brachten es aber nicht fertig, ihr einfach den Hals umzudrehen, aber ihrem Schicksal wollten sie sie irgendwie auch nicht überlassen. Von da an bis zum Tod wurde es dann sehr surreal um den Vogel.

Darüber dachte Laszlo heute noch nach. An das Karma. An das Karma der Amsel und an sein sich daraus resultierendes Karma irgendwie auch.
     Die Amsel fühlte sich plötzlich gebettet in die finstere, schwitzige, enge Höhle seiner und Ulis Menschenhände, die sie über die Leitplanke der Landstraße 123 schweben ließen, und in die dreieinhalb Wände von Ulis Küche bugsierten. Kurz darauf fand sie sich in einem Schuhkarton wieder, dort in einer Ecke kauernd einer Pipette ausgesetzt, mit der die Menschenhände abwechselnd versuchten, ihr Wasser in den heillos verrenkten Schnabel einzuflößen.
    Im Laufe des Tages nahm dann eine Parade von Eierbechern im Schuhkarton immer mehr Platz ein, in denen sich unterschiedliche Speisen ansammelten. Jede Menge Körner, getrocknete Würmer, Maden, Insekten, zerkleinerte Bananen- oder Avocadostücke. Ohne besondere Regung nahm die kleine Amsel diese Nahrungsbatterie zur Kenntnis und schluckte das ein oder andere, wenn man es geschickt an den wunden Schnabel hielt. So verbrachte sie den Nachmittag im Schuhkarton, rührte sich kaum von der Stelle, während im Küchenradio eine Fußballkonferenz lief, und von Musik unterbrochen, Köln gegen Schalke spielte. Die Amsel rührte fast nichts an von dem ganzen Futterzeug, wenn man es ihr nicht irgendwie verabreichte. Nur bei den Avocados griff sie plötzlich von alleine zu, fast schon gierig. Im Nachhinein hatte Laszlo irgendwo gelesen, dass man Amseln auf keinen Fall mit Avocados füttern sollte, weil das Gift für sie wäre.
    Die Amsel schaute am Abend dann sehr müde aus. Im Radio lief „Where ever you will go“ von THE CALLING. Sie gab die ganze Zeit keinen einzigen Ton von sich, nur einmal, mitten in der Nacht, als alles still war, und vom Fenster her, von wo man den Horizont mit den Hügeln und der Waldsilhouette sehen konnte, wo ihre Artgenossen in den Bäumen saßen unterm Sternenhimmel, als da an den Wänden des Wohnzimmers die Lichtkegel der Autos von der Landstraße 123 herübergeisterten und es bei Uli und Laszlo zu spontanem heftigen, tragischen Sex kam, ertönte einmal ein kurzes sehr lautes TSCHILP.

Am nächsten Tag fand sich der kleine Vogel in seinem Schuhkarton auf Laszlos Knien wieder, auf dem Beifahrersitz im blauen Auto von Ulis Nachbarin und überfuhr erneut die Landstraße 123, zu einer Tierarztpraxis neben dem Rathaus in die Ortsmitte, wo er sofort von ein paar blauen Gummihandschuhen gepackt und zum Test gleich wieder fallengelassen wurde.
     Der Vogel schlug auf den weißgekachelten Boden und begann gleich wieder in alle möglichen Richtungen zu kugeln. Die Ärztin im kobaltblauen Kittel sagte: „Nee nee, das wird nix mehr!“
  Dann platzierte sie die kleine Amsel auf einen weißgekachelten Tisch, faselte etwas von Nestlingen und Ästlingen und flößte dem Tier schließlich eine Substanz ein, an der es dann verstarb. Danach wurde der Vogel in eine für Laszlo unsichtbare Box entsorgt, in der sich etwa ein Dutzend Tierleichen der letzten Woche angesammelt hatten. Für Fälle wie den ihrigen, so wurde es Laszlo und Uli bedeutet, befand sich am Eingangstresen ein kleines Vogelhäuschen aus grünlackierter Pappe für Geldspenden.


Auszug aus Dominik Dombrowski: Künstliche Tölpel, parasitenpresse, Köln 2019


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